Die schlichten Vorstellungen, dass Ost- und Westeuropa nach dem Ende des Kalten Krieges mehr oder weniger harmonisch zusammenwachsen würden, haben sich nicht bewahrheitet. Der schwedische Schriftsteller Richard Swartz ist ein profunder Kenner Ostmitteleuropas. Er legt die historischen Gründe dar.
Beginnen wir mit einem Blick zurück auf einen Wendepunkt der Geschichte: Sie gehören zu denen, die für das Jahr 1989 den Ausdruck Revolution vermeiden. Warum?Meine Vorstellung von Revolution ist vielleicht kitschig und überholt, aber zu einer Revolution gehören für mich Gewalt und Blut. "1989" erlebte ich eher als Zusammenbruch. Ein längst morsches Gebäude implodierte. Aber vielleicht kann man auch von einer plötzlichen Katharsis der Gesellschaft mit wenigen Helden sprechen.
Anders als manche osteuropäische Intellektuelle hielten Sie den Realsozialismus für nicht reformierbar.Ich glaubte nie an einen Sozialismus jenseits der Sozialdemokratie, interessierte mich aber, beeinflusst von Ökonomen wie János Kornai oder Ota Šik, für Reformversuche in der kommunistischen Planwirtschaft. Man hatte damals ziemlich eigenwillige Vorstellungen von einem dritten Weg. Aber eine Planwirtschaft lässt sich nicht mit Demokratie vereinen. Sie bleibt die materielle Seite der politischen Diktatur.
War denn das Soft-Modell Jugoslawien eine Alternative? Sie erlebten den Vielvölkerstaat in den siebziger Jahren, in denen von Sartre bis Bloch viele an der kroatischen Adria den Geist der Utopie suchten und fanden, hautnah.Spätestens mit der Invasion in die Tschechoslowakei im August 1968 war der Realsozialismus als solcher gestorben. Alles danach war überflüssige Geschichte; bloss, wir haben es damals nicht verstanden. Die jugoslawische "Arbeiterselbstverwaltung" sah wohl etwas anders aus, war aber dasselbe in Grün.
Wie reagierten denn jene, die auf Reformen hofften, auf Ihre Skepsis?Mit Vertretern der Praxis-Gruppe wie Zagorka Golubović oder Svetozar Stojanović stritt ich manchmal bei Kaffee und Zigaretten. Es war aufregend und unterhaltsam, aber ich war auch erstaunt, dass derart intelligente Menschen so gläubig sein konnten.
Sie waren befreundet mit dem DDR-Schriftsteller Stefan Heym, der fand das wahrscheinlich auch nicht lustig.Wir sprachen meist über anderes, manchmal kam es aber scherzhaft zur Sprache. Du irrst dich, Stefan, sagte ich. Und er: Du bist zu jung, Richard. Bei Stefans Überzeugung spielte eine gewisse Eitelkeit mit, er verteidigte wohl seine Jugend. Sein Leben lang hoffte er auf einen marxistischen Sozialismus und wollte nicht hochbetagt sagen, es sei alles ein Irrtum gewesen.
Glaubten Sie nach der Wende von 1989 an einen Triumphzug der Demokratie in Osteuropa?Wie alle begrüsste ich die Befreiung von Diktatur und Planwirtschaft. Ich hatte nicht damit gerechnet, solches noch zu erleben. Dafür hatte ich nicht genug Phantasie, obwohl ich wusste, dass seit langem nichts mehr funktionierte. Ich war mir der Schwierigkeiten bewusst, die nach Jahren politischer Traumwirklichkeit anstanden. Die Verbindung von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie im Westen ist ein Amalgam, das sich über 200 Jahre langsam entwickelt hat. Es war unrealistisch zu meinen, dass es dem Osten gelingen würde, diesen Prozess in nur wenigen Jahren nachzuholen.
