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So ist es, in Berlin eine Nacht lang obdachlos zu sein

Dünne Isomatten auf kaltem Stein - für Obachlose ganz normal, für Politiker weniger

Fast 10.000 Menschen in Berlin müssen draußen schlafen: Der Hilfsverein Mob lädt Prominente und Politiker ein, das Schicksal zu teilen.


Mitternacht. Harry sitzt auf dem Parkplatz der Obdachlosenhilfe Mob e. V. vor einem Lagerfeuer. In der vergangenen Nacht habe er in einem Hausflur geschlafen, bis ihn Sicherheitsmänner raus in den windig-kalten Regen geschickt hätten. Dieser sei ähnlich schlimm wie die klirrend kalten Nächte im Winter, sagt der 36-Jährige im flackernden Licht des wärmenden Feuers, dann trinkt er ein Schluck Bier. Seit fünf Jahren lebt der gelernte Maler auf der Straße. Unterdessen breitet ein paar Meter weiter Berlins Staatssekretär für Arbeit und Soziales, Alexander Fischer (Linke), seinen Schlafsack aus. Gemeinsam mit anderen Politikern will er wissen, wie es ist, auf der Straße schlafen zu müssen.

Harrys Blick hat etwas Gebrochenes. Fast so, als hätte er die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben - mit 36 Jahren. Er erzählt, wie er seine Familie verloren hat und depressiv wurde. Die Krankheit nahm ihn ein, arbeiten war nicht möglich, Briefe wurden nicht mehr geöffnet, er versank in sich selbst. Die Mietschulden häuften sich, bis ihn der Vermieter schließlich vor die Tür setzte. Das war vor fünf Jahren, seitdem lebt der Maler auf der Straße. Dort übernachtet er häufig auch. Die Betten in den Hilfseinrichtungen seien immer belegt. „Es ist schwer, einen Platz zu bekommen, man muss da richtig hinterher sein", sagt Harry.

In Berlin stehen für etwa 10.000 Obdachlose gerade einmal 1000 Betten zur Verfügung. Wer keines bekommt, muss schauen, wo er bleibt. Ein Zustand, den die Veranstalterin des „Sleep out", Mara Fischer, scharf kritisiert. Sie ist zugleich die Leiterin der Notunterkunft an der Storkower Straße in Prenzlauer Berg. 31 Betten stehen dort für Obdachlose bereit, voll belegt seien sie immer. Es sei alarmierend, dass auch immer mehr Menschen aus der Mittelschicht in die Obdachlosigkeit rutschten", sagt Fischer. Darauf und auf die große Wohnungsnot wolle sie aufmerksam machen. Die Verweildauer in Obdachlosenheimen liege „teilweise bei mehr als zehn Jahren". Zu viel, weiß auch Staatssekretär Fischer: „Es gibt zu wenig bezahlbare Wohnungen." Und einen großen Bedarf an Einrichtungen wie die Notunterkunft. Aber kurzfristig 9000 Menschen von der Straße zu holen, erscheint angesichts des Immobilienmarktes unrealistisch. Trotzdem sagt er: „Ich glaube, wir werden das hinkriegen."

Harry sieht das kritisch. „Wenn Vermieter Hartz IV hören, legen sie auf", sagt er. Seine Mietschulden belaufen sich auf 3500 Euro. Dass er deshalb keine Wohnung mehr kriege, „ist doch Wahnsinn". Wo er morgen schlafen werde, wisse er nicht. Nachdenklich sitzt er noch am Feuer, da haben sich die Politiker längst in ihren Schlafsäcken verkrochen.


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