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1871 und 1990: Die doppelte Einheit

Anton von Werner: Kaiserproklamation 1871

Am 18. Januar 1871 versammelten sich Vertreter des deutschen Militärs und Adels im Spiegelsaal des Versailler Schlosses, um Wilhelm I. zum Kaiser auszurufen und mit diesem Akt die erste staatliche Einheit Deutschlands symbolisch zu vollziehen. Ort und Zeit waren wohlüberlegt, denn just an diesem Tag im Jahre 1701 ließ sich Friedrich I. in Königsberg zum preußischen König krönen. In dieser Zeremonie mit Generälen und Fürsten zeigt sich der Doppelcharakter dieses historischen Ereignisses: Die nationalstaatlichen Forderungen der 1848er Revolutionäre wurden erfüllt und gleichzeitig die Konterrevolution bewahrt.

Nach der verheerenden militärischen Niederlage Frankreichs demütigte man die Verlierer im Prachtsaal des französischen Absolutismus, in dem auf Schlachtgemälden die französischen Siege gezeigt werden. Frankreich wiederum revanchierte sich ein halbes Jahrhundert später, 1919, mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags. Nun mussten die deutschen Vertreter im Spiegelsaal die Alleinschuld des dort gegründeten Kaiserreichs für den Großen Krieg unterzeichnen. Zweimal Hybris, zweimal Dummheit der Sieger. Schon Zeitgenossen erkannten das Problematische der Reichsgründung. Friedrich Engels schrieb, dass die preußische Grundlage das Reich in Lebensgefahr bringe. Und selbst der Architekt der ersten deutschen Einheit, der Urpreuße Otto von Bismarck, war keineswegs in Champagnerlaune. Das nach Thomas Mann einzige politische Genie, das Deutschland hervorgebracht hat, versuchte bis zuletzt, den drakonischen Friedensvertrag zu entschärfen - vergeblich. Schweren Herzens schrieb er, dass mehr erreicht sei, „als ich für meine persönliche politische Berechnung für nützlich halte. Aber ich muss nach oben und nach unten Stimmungen berücksichtigen, die eben nicht rechnen."[1]

Thomas Nipperdey sah am Ende des ersten Bandes seiner monumentalen Deutschen Geschichte der Jahre 1800 bis 1918 im Anfang der ersten deutschen Einheit auch ein historisches Ende: „Was endete freilich, war eine vielhundertjährige Geschichte; was anfing, der deutsche Nationalstaat, ist nach nur acht Jahrzehnten wieder untergangen. Das musste nicht so sein. Die neue Gründung war nicht auf Sand gebaut und nicht gegen die Geschichte."[2]

Die Ironie der Geschichte: Als der Abschlussband 1992, wenige Monate nach dem Tod von Thomas Nipperdey erschien, gab es wieder einen deutschen Nationalstaat. Und im Jahr 2015, dem 200. Geburtstag Otto von Bismarcks, war Deutschland wieder das, was die meisten sich nach 1945 nicht im Entferntesten vorstellen konnten, die sowohl politisch wie auch ökonomisch stärkste Macht in der Mitte Europas.

Zweifellos bestehen gravierende Unterschiede zwischen der ersten deutschen Einheit von 1871 und der zweiten von 1990, zwischen dem Kaiserreich und der Bundesrepublik Deutschland, zwischen Monarchie und parlamentarischer Demokratie. Allerdings gibt es auch vielfältige Parallelen und historische Variationen, die zunehmend sichtbar werden. Wer das Nahe und das Ferne vergleicht, bekommt daher überraschende Einblicke.

"Notleidende Banken" und die soziale Frage

Nur gut zwei Jahre nach der Reichsgründung, am 9. Mai 1873, begann in der Wiener Börse eine Finanzkrise, die bald alle kapitalistisch wirtschaftenden Teile des Planeten umfassen sollte. Das kontrastierte völlig mit der gleichzeitig in der Donaumetropole stattfindenden Weltausstellung als dem symbolischen Ausdruck einer gelingenden Globalisierung. Anders als 1929 oder auch 2007/2008 begann die Finanzkrise nicht in New York, sondern in der Mitte Europas. Aber sie gehört laut zahlreichen Beobachtern wie dem Jahrhunderthistoriker Eric Hobsbawm zu den drei großen Krisen des kapitalistischen Weltsystems.[3] Wie in späteren Finanzkrisen hatten die Spekulanten unzählige in ihre Geschäfte hineingezogen, von erlauchten Häuptern über Handwerker bis hin zu Tante-Emma-Läden, von Groß- bis zu Kleinstanlegern. Das stimulierte die Produktion weit über den Bedarf und führte im Ergebnis zum Kollaps.