Was war denn realistisch?Die Menschen sahen angesichts der Schwierigkeiten mit der Transformation bald, dass es mit dem, was sie ein normales Leben nannten, lange dauern würde. Also wandten sie sich Altbekanntem zu: dem Nationalismus. Heute überschattet dieser die zerbrechlichen Demokratien immer mehr. In Ungarn soll der demokratische Embryo abgetrieben werden; wir sehen diese Tendenz auch anderswo. Und bis auf die Tschechoslowakei und Ostdeutschland gab es in Ostmitteleuropa kaum grössere Erfahrungen mit der Demokratie.
Ist Osteuropa denn stärker zerrissen als Westeuropa? Beides sind ja politische Konstrukte und keine geografischen Einheiten.Die Grenzen verlaufen oft quer durch die Staaten. Der Balkan zum Beispiel ist vom Osmanischen Reich geprägt, Zentraleuropa von den Habsburgern. Jugoslawien war der Versuch, diese gewaltigen Unterschiede zu vereinen; das Resultat war wohl eher eine Osmanisierung. Die Lage auf dem Balkan ist immer noch unruhig. Ich glaube, es ist wichtig, alle südosteuropäischen Staaten in der EU zu vereinen, um die Region stabilisieren und europäisieren zu können.
Dagegen stellt sich bekanntlich Russland quer, indem es sein eigenes orthodoxes Süppchen kocht.Ja, und man sollte auch China und die Türkei nicht vergessen. Wie auf einem Basar spielen auf dem Balkan Staaten wie Serbien die gegensätzlichen Mächte gegeneinander aus. Man zieht die russische Karte, auch wenn man weiss, dass man lieber mit der EU paktiert.
Ist der wachsende Nationalismus einfach nur eine Kompensation ökonomischer Schwäche?Zum Teil. Nationalisten befassen sich selten mit konkreten ökonomischen Fragen, das gilt nicht nur auf dem Balkan. Viktor Orbán hält ständig Reden, spricht aber nicht von Zahlen, sondern von der Rolle des Christentums für Ungarn, von Immigranten, die nicht existieren, oder von der Notwendigkeit, die Bevölkerung zu vermehren, notabene "das echte Blut". Er bewegt sich in einer virtuellen, abstrakten, unüberprüfbaren und unwiderlegbaren Welt. So hat Orbán den politischen Diskurs nahezu abgeschafft. Stattdessen schuf er sich Feinde, und der beste Feind lauert immer hinter der Grenze, wie George Soros es angeblich tut. Solche Feinde kann Orbán bequem attackieren, wohlwissend, dass sie in Ungarn nicht zu Wahlen antreten dürfen.
Entwächst der Nationalismus nicht auch der narzisstischen Kränkung, dass ein guter Teil der eigenen Jugend auf der Suche nach einem besseren Leben in den Westen auswandert?Ich denke schon. Es wird im Westen gerne übersehen, dass Osteuropa verarmt, weil viele gut ausgebildete Menschen ihre Heimat verlassen, und dies keineswegs immer freiwillig. Es ist eine Ironie der Geschichte, wenn die EU mit ihren offenen Arbeitsmärkten zur Auszehrung des Ostens beiträgt.
In Ihrem ersten Buch "Zwiesprache", das auf einem viertägigen Ost-West-Dialog im Jahre 1989 mit dem ungarischen Schriftsteller Péter Nádas beruht, ist das Ausgeliefertsein des Ostmenschen Leitmotiv. Sie sahen hier einen Abgrund.
Abgrund ist wahrscheinlich zu stark, aber der Realsozialismus verstärkte die Spaltung zwischen West- und Osteuropa. Es geht hier freilich um Prozesse von langer Dauer. Es wird nicht so rasch gehen, bis die historischen Wunden verheilt sind. Unterschiedliche Prägungen gibt es bis in den Alltag. Ich bin mit einer Kroatin verheiratet, die Unterschiede sind nicht dramatisch, aber sie zeigen sich etwa im Verständnis des Kompromisses als eines Vehikels westlichen Lebens. Bei unterschiedlichen Meinungen versucht meine Frau, die Schriftstellerin Slavenka Drakulić, hartnäckig, mich von ihrer Position zu überzeugen, während ich sofort ein Niemandsland suche, wo wir uns treffen können. Meine Einstellung ist für sie "pragmatischer Opportunismus", ihre dagegen eine "prinzipielle". Etwas zugespitzt: Sie sitzt auf ihren Werten, während ich nur eine Lösung finden will.
