DIE ZEIT: Herr Harting, Sie waren Weltmeister und Olympiasieger, und man sagt, Sie hätten die Deutschen wieder für Leichtathletik begeistert. Vor wenigen Tagen haben Sie Ihren letzten Wurf gemacht, 50.000 Menschen waren im Berliner Olympiastadion dabei. Wie viel Druck ist von Ihnen abgefallen?
Robert Harting: Viel, sehr viel. Ich bin erleichtert. Im letzten Jahr war ich oft verletzt. Ich konnte nicht so werfen, wie ich wollte. Jetzt aber, als ich meinen allerletzten Wurf gemacht habe, fühlte ich mich noch einmal wie ich selbst. Stark, Harting-mäßig. Ich war glücklich. Da wurde mir erst bewusst, wofür ich mich da entschieden hatte: meine Karriere zu beenden.
ZEIT: Die Aufmerksamkeit war riesig. Ihr Gesicht war in ganz Berlin plakatiert.
Harting: Ich kann das noch gar nicht verarbeiten. Ich habe am Tag meines letzten Wettkampfes Tausenden Leuten die Hände geschüttelt. Ich habe so viele Gespräche gleichzeitig geführt. Danach ging erst mal nichts. Ich war apathisch, konnte das gar nicht richtig erleben.
ZEIT: Hat das Diskuswerfen Spaß gemacht?
Harting: Nein. Ich bin noch nie in einen Wettkampf gegangen, um Spaß zu haben.
ZEIT: Wie bitte?
Harting: Ein Diskuswurf ist kein Spaß. Es geht um den Wettkampf. Es ist toll, wenn man dabei Spaß hat, aber das ist keine Motivation für mich. Ich werfe in jedem Wettkampf sechsmal, ein Wurf dauert weniger als zwei Sekunden: Wie soll ich diese kurze Zeit genießen? Wenn Athleten sagen, sie würden das des Spaßes wegen tun, wollen sie vom Druck ablenken, der auf ihnen lastet. Spaß haben kann ich vor oder nach dem Wettkampf. Aber währenddessen geht es nur um Leistung. Der Druck macht leistungsfähig.
ZEIT: Haben Sie Angst vor der Zeit, die jetzt kommt – der Zeit ohne Druck?
Harting: Ich versuche, sie als Zeit zu sehen, in der ich mich neu beweisen muss. Ich habe 2014 schon einmal einen Umbruch erlebt. Da hatte ich eine schlimme Verletzung und musste mit dem Sport lange aussetzen. Die Situation und das Comeback waren sehr schwierig. Neben der Reha habe ich aber ein Bachelorstudium in Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation begonnen und mit Partnern eine Sportagentur gegründet. An diesen Prozessen bin ich gewachsen. Jetzt mache ich mein Master-Studium fertig. Mit 33 Jahren bin ich noch fit genug, um das zu schaffen. Für einen Werfer habe ich meine Karriere früh beendet. Ich wollte mir etwas Leistungsfähigkeit für andere Dinge bewahren. Was jetzt kommt, betrachte ich als Experiment.
ZEIT: Warum?
Harting: Ich habe mich lange mit dieser Phase beschäftigt. Es gibt das sogenannte "Drop-out"-Phänomen. Das besagt, dass Menschen durch plötzliche Umbrüche ihre sozialen Strukturen verlieren, ihr System wird destabilisiert; sie müssen sich eine völlig neue Identität aufbauen. Das liegt auch vor jedem Profisportler, der aufhört.
ZEIT: Und was heißt das für Sie?
Harting: Dass ich dranbleiben will, ohne mir zu viel Druck zu machen. Ich weiß, ich werde fünf bis zehn Jahre brauchen, ehe ich in einem anderen Bereich ein ordentliches Leistungsvermögen erreicht habe. Sportlich war ich immer von meinem Körper abhängig: Wenn der im Alter nachlässt, ist es vorbei. Intellektuell hat man dieses Problem nicht. Ich möchte noch etwas erreichen. Weil ich eigentlich ein fauler Mensch bin, muss ich dafür hart arbeiten.
ZEIT: Faul? Sie haben Ihr Leben lang trainiert.