„Panik ergriff dann die Spekulanten; Geldjäger sahen sich plötzlich in ein für sie unverständliches Unglück oder gar in die Schande des Bankrotts gestürzt, nicht selten kam allerlei Betrug ans Licht. Schuld erheischte Sühne!", so die dramatische Beschreibung von Ernst Engelberg im Jahr 1990: „Viele Gründer, die vor Ausbruch des Banken- und Börsenkrachs jegliche Regierungsintervention entrüstet zurückgewiesen hätten, riefen nun nach Staatshilfe. [...] Doch vorerst konnten nur ‚notleidende Institute' unterstützt werden. Als die ganze Flut der Bankzusammenbrüche kam, war es der Preußischen Bank nicht mehr möglich, für alle Bedrohten und Betroffenen Stützdämme zu bauen, weder materiell noch moralisch-politisch. Mit Recht sah die öffentliche Meinung in den zahlungsunfähigen Bankiers nicht Notleidende, sondern Spekulanten, die keine Staatshilfe verdienten."

Während der „letzten" oder besser: wohl höchstens vorletzten Finanzkrise von 2008 avancierte der Begriff der „Notleidenden Banken" zum Unwort des Jahres. Als ich etwas später damit begann, die oft um Bismarck und das lange 19. Jahrhundert kreisenden Texte meines damals hundertjährigen Vaters neu herauszugeben und mit seiner Erlaubnis teilweise zu bearbeiten, glaubten etliche, ich hätte sein Werk aktualisiert.[4] Doch dem war nicht so, sondern es zeigten sich wiederkehrende Muster. Freilich wuchsen auch die Unterschiede - des Finanzvolumens, der Geschwindigkeit und der Vielzahl der Geschäfte - seitdem ins Monumentale. Und dennoch sind im spekulationsgesteuerten Wirrwarr der neuen, undurchschaubaren Finanzprodukte immer noch die alten Strukturen zu erkennen - wie auch in den durch die Vereinigung 1989/90 ausgelösten Reaktionen.

Auch nach der zweiten Einheit gilt, was Bismarck sagte: „Die Einheit Deutschlands hat so viele neue Energien entwickelt, neue Interessen und Gesichtspunkt geschaffen. Ach, die soziale Frage! Die macht alle Regierungen schaudern."[5] Die ersten Proteste, die ernstgenommen wurden, waren damals wie heute die von Berliner Mietern beim Aufstieg der deutschen Hauptstadt zur Metropole. Erneut betritt die soziale Frage als Wohnungsfrage die Bühne. Bereits 1872 hatte Friedrich Engels die Lage in Deutschland aus dem englischen Exil kommentiert: „Diese Wohnungsnot macht nur so viel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat."[6]

Allerdings sind die Wirkmöglichkeiten heute weit größer, da die Demokratisierung erheblich vorangeschritten ist. Diese Demokratisierung legten die Herrschenden der Bevölkerung allerdings nicht auf den Gabentisch, sondern sie wurde von sozialen Bewegungen, nicht zuletzt von Arbeitern, erkämpft. 1875, drei Jahre nach den ersten großen Wohnungsprotesten, vereinigten sich die linken Kräfte zur SPD als der ältesten bis heute existierenden deutschen Partei.

Deutschland im ersten planetarischen Zeitalter

Beide nationalstaatlichen Einheiten Deutschlands waren tief eingebettet in internationale Prozesse. Ohne die Hoffnung auch der deutschen Nachbarstaaten auf eine europäische Einheit wäre die staatliche Einheit von 1990 nicht möglich gewesen. Und als Preußen vor 150 Jahren seine Einheitskriege führte, gab es auch an anderen Orten Schlachten um eine nationalstaatliche Einigung. In Italien, das seit dem Mittelalter eng verflochten war mit Deutschland (das „Heilige Römische Reich" bestand bis 1806), waren sie sogar so blutig, dass ein Schweizer Humanist aufgrund des leichenübersäten Schlachtfelds von Solferino (1859) im Jahre 1863 das Rote Kreuz gründete, mit der farblich umgekehrten Nationalfahne der Schweiz.

