Als am 10. November 1989 die Massen auf dem Ku'damm feierten, flog Heiner Müller für eine Veranstaltung nach New York und erlebte so, fast zufällig, die Tage nach dem Mauerfall in den USA. Als die Welt tatsächlich auf diese Stadt Berlin schaute, in der ein Großteil seines Werks entstanden war, wo er als Grenzgänger zwischen Ost und West internationale Bekanntheit erlangt hatte, gab er vor dem Hintergrund des ikonischen Wolkenkratzerwalds Interviews. Darin sprach er davon, dass ein fingierter Sozialismus ohne bürgerliche Freiheiten den realen Kapitalismus nicht überwinden kann.
Nach Lektüre des soeben aus dem Müller-Nachlass erschienenen neuen Bandes erscheint dieses US-Momentum weniger zufällig, was es ja tatsächlich war, sondern fast zwangsläufig. In Amerika hatte der Weltautor aus Ostberlin unser heraufkommendes planetarisches Zeitalter erlebt. Ohne seine früheren Erfahrungen in den USA wären jene Werke, die vorrangig seine Renaissance der letzten Jahre begründeten, nicht in dieser Weise geschrieben worden.
Grundstürzend für Müller war seine, für einen DDR-Bürger völlig außergewöhnliche, große USA-Reise im Jahr 1975, die ihm die ungeheure Landschaft und den Einbruch der Dritten Welt in die Metropolen erleben ließ, und wenig später die Erfahrung Mexiko. Exzessiv sah Heiner Müller in den USA Kinofilme, oft mehrere an einem Tag. Das veränderte entscheidend sein Schaffen. Die Weite der Landschaft, die reale und die im Film, prägte sein Werk fortan, als er – zur Überraschung mancher – in die DDR zurückkehrte.
„Der amerikanische Leviathan“ basiert nicht zuletzt auf diesen Erfahrungen. Er verbindet Essays und Interviewauszüge, Szenen aus Stücken und Gedichte. Der Herausgeber Frank M. Raddatz, der wissenschaftlich zu Müller arbeitet und zahlreiche Gespräche mit ihm führte, strukturiert prägnante Passagen als Lexikon von A wie Amerikaerfahrung bis Z wie Zweiter Weltkrieg, an dessen Ende der jugendliche Heiner Müller jenseits von Disney und Karl May seinen ersten echten Amerikanern begegnete. Erfahrungen und Vorstellungen gehen immer wieder ineinander über, ebenso Anziehung und Abstoßung. Nicht im Buch, sondern im Heiner-Müller-Archiv findet man diese handschriftliche Notiz aus dem Jahr 1992: „Die Erfahrung der Landschaft / Das hätte ich wahrscheinlich / auch in Rußland / haben können,
aber / ich war nur 2 x / ein paar Tage lang / in Moskau. Auch eine Ver- /
weigerung vielleicht, / weil ich wußte, daß man/mir in der sozial[istischen] /
UdSSR s/meinen Marxismus / leichter verlieren/abhanden kommen konnte
als in / den kapitalistischen USA“ (HMA, 5067/1). Die Hoffnungen der kommunistischen
Weltbewegung hatte Müller in einer immer noch gültigen Form in „Zement“ beschrieben, die aber – so Müller bereits im Eingangstext von 1975 – so nicht mehr möglich sei. Der Panzerzug des sowjetischen Kommunismus fuhr unaufhaltsam weiter auf leichenunterfütterten Schienen in Richtung eines Kopfbahnhofs, wo er zum Stehen kommen musste – eine Umkehr – re-volution im eigentlichen Sinne – vorbei an den rechts und links
des Schienenstranges türmenden und verscharrten Leichen blieb die einzige mögliche Bewegung. Wer eine solche Revolution erlitten hat, will keine mehr machen, sondern will zurück in eine forcierte Normalität.
Diese jedoch war, ist und bleibt versperrt im Zeitalter des planetarischen
Kapitalismus. Es war nicht allein die Erfahrung der amerikanischen Landschaft,
die für Heiner Müller augenöffnend war, sondern er erlebte die dort zuerst hervortretenden Widersprüche des 21. Jahrhunderts: vom „Krieg der Landschaften“, wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen, von der weltumfassenden Flucht- und Migrationsbewegungen bis hin zu den jäh in Reich und Arm entkoppelten Gesellschaften.
„Die USA sind das reichste Armenhaus in der Welt“, formuliert Müller bereits 1991. Schon Ende der 1980er Jahre hatte das „Downsizing of America“ begonnen: Arbeitsplätze wurden reduziert oder ins Ausland verlagert und Arbeitsmigranten zunehmend wichtiger. Bei
tieferem Nachdenken gibt es weit weniger die Müller oft nachgesagte Prophetie, sondern viele Sätze von klassischer Tiefe: „Was die Menschheit eint, sind vielleicht die Geschäfte, was sie trennt, ist jedenfalls das Geld.“
Da eine Revolution in den USA nicht möglich war, auch weil revolutionäre Impulse, wie Müller es bereits 1985 ausdrückte, in die Kriminalität abgelenkt und kanalisiert wurden als „Gier auf den Konsum der Oberschicht“, war der Sieg im Kalten Krieg kein Ende der Geschichte in einem liberalen Kapitalismus. Vielmehr wuchsen Widersprüche, die Müller, aus einem anderen Bezugssystem kommend und dadurch verfremdet wahrnehmend, früh
erkannte und benannte. Seitdem mutierten diese Widersprüche bis hin zum Scheinausweg durch den lügenden, betrügenden Diktaturliebhaber, der die neue sowjetische Phase der USA einleitete. Ob danach ein hoffentlich glücklicherer amerikanischer Gorbatschow kommt, ist offen. Möglicherweise sind die Auswirkungen der Pandemie, die die Schwächen der Vereinigten Staaten so brutal offenlegen, tatsächlich eine Variation der Reaktorkatastrophe in
Gesellschaft, die nicht so erschöpft ist wie die sowjetische und eine kräftige Erzählung einer anderen, offenen Zukunft. Heiner Müller jedenfalls misstraute früh dem Selbstbild der USA als friedlichem Schmelztiegel der Kulturen. Schon 1990 erkannte er – unter Wahrnehmung der Achsenverschiebung gen Asien – die Collage der Minderheiten als Zukunft, „eine
Collagegesellschaft, so wie sie ganz auffällig in Kalifornien und Los Angeles jetzt schon existiert. Es gibt eine riesige vietnamesische Stadt in Los Angeles, die ist absolut vietnamesisch, nichts anderes. Und eine chinesische Stadt ist dort chinesisch. Die schwarzen Ghettos, das mischt sich noch am ehesten traditionell.“
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