Harting: Viele lachen darüber, wenn ich das sage, weil man vor mir nie Ruhe hat. Aber in Wahrheit bin ich faul, glauben Sie das.
ZEIT: Wie wichtig ist Ihnen denn Erfolg?
Harting: Um die Rapper zu zitieren: Erfolg betrügt dich. Und um Bill Gates zu zitieren: Erfolg ist ein schlechter Begleiter. Erfolg gibt dem Menschen das Gefühl, dass er das Leben im Griff hätte. Das ist aber falsch. Erfolg führt zu einem Rausch. Manchmal kam mir mein Sport vor wie so ein Ein-Euro-Markt. Du gerätst in einen Kaufrausch, weil du immer denkst: Einer geht noch! Am Ende merkst du, dass du süchtig geworden bist. Mich erdet, dass ich aus einfachen Verhältnissen komme. Das habe ich nicht vergessen.
ZEIT: Sie sind in Cottbus aufgewachsen. Was verdanken Sie dem Osten?
Harting: Ich halte nicht so viel von diesem Gerede über Ost und West. Aber ja, ich bin aus der DDR entstanden. Meine Eltern waren Sportler, haben aber als Jugendliche aufhören müssen. Meine Familie lebte im Mangel. Das hat mich geprägt. Aber im Westen gab es genauso Leute mit schwieriger sozialer Situation.
ZEIT: Sie wuchsen auch im Plattenbau auf. Wie war das?
Harting: Es war normal. Ich kannte nichts anderes. Es gab Klassenkameraden, die hatten mehr, wohnten in größeren Wohnungen – oder sogar in Häusern. Aber so war es halt. Meine Eltern haben damals viel über Geld gestritten. Sie können sich daran nicht erinnern, aber mir hat sich das eingeprägt. Natürlich haben sie alles getan, was sie konnten. Aber ich hatte als Kind trotzdem in vielen Situationen das Nachsehen, konnte Dinge nicht tun, weil das Geld nicht reichte. Das hat mich damals tierisch genervt, aber extrem motiviert.
ZEIT: Inwiefern?
Harting: Ich wollte diesen Zustand überwinden. Ich weiß noch genau, wie meine Mama mich einmal tröstete. Ich war noch ganz klein, habe in einer Hecke geheult, weil irgendwas nicht so geklappt hat, wie ich das wollte. Sie sagte: "Du musst Geduld haben, du zeigst es schon allen."
ZEIT: Und das haben Sie dann getan.
Harting: Das hat sich auf den Sport übertragen. Ich wollte dort nicht wieder dieses Gefühl haben, weniger wert zu sein. Ich bin mit 15 Jahren aufs Sportinternat nach Berlin gewechselt, ich habe das also richtig ernst genommen. Als Jugendlicher bin ich Deutscher Meister geworden, habe mich etabliert, bin Junioren Europameister- und Weltmeister geworden, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, wieder weniger wert zu sein als andere.
ZEIT: Warum?
Harting: Ich war Werfer, die sind in der Leichtathletik am unwichtigsten, die Sprinter sind die Stars. Das habe ich nicht auf mir sitzen lassen. Und habe versucht, das Werfen populärer zu machen. Hat ja, in gewisser Weise, geklappt.
ZEIT: Das Gefühl einer Entwertung der eigenen Leistung beschreiben viele Ostdeutsche. Haben Ihre Eltern so ein Gefühl vielleicht an Sie weitergegeben?
Harting: Na klar. Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, saugen Kinder auf. Ob es nur bei Ostdeutschen so war, kann ich nicht beurteilen. Mich hat das Gefühl aber motiviert.
ZEIT: Sind Sie noch oft in Cottbus?
Harting: Nein, meine Familie lebt nicht mehr dort. Einmal wollte ich noch den Plattenbau besuchen, in dem ich aufwuchs. Ich bin dort hingefahren, aber er war leider schon abgerissen. Für mich war das traurig. Ich konnte den Kreis nicht schließen. Ich wohne heute mit meiner Frau in Berlin-Weißensee, in einem alten Industrieverschlag, den ich selbst ausgebaut habe. Der Bauleiter war ganz erschrocken von der Größe der Räume, die ich haben wollte. Ich glaube, ich wollte große Räume, weil in der Platte alles so eng war.