Darin erkenne ich den Schriftsteller Richard Swartz, der nie einer Partei oder Gruppierung angehörte, sondern immer darauf aus war, Grenzen nachzuspüren. Was treibt Sie an?Es ist wohl Neugier. Grenzen ziehen mich an, obwohl Begegnungen im Grenzbereich oft scheitern. Osteuropa hat mich geprägt. Ich habe dort studiert, ich habe dort mein Berufsleben verbracht, ich habe eine Frau von dort geheiratet. Und dennoch bin ich kein Osteuropäer geworden.
Bleiben Ost und West in ihrer Historie, mit einem Romantitel von Péter Nádas gesagt, "Parallelgeschichten"?Im besten Fall berühren sie sich, aber in der Regel verlaufen sie parallel, noch häufiger nimmt man den Anderen gar nicht wahr. Als Student in Prag war ich in den Jahren nach 1968 fast der einzige Westler; bei uns war damals der Osten so gut wie abgeschrieben. Es gab nur einzelne Konjunkturen: Budapest 1956, Prag 1968, Solidarnosc 1980. Und dann war für kurze Zeit wieder ein Interesse da, als der Ostblock starb.
Prag ist doch ein Touristenmagnet erster Güte.Viele fahren hin, aber ist es mehr als ein Oberflächenreiz? Um Bier zu trinken? Freilich, es gab nach 1989 eine romantische Periode, als junge Amerikaner an die Moldau gingen, um Cafés zu eröffnen und Romane zu schreiben. Es ist zwar vieles selbstverständlich geworden, aber ein nachhaltiges Interesse sehe ich nicht. Neville Chamberlain sprach 1938 von der Tschechoslowakei als einem fernen Land, von dem wir wenig wissen. So, will es mir scheinen, ist es auch geblieben.
1938 war die Tschechoslowakei gerade mal zwanzig Jahre alt. Zuvor waren die meisten Länder Osteuropas Teil von Imperien, des Habsburgerreiches, des Russischen Reiches, des Osmanischen Reiches. Aus deren Zerfall sind sie wie Scherben hervorgegangen, unfähig, ein neues Ganzes zu bilden.Die Staaten in Osteuropa sind zu klein, um sich gegen Kolosse wie gestern die Sowjetunion oder morgen China zu behaupten. Nach 1990 erhielten diese Länder eine zweite Chance, indem sie unter das Dach der EU, aber auch der Nato schlüpfen konnten. Die EU ist heute in der Krise, aber wir haben in Europa nichts Besseres. Dennoch scheren jetzt viele in Richtung autoritäres Russland und China aus, ohne zu verstehen, dass sie nur ein politischer Spielball sind, was ja leicht auch für Europa gilt. Auf eigene Faust schafft es keiner mehr. Die Briten sind gerade dabei, den Fehler zu wiederholen, den die Völker des Habsburgerreiches 1918 im blinden nationalen Furor begangen haben.
Woher stammt dieser Hang zur Selbstüberschätzung?Wir Europäer sind mit dem Zweiten Weltkrieg immer noch nicht fertig. In gewissem Sinne ist Europa damals untergegangen. Ironischerweise haben dies nur die Deutschen verstanden. Nicht weil sie klüger sind, sondern weil sie nach 1945 gezwungen waren, sich in radikaler Weise ihrer Geschichte zu stellen. Es gibt diesbezüglich auch in Deutschland dunkle Ecken, aber die Deutschen leben heute nicht in Lebenslügen wie viele andere. Die Russen glauben, sie hätten den Faschismus allein besiegt, und vergessen, dass sie durch den Pakt mit Hitler den Krieg erst möglich gemacht haben. Die Franzosen rühmen ihre "Résistance", obwohl Kollaboration epidemisch war. Die Polen halten sich für die grössten Opfer und streiten sich darüber mit den Juden. Die Schweden und die Schweizer wähnten sich lange neutral und sauber, als hätten sie nichts mit diesem Krieg zu tun gehabt, obwohl sie damit auch gute Geschäfte machten. Die Jugoslawen glauben, sie hätten sich selbst befreit, und vergessen, dass die Deutschen ihre Truppen abzuziehen begannen, um die Löcher an der Ostfront zu stopfen. Die Engländer wähnen sich als herrliche Sieger, die sich dann genügsam auf die Insel zurückzogen. Und so weiter, und so fort. Diese Lebenslügen wirken bis heute nach, wir erleben es ja gerade beim Brexit. Niemand in Europa hat diesen Krieg wirklich gewonnen, Europa hat ihn verloren.
