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70 Jahre Grundgesetz: Alle da (Familie, Art. 6 GG)

Symbolbild einer Familie (Foto: Getty Images; Bearbeitung SZ)

Ehe, Kinder, Partnerschaft im Wandel der Zeit: Zu Besuch in einem Münchner Fotostudio, in dem seit 70 Jahren Familien fotografiert werden.

Konfetti in den Zimmerecken, zerknautsche Kissen und verschwitzte Gesichter. Nach über einer Stunde Fotoshooting sieht es im Studio aus wie nach einer wilden Kindergeburtstagsparty. Und der Fotograf Jan Siebert ist nach 60 bis 90 Motiven genauso erschöpft wie die Familie, die gerade abgelichtet wurde: Vater Carsten, 50, Mutter Eleonora, 40, und die Kinder Anouk, 14, Elvis, 10, und Avid, 3. „Eher ungewöhnlich, drei Kinder! Und das hier in München!“ sagt der Fotograf erfreut: „Die meisten Familienfotos heute bestehen aus zweieinhalb Menschen. Mutter, Vater und eine halbe Portion Kind dazu.“ Die Großeltern oder andere Verwandte sind kaum mehr auf den Fotos. Die kriegen die Bilder stattdessen zu Weihnachten geschenkt.

 Dass das mal anders war, wissen wenige so gut wie Jan Siebert. Der Fotograf arbeitet bei Heidi-Foto, dem ältesten Geschäft mit Spezialisierung auf Familienfotos in München. 1948 gründete Ilse Fladung (die Mutter des heutigen Inhabers) Heidi-Foto in München-Laim, gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann, einem Fotografen. Seinen Job bei einem Fotowerk gab es nach dem Krieg nicht mehr. Im Elternhaus unterm Dach richtete sich das junge Paar stattdessen ein erstes Studio ein. Schnell wurden die Räume zu klein, erst ein Anbau, dann, 1955, ein eigener Laden, mit Kameraverkauf, Labor und Studio für Wirtschaftswunderfotos auf allerhöchstem Niveau. Drei Kilo wog eine Kamera für Porträtaufnahmen zu dieser Zeit, neun bis zwölf Fotos ließen sich mit einem Film belichten. Zu den feierlichen Anlässen des Lebens kamen die Großfamilien zu Heidi-Foto. Oft ein Dutzend Menschen, drei Generationen auf einem Bild. Die Erwachsenen in Anzügen oder taillierten Kleidern, mit frisch gelegten Frisuren, die Kinder mit Schleifchen im Haar. Der Patriarch saß meist in der Mitte des Bildes, die Jüngeren mit geradem Rücken um ihn herum gruppiert.

 „Ehe und Familie stehen unter dem besonderem Schutze der staatlichen Ordnung“ heißt es in Artikel 6, Absatz 1 im Grundgesetz. Das Ziel des Artikels war damals vor allem (genau wie dreißig Jahre zuvor bereits in der Weimarer Reichsverfassung), den bestehenden bürgerlichen Familienbegriff abzusichern, über den man sich mit Sozialisten und Kommunisten nicht mehr einig war. Seitdem hat sich das, was wir Familie nennen, auf verschiedensten Ebenen immer wieder stark verändert. Ein Ort wie Heidi-Foto kann davon erzählen. Seit sieben Jahrzehnten werden Familien hier ins beste Licht gerückt.

 „Grob lässt sich sagen: die Entwicklung ging von großen, eher steifen Familien in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, zu freizeitorientierteren Bildern in den Siebzigern und Achtzigern, kaum Anzüge mehr, aber mit Tante und Großeltern oft noch dabei, zur Konzentration auf die Kleinfamilie ab den Neunzigerjahren spätestens“, erklärt Fotograf Jan Siebert, 34 Jahre alt, während er die verschiedenen Hintergrundwände ineinanderschiebt, von Barock bis Graffiti, im Moment ist „Fine Art“ der Renner, eine Art gemalte Textur.

 Bis vor 15 Jahren hatte Heidi-Foto sogar sonntags geöffnet, weil die Kirchenfeste nun mal an diesem Tag stattfinden, und der Bub nach dem Kommuniongottesdienst um 8 Uhr mit der Familie zum Stehfoto vorbeikam. Heute liegt der Gottesdienst freizeitfreundlicher um 10 Uhr – und die Zahl der Kinder, die Erstkommunion feiern, ist allein in den letzten 15 Jahren um mehr als ein Drittel geschrumpft.

 Nach der Kirche geht es inzwischen ohne Stopp bei Heidi-Foto gleich weiter ins Restaurant. Die Sonntagsöffnungen lohnen sich nicht mehr. Während vor ein paar Jahrzehnten die wichtigsten Termine die Einschulung, dann die Erstkommunion und schließlich die Hochzeit waren, brummt heute vor allem das Fotogeschenk. Die Welle, Anfang der Nullerjahre, in denen sich Paare gegenseitig mit professionell im Studio belichteten Aktfotos beglückten, ist laut Jan Siebert zwar wieder etwas abgeklungen.