ZEIT: Fühlen Sie sich denen, die so einen Aufstieg nicht geschafft haben, noch nahe?
Harting: Ich habe meine Kindheit nicht vergessen. Wie sollte ich auch? Ich bin zum Beispiel immer noch sparsam. Als ich fertig war mit der Renovierung unseres Hauses, bin ich in der Küche herumgerannt wie ein kleines Kind, weil ich mich so gefreut habe. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das alles jetzt mir gehört. Das war fast ein gruseliger Moment. Aber auch ein Zeichen: Wie viel ich geschafft habe!
ZEIT: Wie ja viele Ostdeutsche sehr viel geschafft haben. Neulich haben Sie getwittert, dass die Einheit mehr gefeiert werden müsse, als "Errungenschaft", die das Volk gemeinsam geschaffen habe. Wieso?
Harting: Überlegen Sie mal! Während die ganze Welt sich spaltet, hat dieses Land zusammengefunden. Darauf kann man stolz sein! Gerade in Zeiten, in denen es wieder passieren könnte, dass das Land sich spaltet. Das ist für die jüngere Generation wahrscheinlich noch schwerer zu verstehen als für mich. Wir müssen stolzer auf das sein, was wir haben. Neulich, als ich die Bilder aus Chemnitz sah, habe ich mich geärgert, dass auf der Gegendemonstration von "Wir sind mehr" fast keine Deutschland-Fahnen zu sehen waren.
ZEIT: Wieso das?
Harting: Weil ich nicht verstehe, dass wir unsere Fahne den Rechten überlassen. Die Rechtsextremen sind es nicht wert, diese Fahne zu schwingen. Das Deutschland, das diese Fahne symbolisiert, ist eine friedliche Demokratie. Nur wer das auch lebt, sollte sie tragen.
ZEIT: Verstehen Sie manche Wut im Osten?
Harting: Ich kann verstehen, dass gerade hier ein gewisser Frust herrscht. Ich kann mir auch vorstellen, dass es den Leuten im Osten zunächst schwierig erscheint, wenn fremde Menschen kommen. Die DDR war kein Multikulti-Land. Man muss den Ostdeutschen nun einfach die Chance geben, sich daran zu gewöhnen, dabei auf ihre Vorbehalte eingehen und Ängste verstehen. Aber denen, die Migranten von der Straße vertreiben wollen, müssen sich jetzt mehr in den Weg stellen. Unsere Gesellschaft verroht.
ZEIT: Woran liegt das, Ihrer Meinung nach?
Harting: Viele bekommen zu wenig Aufmerksamkeit für das, was sie täglich leisten. Es herrscht Respektlosigkeit: gegenüber der Krankenschwester genauso wie gegenüber dem Polizisten. Das macht mir Sorgen: dass von denen offenbar so viele das Gefühl haben, für sie interessiere sich keiner, sie seien vergessen.
ZEIT: Und Sie selbst: Haben Sie Angst, in Vergessenheit zu geraten?
Harting: Nein. Ich kann damit leben. Schon nächstes Jahr werden sich die Leute nicht mehr so gut an mich erinnern, aber das ist okay. Es werden neue Sportler kommen, die weiter werfen, bessere Leistungen bringen.
ZEIT: Jetzt, mit 33 Jahren, kann man Sie noch mal fragen: Was wollen Sie mal werden?
Harting: Als Schüler wollte ich Anwalt oder Pilot werden, irgendwas mit Einfluss, bei dem man schnell Geld verdient. Jetzt will ich das nicht mehr. Heute möchte ich etwas finden, was ich mit Leidenschaft machen kann. Klingt vielleicht blöd, aber: womit ich die Gesellschaft verändern und verbessern kann. Danach suche ich allerdings noch.
ZEIT: Gerade werden Sie von allen gelobt, auch von vielen ehemaligen Konkurrenten. Schmeichelt das?
Harting: Ja, das ist verrückt. In jedem Interview wurden sie nach mir gefragt: Wie ist es, dass Robert Harting aufhört? Das muss die anderen richtig genervt haben. Ich wette, die sind auch froh, dass es jetzt vorbei ist. Es könnte auch ruhig mal jemand sagen: Gut, dass er weg ist! Ich würde es mit Humor nehmen.
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