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Mit Menschenverstand gegen Deutschland

Bild: imago

Vom Café »Schau ma moi« sind es zu Fuß sieben Minuten zum Grünwalder Stadion. Von außen wirkt es wie ein kleines Gartenhäuschen. Innen nimmt die Bar die Hälfte des Gastraums ein, so dass nur noch ein Stehtisch und ein paar Stühle vor der Fensterbank darin Platz finden. Der Mann, der am Montag Nachmittag das Café betritt, ist genauso ein Original wie die Bar selbst. Herbert Schröger, Ur-Münchner, seit 45 Jahren Sechzger, bestellt ein Helles. Und beginnt eine Geschichte zu erzählen, die ähnlich unschuldig beginnt wie diese. 

Polizeieinsatz beim Amateurderby

Denn normalerweise trifft man Schröger eher vor Heimspielen im »Schau ma moi«. Auch am 9. Dezember 2007 vorm Amateurderby der Löwen gegen die Bayern. Ein ungewöhnlich kalter Tag, an dem sich Schröger mit seiner Frau und Freunden auf dem Weg zum Grünwalder Stadion macht. Genauso wie über 200 Beamte der Polizei und des Unterstützungskommandos: Risikopartie.

Die erste Hälfte ist gerade vorbei, erinnert sich Schröger, als die Polizisten beginnen, ihre Blocksperre vor der Westkurve aufzubauen. Um die Fanlager zu trennen, sollen die Sechzig-Anhänger erst eine Viertelstunde nach Abpfiff das Stadion verlassen dürfen. Doch als das passiert, eskaliert die Situation: »Als wir aus dem Tor heraustraten, standen die Polizisten auf beiden Seiten Spalier und prügelten auf uns ein«, berichtet Schröger, »es war ein Spießrutenlauf. Da lagen Leute blutend am Boden. Die Polizei lief neben uns her und teilte mit Knüppeln und Pfefferspray nach uns aus, ohne dass ich dafür einen Anlass erkennen konnte.« Schröger persönlich wurde nicht getroffen. Seine Frau, sagt er, habe ein Schlagstock nur knapp verfehlt. 

Der Fall des Krimi-Autors 

Im Zuge der Ermittlungen wird er dasselbe später als Zeuge aussagen. Er hat keine Erklärung für das, was er angibt gesehen zu haben. Auch zehn Jahre nach den Vorfällen erinnert er sich an jedes Detail. Schröger ist Krimi-Autor, normalerweise denkt er sich Geschichten über blutige Morde in Niederbayern aus. Was 2007 im Grünwalder Stadion passierte, könnte fast eine davon sein. Denn die Kuriositäten um den Fall nehmen kein Ende.

Schlagstock auf den Kopf, Pfefferspray ins Gesicht

Nach Medienberichten über die Vorfälle nimmt die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf. Trotz der Feststellung, Beamte hätten tatsächlich Gewalt gegen Fans angewendet, werden die Untersuchungen eingestellt. Die Beschuldigten können nicht klar ausgemacht werden. In Bayern gibt es keine Kennzeichnungspflicht für Polizisten. Die Beamten tragen nur die Nummer ihrer jeweiligen Einheit auf ihrer Uniform. 

Gesunder Menschenverstand 

Nachdem das erste Verfahren eingestellt ist, versucht es Schrögers Gruppe, die »Löwenfans gegen Rechts«, erneut mit einer Klage. Besonders politisch sei er nicht, sagt der 58-Jährige, gesunden Menschenverstand, den habe er. Deshalb engagiere er sich auch gegen Rechts: »Ich will einfach nicht mit Arschlöchern in der Kurve stehen, wenn es sich vermeiden lässt. Das ist alles.«  Gesunder Menschenverstand, das heißt für ihn, sich gegen Nazis zu wehren oder eben gegen ungerechte Polizeigewalt. »Ich wollte das Vertrauen in den Rechtsstaat wieder herstellen und die Demokratie stärken. Ich wollte zeigen, dass man gegen so etwas vorgehen kann.« 

Deshalb suchen die »Löwenfans gegen Rechts« nach Betroffenen, doch klagen will zunächst niemand. »Viele hatten Angst vor der Polizei«, berichtet Schröger, »sie dachten, dass sie dann noch mehr Ärger bekommen würden oder waren davon überzeugt, dass man so eine Klage gegen die Polizei überhaupt nicht gewinnen kann.« Zwei Geschädigte erklären sich schließlich bereit: Ingo Hentschel soll von einem Polizisten mit dem Schlagstock so hart am Hinterkopf getroffen worden sein, dass er daraufhin im Krankenhaus genäht werden musste. Matthias Stark soll zunächst Pfefferspray ins Gesicht gesprüht bekommen haben und, nachdem er zu Boden ging, ebenfalls mit einem Schlagstock getroffen worden sein. Herbert Schröger selbst hat ihre Fälle am besagten Tag nicht beobachtet. 