Das Jahr 1871 bedeutete also nicht nur für Deutschland einen Epocheneinschnitt. Das allgemeine Ergebnis in Zentraleuropa war die Selbstständigkeit und staatliche Einigung der großen Nationen, mit Ausnahme Polens. Und kein einziger dieser Nationalstaaten entstand ohne Gewalt.

Heute, 150 Jahre später, benötigen wir in Europa offensichtlich immer noch funktionierende Nationalstaaten. Und wo diese zusammenbrechen, wie im Nahen und Mittleren Osten, müssen unzählige Menschen flüchten, ohne dass andere Länder oder Kontinente zu großzügiger Aufnahme bereit wären.

Der Strom der Geschichte spülte damals starke Nationen nach oben, die in der Welt agierten, es kam zu einer „Verwandlung der Welt", wie ein bemerkenswertes Buch von Jürgen Osterhammel heißt. Die Welt wurde kolonial aufgeteilt in dieser weltgeschichtlichen Minute Europas und schon damals begann das erste globale, planetarische Zeitalter, wie man es in Fontanes Epochenbuch „Stechlin" lesen kann. „Hinter dem Berge wohnen auch Leute", heißt es dort leitmotivisch.[7] Diese häufige Formulierung borgte sich Fontane von Lothar Bucher, ein Revolutionär von 1848, der aus dem Exil zurückkehrte, um ein enger Mitarbeiter von Bismarck zu werden. An der wachsenden Zahl der Auslandskorrespondenten erkannten Fontane und Bucher schon damals die geostrategische Schwerpunktverlagerung in Regionen jenseits des „alten Europas".

Nach Bismarcks Sturz, der nach der kriegerisch hergestellten Reichseinigung außenpolitisch eine wohldurchdachte, virtuose Gleichgewichtspolitik betrieben hatte, begann ab 1890 das eigentliche imperiale Zeitalter der „Weltpolitik". In der Rückschau erkennt man, so die bittere Ironie, dass unabhängig voneinander die beiden Antipoden Otto von Bismarck und Friedrich Engels bei Beibehaltung der Wilhelminischen Politik der Selbstüberschätzung einen großen Krieg kommen sahen - mit Millionen Toten und mit zusammenbrechenden Imperien. Der Rest ist Geschichte.

Nach der Selbstzerstörung Europas im „Zweiten 30jährigen Krieg" (Charles de Gaulle) zwischen 1914 und 1945 und seinem Teilaufstieg in einer zerklüfteten, multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts stellen sich heute alte Fragen neu. So ist Deutschland noch immer eine, ja die maßgebliche Macht in der Mitte des Kontinents, trotz der Amputationen nach 1945 zu groß und stark für viele andere Staaten Europas, aber zu klein und schwach, um Vorherrscher auf einem Kontinent zu sein, der wie nach 1871 in dramatischer Weise um seine Einheit und demokratische oder autoritäre Façon ringt - allerdings heute weniger auf dem Schlachtfeld mit Panzern und Kanonenbooten als vielmehr am grünen Tisch in Brüssel im Kampf um das Rechtsstaatsprinzip und die Euro-Milliarden im Corona-Hilfsfonds.

Bei alledem geht es Europa heute nicht zuletzt um die eigene Selbstbehauptung in einer multipolaren Welt, die gekennzeichnet ist durch den aufziehenden Großkonflikt zwischen den USA als der dominanten Macht des 20. Jahrhunderts und China als der kommenden Hegemonialmacht des 21. Jahrhunderts. Das Konzert der Großmächte im 19. Jahrhundert war dagegen ein europäisches, so dass die Aufteilung der Welt von dieser „Halbinsel Asiens" (Paul Valery) ausging. Die Musik spielte dabei immer dissonanter, die Symphonie einer europäischen Einheit erklang nie.