  Sehr gut geht dafür das Thema „Babybauch“, also werdende Mütter, auch mit Vätern, die in leichter,wehender Kleidung das Wunder der Schwangerschaft dokumentieren wollen. Und die Säuglingsfotografie, für die Jan Siebert in seinem Fensterbrett zwischen Dekokissen, Konfettimaschine und Softbällen auch ein hübsches Körbchen bereithält. Wobei er sich da auch manchmal wundert, wie viel die jungen Eltern den Babys abverlangen. Manchmal müsse er Eltern regelrecht darauf hinweisen, dass der Säugling, der da acht Tage alt im Körbchen liegt, eben nun mal 22 Stunden am Tag schlafen will und zum Fotoshooting die Augen wirklich nicht öffnen mag.

  2,08 betrug die Geburtenziffer im Jahr 1952 in der Bundesrepublik und 2,4 in der DDR (1952 war das erste Jahr nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, in dem beide Zahlen erfasst wurden). Heute liegt die Zahl bei 1,59. Doch nicht nur die Anzahl der Menschen, die unter einem Dach zusammen wohnen, hat sich verändert, sondern auch, wie Eltern zu ihren Kindern stehen. Und Kinder zu ihren Eltern. Seit 2000 ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Gesetz verankert. Seit fast 30 Jahren gilt dazu die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen in Deutschland. Genauso lange wird darüber gestritten, ob auch Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollten. Der Blick auf das Kind ist wichtiger geworden. Auf den Säugling. Oder auf das Schulkind. Neben der Einschulung ist auch der Schulabschluss mittlerweile ein Termin, an dem aufwendiger gefeiert und fotografiert wird als je zuvor.

  Die größte Veränderung sieht Jan Siebert aber nicht im Look, auch nicht in den Anlässen, zu denen sich Familien fotografieren lassen – sondern in den Konstellationen auf den Bildern. Letztens standen ein Mann, dessen Frau, die Exfrau und deren Kind bei ihm im Studio. „Ich mag das, zu gucken, wie die alle zusammenhängen. Und ich mag es, wie normal das ist. Ich finde das ganz einfach bewundernswert, dass es manche Menschen schaffen, eine Familie zu bleiben, auch wenn sie kein Paar mehr sind. Genauso wie ich es großartig finde, gleichgeschlechtliche Paare jetzt nicht mehr nur bei freien Trauungen, sondern auch richtig im Standesamt fotografieren zu dürfen.“

  Seit dem 1. Oktober 2017 gilt der Schutz der Ehe auch für Homosexuelle in Deutschland. Ein wirklich langer Weg ist das gewesen: Noch 1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, Homosexualität unter Männern sei eine Straftat: Der homosexuelle Mann neige zu Promiskuität, „hemmungslosem Sexualbedürfnis“ und lehne Familienbindung ab. Erst 1969 wurde Paragraf 175 im Strafgesetzbuch erstmals geändert, 1994 ersatzlos gestrichen. Von da an dauerte es noch mal 23 Jahre, bis das Verfassungsgericht die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubte.

  Auf den Hochzeiten von gleichgeschlechtlichen Paaren kann Jan Siebert heute keine Unterschiede zu Hochzeiten von Heterosexuellen erkennen: „Der Ablauf ist bei allen gleich: Warten auf die Kussszene, Applaus und ab zu den Getränken.“ Das individuelle Zelebrieren der eigenen Liebe sei wichtiger geworden, beobachtet Siebert, der am Wochenende gerade im Sommer oft als mobiler Hochzeitsfotograf durchs Land tourt. „Es ist bunt! Und eigentlich gibt’s keine Regeln mehr“, sagt er, selbst verlobt und Vater einer vierjährigen Tochter.

  Nach 70 Jahren ist das, was Artikel 6 schützt, alles andere als für die Ewigkeit definiert. Die Bedürfnisse und rechtlichen Ansprüche von Frauen und Kindern haben an Bedeutung gewonnen, das Thema Gleichstellung ist größer und wichtiger geworden. Ein globalisierter Arbeitsmarkt und der demografische Wandel in einem Land, in dem seit 1972 die Geburten nicht mehr die Sterbezahlen erreichen, haben dazu geführt, dass Familienpolitik heute auch immer Arbeitsmarktpolitik ist – wie nicht zuletzt die Einführung des Elterngeldes 2007 und die Auswirkungen auf den Alltag von Familien zeigen.

  Das bemerkt man sogar bei Heidi-Foto. Das wichtigste Geschäft ist nicht mehr die Hochzeitssaison, sondern das Weihnachtsgeschäft, das bereits im September beginnt. „Sobald die Lebkuchen im Supermarkt auftauchen, rennen uns die Familien hier die Bude ein“, sagt Jan Siebert. Wobei sogar die kleinsten Kleinfamilien es im Grunde nur am Freitagnachmittag oder samstags schaffen, sich komplett im Studio zu versammeln: „Wenn’s Papa halt aus der Arbeit schafft.“ Oder Mama. Oder beide. Kinder haben Nachmittagskurse und volle Stundenpläne, freie Nachmittage unter der Woche gibt es in Familien immer seltener. „Schon okay aber auch“, sagt Jan Siebert dazu, „Wenn sie dann kommen, geben die meisten richtig Gas und versuchen das Shooting wirklich gut zu nutzen.“

  So wie Carsten, Eleonora und die Kinder an diesem Tag. Das Foto, das sie später nach Hause tragen werden, zeigt fünf Menschen, die sehr locker wirken und oder zumindest so, wie man eben aussieht, wenn man sich vor einer Fototapete gerne locker gibt.


VON VERA SCHROEDER, Mitarbeit: Vincent Suppé

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