In letzter Instanz

Die Ermittlungen dauern ein weiteres Jahr. Innerhalb der Polizei München wird nur intern ermittelt. Videomaterial von den Vorfällen verschwindet spurlos. Das Verfahren wird erneut eingestellt, diesmal heißt es, die Beamten hätten sich mit den Schlagstöcken nur gegen aggressive Fans verteidigt. Als eine weitere Berufung scheitert und auch eine Klage vorm Bundesverfassungsgericht abgewiesen wird, ziehen die Löwenfans vor die letzte verbliebene Instanz, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR): Die 1860-Fans gegen Deutschland. 

Sieg gegen die »Knüppeleinheit«

Wenn Schröger von der Polizei redet, spricht er von »den Bullen«, das Unterstützungskommando (USK) bezeichnet er als »Knüppeleinheit«.  Fast zehn Jahre nach den Vorfällen des 9. Dezember kommt es zum finalen Urteil und zum ersten Mal bekommen die Löwenfans Stark und Hentschel Recht.  Bis heute kann nicht nachgewiesen werden, was sich wirklich nach dem Amateurderby 2007 um das Grünwalder Stadion abspielte, die entscheidenden Videoaufnahmen gibt es ja nicht mehr, und Schrögers Erzählungen konnten nie rechtlich bestätigt werden. Es gilt die Unschuldsvermutung. Doch prangern die europäischen Richter die Mängel in der Aufklärungsarbeit der deutschen Behörden an. Die beiden Betroffenen erhalten 2000 Euro Entschädigung. 

Rüge für die Ermittler

Unabhängige Ermittlungen in der Polizei werden mittlerweile nicht mehr vom eigenen Haus sondern vom LKA geleitet. Das war 2007 noch nicht so. Das EGMR-Urteil ist allerdings eine Ohrfeige für die Sicherheitsbehörden in Bayern und sieben weiteren Bundesländern, die sich weigern, Polizisten persönlich zu kennzeichnen. Sei das nämlich der Fall, müsste wirklich alles daran gesetzt werden, die fehlende Identifikation ermittlungstechnisch zu kompensieren. Hier sei das nicht geschehen. 

Länder wie Bayern argumentieren gegen die Kennzeichnungspflicht ihrer Beamten häufig damit, die Polizei werde so unter Generalverdacht gestellt. »Bei der Vorratsdatenspeicherung und Kartierung von Fußballfans ist das aber scheinbar kein Problem«, wundert sich Herbert Schröger. Der ist nach dem Urteil jedoch erst einmal eins: erleichtert. »Wenn jemand bei Sechzig was gewinnt, dann wir.«  Trotzdem möchte er mit den »Löwenfans gegen Rechts« weiterkämpfen: »Die Prügelknaben von damals sind wahrscheinlich immer noch im Amt«, sagt er und blickt sich im Café um. 

Grenzenlos optimistisch

Auf der Tür zur Toilette des „Schau ma moi« kleben Sticker, vor allem natürlich 1860 München-Motive, aber auch solche mit Aufschriften wie »no racism, no sexism, no fascism«. »Als Gruppe Löwenfans gegen Rechts können wir nicht versuchen, unsere Leute davon zu überzeugen, nicht mit Nazis, sondern mit unserer Demokratie zu sympathisieren und dann solche Dinge geschehen lassen. Da geht es ums Prinzip«, erklärt Herbert Schröger. Gesunder Menschenverstand und ein ausgeprägtes Rechtsempfinden, das treibe ihn an, sich auch nach dem Urteil weiter für die Kennzeichnungspflicht in Bayern einzusetzen. 

Ob er nach der ganzen Geschichte noch Vertrauen in die Polizei habe? »Man kriegt so seine Zweifel«, sagt er, doch bei all dem Menschenverstand sei er doch ein grenzenloser Optimist:  »Sonst würde ich mich nicht gegen Rechts engagieren, sonst hätte ich den Prozess und die Kläger nicht zehn Jahre lang betreut, sonst wäre ich wahrscheinlich kein Sechzig-Fan.« 

Wie es jetzt also weitergeht? Schau ma moi. Erstmal bestellt sich Schröger noch ein Helles. 

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