In der Spätphase seiner Kanzlerschaft drängte Bismarck sogar darauf, dass die höheren Beamten als „gebildete Europäer" erzogen werden sollten. Diese Vorstöße misslangen jedoch, nicht zuletzt durch die Abhängigkeit von konservativen und reaktionären Kräften, die sich nach Weltpolitik und einem „Platz an der Sonne" sehnten. Gleichzeitig waren die Gräben zu den demokratischen Kräften nicht zuletzt durch das Sozialistengesetz höllentief und nicht zu überbrücken.

Das neue Konzert der Großmächte

Auch wenn das heutige Konzert der Großmächte ein planetarisches ist, sind die Gefahren ähnlich, wenn auch noch erheblich größer. Christopher Clark, der mit „Die Schlafwandler" eines der meistdiskutierten Werke über den Beginn des Ersten Weltkriegs vorlegte, erkennt „eine starke Rückkehr der Muster des 19. und frühen 20. Jahrhunderts" und fürchtet, dass die neue Konkurrenz der Großmächte in größere Konflikte gleiten könnte: „Wir leben in einer Zeit, die stark an jene von 1914 erinnert. Die Welt ist wieder multipolar. Neue Regionalmächte wie die Türkei und Iran treten auf, das östliche Mittelmeer ist zu meinem Erstaunen wieder ein Konfliktgebiet. Die Streitigkeiten um Libyen mit der Türkei im Westen des Landes und mit Ägypten und Russland im Osten, der Inselstreit zwischen der Türkei und Griechenland, bilden eigentlich das ab, was man früher die Orientfrage nannte. Heute gewinnt sie unerwarteterweise wieder an Bedeutung. [...] Die alten Muster, die man für obsolet und überholt hielt, sind wieder gegenwärtig. Es ist eine Zeit, in der wir eine klare Ordnung und Fahrtrichtung der Weltgeschichte nicht mehr erkennen können."[8]

Und der schillernde Henry Kissinger, selbst für etliche Kriege als Schreibtischstratege verantwortlich,[9] warnt heute wie einst Otto von Bismarck, den er in seiner berühmten Formulierung als „weißen Revolutionär" charakterisierte, vor einem neuen Krieg. „Die Welt darf nicht in eine Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg geraten; damals hätte keines der Länder, die den Krieg 1914 begonnen hatten, dies getan, hätten sie gewusst, wie die Welt im Jahr 1918 aussehen würde. [...] Ich gehöre inzwischen einer Minderheit an, die daran glaubt, dass es nicht nur möglich, sondern zwingend erforderlich ist, ernsthafte Probleme und Konflikte durch Verhandlungen zu lösen. Wir können es uns einfach nicht erlauben, immer tiefer in diese Eskalationsspirale zu geraten."[10] Noch ist nicht entschieden, ob wir die neue, die zweite Chance der deutschen Einheit nutzen können - weder national, noch europäisch, noch global. Gerade wer den Gang der Dinge von 1871 bis heute betrachtet, erkennt: Der Fortschritt ist kein beständiges Fortschreiten, dazwischen ereignen sich die Katastrophen.

Entgrenzte Konkurrenz

Das gilt nach den historischen Ereignissen von 1989/90 - dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks wie der Herstellung der deutschen Einheit - nicht zuletzt für Europa selbst. Schocktherapien überzogen in den 1990er Jahren zuerst den Osten, national wie europäisch. Schließlich erfassten sie auch den Westen und Süden. Der in Wien lehrende Philipp Ther kommt in seinem Standardwerk über das neoliberale Europa zu dem Schluss, dass nach dem Ende der politischen Spaltung eine neue soziale Spaltung den alten Kontinent auseinanderreißt.[11] Während in den westeuropäischen Kernländern der Sozialstaat drastisch reduziert wurde, entwickelte sich Osteuropa zu etwas Vergleichbarem wie Mexiko für die USA: eine Landschaft mit großen Armutsgebieten und einigen dynamischen Zentren.