Könnte eine föderale statt eine zentralistische Union ein Modell für eine gedeihliche Zukunft sein?Es scheint mir die einzige Lösung, aber davon sind wir weit entfernt.
Ihr Freund Péter Nádas glaubt, dass es in Osteuropa auch in Zukunft keine signifikante Mittelklasse geben wird und damit auch keine politische Kraft, die frei wäre von weltanschaulichem Extremismus. Es fehlt elementar an demokratischer politischer Gestaltungskraft. Man kann Ihr schriftstellerisches Werk als Hommage an eine in Osteuropa verschwundene bürgerliche Welt lesen.Osteuropa fehlt heute eine wirtschaftlich potente Mittelklasse und eine starke Zivilgesellschaft. Die Juden sind ermordet, die Deutschen wurden vertrieben. Und von jenen Menschen, die vielleicht einmal eine neue Mittelschicht bilden könnten, sind nach 1990 viele emigriert. Sie leben heute in Darmstadt oder Manchester.
Es soll die Erinnerung zum Sprechen bringen, aber nicht auf nostalgische Art, sondern, so hoffe ich, erfüllt von nüchternem Realismus. Ein bürgerliches Europa existierte vor hundert Jahren an Orten, die erst in den letzten Jahrzehnten wieder entdeckt wurden. Ich denke an Städte wie Lemberg oder Czernowitz oder Sarajevo. EU-Osterweiterung hin oder her - aber von der ideellen Substanz her ist Europa kleiner geworden. Ich denke da auch an Prag, wo es nicht so auffällt, aber der Multikulturalismus zwischen Tschechen, Deutschen und Juden, der die Stadt zu einem kulturellen Magnet gemacht hat, ist verschwunden. Selbstverständlich sind die Tschechen Europäer, sie müssen jetzt aber diese Grösse alleine tragen, und wir täuschen uns über die Schwere der historischen Bürde, weil wir uns von der grossartigen gotisch-barocken Stadtkulisse blenden lassen.
ae. Richard Swartz, Journalist und Schriftsteller, arbeitete jahrzehntelang als Osteuropa-Korrespondent für "Svenska Dagbladet". Sein literarischer Durchbruch gelang ihm 1996 mit "Room Service. Geschichten aus Europas Nahem Osten". Tief aus dem Innern der osteuropäischen Wirklichkeit und doch mit Blick von aussen erzählt Swartz in diesen Reportagen von den Zuständen hinter dem Eisernen Vorhang, von der langsamen Annäherung zwischen West und Ost nach dem Ende des Kalten Krieges sowie von neu-alten Rissen und Brüchen. Sein Erkenntnisinteresse richtet sich nicht auf grosse Staatsaktionen, sondern auf tiefer liegende Prägungen und Mentalitäten. Durch seine Kunst der klugen Beobachtung und dichten Beschreibung entwickelte sich der 73-jährige Schwede zum eminenten Vermittler zwischen Ost und West. Mit dem kürzlich erschienenen, fabelhaften Erinnerungsbuch "Austern in Prag. Leben nach dem Frühling" (Zsolnay) schliesst sich ein Kreis, begann Swartz doch als Austauschstudent an der Moldau seine ostmitteleuropäischen Erkundungen. Er lebt heute in Stockholm, Wien, Zagreb und Istrien.