Auch in Deutschland vertiefte sich trotz enormen Wirtschaftswachstums in den letzten Jahrzehnten die soziale Spaltung - zwischen Ost und West wie zwischen oben und unten. So führte die Schocktherapie in Ostdeutschland, für den vor allem der Name Treuhand steht, „innerhalb weniger Jahre zu einem Einbruch der Industrieproduktion auf 27 Prozent des Wertes von 1989. Außer dem vom Krieg zerstörten Bosnien und Herzegowina erlebte kein anderes Land in Europa einen derart drastischen Rückgang", so der Historiker Ther.[12] Gewinne wurden seit 1990 in ganz Europa schamlos privatisiert, Verluste dagegen vergesellschaftet. So wuchsen zugleich Armut und große Vermögen; die Mittelklasse teilte sich in eine global vernetzte Schicht und eine, die gegen den Abstieg kämpft. Die EU und damit auch Deutschland als Macht in der Mitte des Kontinents werden in Lebensgefahr gebracht durch ihre neoliberale Grundlage.

Auf dem Schreibtisch des sozial-, aber auch nationalliberalen Friedrich Naumann gab es ein Porträt von Bismarck und eines von Bebel. „Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen als erleiden", hatte Otto von Bismarck seine Strategie erläutert, als er in den 1860er Jahren die große politische Bühne betrat. Er hatte erkannt, dass das Stemmen gegen den modernen Nationalstaat, der seit den bürgerlichen Revolutionen in zentralen Ländern Europas sich durchsetzte, einen Zusammenbruch der alten ständischen und kleinstaatlichen Ordnung hervorrufen musste. So entwickelte sich der Konterrevolutionär von 1848/49 zum Revolutionär von oben, weil er die Revolution von unten fürchtete. Nach der Einheit kämpfte er gegen „Reichsfeinde" mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Sozialistengesetz und Sozialversicherung. Er wollte das System nie ändern, sondern höchstens verbessern, wenn der Druck darin stieg. August Bebel und seine Sozialdemokratie wollten dagegen einen radikalen Wechsel, den sie nicht schafften, aber durch den sie die liberalen Freiräume erweiterten und somit dazu beitrugen, dass Bismarck 1890 stürzte - mit der fatalen Folge der Chaotisierung der von Bismarck mühsam zusammen gehaltenen europäischen Ordnung.

Revolution von oben - die neuen Bismarcks

Heute, drei Jahrzehnte nach 1990, entsteht allmählich, aber sicher eine ähnliche Konstellation. Und auch den Typus Bismarck - den Revolutionär bzw. Reformer von oben, weil er die Revolution von unten fürchtet - gibt es heute wieder. Was Kissinger für die Außen- ist Klaus Schwab für die Wirtschaftspolitik. Der Gründer des lange Jahre hoch neoliberalen Weltwirtschaftsforums in Davos glaubt aufgrund der Erfahrungen mit der Pandemie zwar noch an den Kapitalismus, aber nicht mehr in seiner jetzigen Ausgestaltung. Drei Krisen sind für ihn stark verflochten und verstärken sich wechselseitig: die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich auf nationaler und internationaler Ebene, die Klimakrise und schließlich die Tatsache, dass der jetzige Kapitalismus zu wenig widerstandsfähig, inklusiv und nachhaltig ist. „Wenn wir dagegen nichts unternehmen, werden die Veränderungen irgendwann auf anderem Wege kommen, durch gewalttätige Konflikte oder Revolutionen etwa. Das lehrt uns die Geschichte."[13]

Der durchaus kapitalismusfreundliche Schwab plädiert daher - genau wie die italienische Ökonomin Mariana Mazzucato[14] - für die Rückkehr eines stärker in die Wirtschaft eingreifenden, auch umverteilenden Staates: „Der Markt löst allein keine Probleme. Ich plädiere nicht für eine Systemänderung. Ich plädiere für eine Systemverbesserung."

Klaus Schwab wie Henry Kissinger haben erkannt: Wenn sich nichts Wesentliches ändert, ändert sich alles - zum auch für sie Schlechten. Oder wie es der Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel gleich zu Beginn seiner Kamenzer Rede im Jahre 2019 auf den Punkt gebracht hat: „Der Laden lässt sich nicht mehr zusammen halten. Es zerteilt sich zunehmend, was dereinst als schöne Einheit gedacht werden konnte - unsere Welt."

Erleben wir also heute eine Wiederkehr der katastrophischen Niedergangs- und Verfallsgeschichte nach der ersten deutschen Einheit? Die Geschichte ist offen, fest steht nur eines: Die Figur des rettenden Neuen hat noch nicht die Bühne betreten. Doch nur was heute noch verborgen ist, kann morgen erscheinen.

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