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In Chile lockt die Konterrevolution von rechts

José Kast (rechts) präsentiert sich beim Wahlkampfabschluss in Santiago de Chile siegessicher.(Foto: REUTERS)

Es ist ein historischer Schritt nach vorn: Nach der Revolution von der Straße ist in Chile eine neue, progressive Verfassung in Arbeit. Doch mit José Antonio Kast könnte sich das Land für einen erzkonservativen Präsidenten entscheiden.

Von Viktor Coco, Santiago de Chile, und Roland Peters, Buenos Aires

In Chile liegt Zukunft in der Luft. Eine direkt gewählte Volksvertretung arbeitet eine neue Verfassung für das südamerikanische Land aus. Im Süden wollen die indigenen Mapuche mehr Unabhängigkeit erreichen. Und am heutigen Sonntag findet die erste Runde der Präsidentschaftswahl statt, wie sie Chile seit Jahrzehnten nicht gesehen hat: Der ehemalige linke Studentenführer Gabriel Boric will das Land sozialer machen, sein größter Widersacher ist der neoliberale und erzkonservative José Antonio Kast, der völlig andere Pläne hat. "Trau Dich", ist sein Wahlslogan.


Boric hatte vor zehn Jahren die Studentenbewegung und damit unter den 19 Millionen Einwohnern die Revolution mit losgetreten, die in der derzeit arbeitenden verfassungsgebenden Versammlung mündete. Geht es nach ihr, soll der künftige Präsident den Text dann in ihrem progressiven Geiste in Gesetze gießen. Boric hat schon angekündigt, dass er den Umbau zum Sozialstaat nach europäischen Vorbild will. Aber es ist nicht sicher, dass es dazu kommt. Der 35-Jährige führt die Umfragen gemeinsam mit Kast an, aller Voraussicht nach wird es zur Stichwahl zwischen den beiden kommen. Der 55-Jährige geht mit den Schlagwörtern Familie, Freiheit und Sicherheit auf Stimmenfang, einen Sozialstaat lehnt er ab. Er steht rechts vom derzeitigen konservativen Präsidenten Sebastián Piñera, der nicht antreten darf.


Solche Positionen stehen den gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten zwei Jahre komplett entgegen. In Chile manifestierte sich 2019 bei monatelangen Straßenschlachten mit der militarisierten Staatsgewalt eine Bewegung, die vor allem über Jahrzehnte aufgestaute Wut kanalisierte, genährt von ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, dem unterfinanzierten Bildungs- und Gesundheitssystem sowie düsteren Rentenaussichten. Sie entlud sich gegen die Uniformierten und eine Elite aus Politikern und Unternehmern, die sich in der Diktatur Augusto Pinochets etabliert hatte und gefühlt weiterhin alles kontrolliert. Die Politiker und Präsident Sebastián Piñera lenkten ein, ließen ein Referendum darüber abhalten, die Verfassung aus Pinochets Zeiten abzulösen. Eine überwältigende Mehrheit entschied, dass dies eine Volksvertretung ohne Politiker im Amt tun sollte.


Aber jede Bewegung hat einen Widerstand. Kast ist der Kandidat der Konterrevolution von rechts. Ein Teil davon hat sich wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl im Araucano Park der Hauptstadt Santiago de Chile versammelt. Sie sind in den vornehmen Stadtteil Las Condes gekommen, um José Antonio Kast zu unterstützen. Eine große Bühne ist aufgebaut, mehr als tausend Menschen sind da, Fahnen wehen im Wind. Manche von ihnen tragen "Make America Great Again"-Kappen. Warum Trump? "Weil er sich in seiner Politik auch von Gott leiten ließ", sagt der 50-jährige Luís Alberto Gutiérrez, mit Strohhut und Karohemd, der sich mit einer meterhohen Fahne für höhere Strafen bei Kindesmissbrauch engagiert. Er schätzt Kast, weil dieser traditionelle Familien fördern wolle und sich gegen eine "Indoktrinierung der Kinder" bei der sexuellen Aufklärung in der Schule stelle, wie er meint.


Kast hat selbst neun Kinder und steht für restriktive Positionen bei Abtreibung und Verhütung. Er gilt als so konservativ, dass ihn kürzlich ein YouTuber testete: Er sollte ein Kondom über eine Banane abrollen. Kast machte mit, es geht schließlich auch um die Stimmen junger Wähler, rollte das Präservativ aber nur halb ab und mahnte: "Das macht man nicht in der Öffentlichkeit!"


Weiche Worte, knallhartes Wahlprogramm

Der Jurist ist das jüngste Kind deutscher Einwanderer, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Bayern nach Chile kamen. Sein Bruder war Minister unter Pinochet, andere Familienmitglieder sollen damals Oppositionelle denunziert haben. Dem 55-Jährigen selbst wird ebenfalls fehlende Distanz zur Diktatur vorgeworfen - im günstigsten Fall. Es ist seine zweite Kandidatur nach 2017, als er dem Unternehmer Piñera unterlag. "Pinochet würde mich wählen", warb er damals für sich, fast 8 Prozent der Wähler gaben ihm ihre Stimme.


Ein solcher Satz weckt Erinnerungen an dunkelste Zeiten. Während der Militärdiktatur von 1973 bis 1990 verschwanden in Chile zigtausende Regimegegner, wurden gefoltert oder ermordet. Mehr als 200.000 Chilenen flohen ins Exil. Entsprechend verschrien ist Kast, der von politischen Analysten zwar immer wieder mit Bolsonaro oder Trump verglichen wird, sich aber als besonnener Erklärer präsentiert, nicht als Schreihals. Seine Pläne sind jedoch ähnlich: Illegale Einwanderung etwa will er mit einem Graben und Zäunen verhindern.


Die ultrakonservativen Kreise Chiles stören solche Vergleiche nicht, sie stehen ohnehin hinter Kast. Sie hatten auch den amtierenden Piñera in seinem Vorgehen gegen die Demonstranten 2019 als zu lasch kritisiert. Die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen verurteilten damals die gezielte Polizeigewalt.

Je näher die Wahl gerückt ist, desto mehr hat Kast knallharte Positionen seines Wahlprogramms relativiert, bemüht sich um einen sanfteren Diskurs, um Stimmen aus der Mitte zu gewinnen. Als er zuletzt im Fernsehen mit seiner ablehnenden Haltung zur gleichgeschlechtlichen Ehe konfrontiert wurde, antwortete er lächelnd, dass jeder Mensch frei sei. Und in der letzten Fernsehdebatte der Kandidaten behauptete er, keine neuen Kohlekraftwerke bauen lassen zu wollen - obwohl genau dies in seinem Wahlprogramm steht.


Wenige Tage vor dem Wahlkampfabschluss in Las Condes hatte Kast internationale Journalisten empfangen. "Wir sind die Option des gesunden Menschenverstandes", heißt es dort immer wieder. In Europa habe er sich mit Polens politischer Führung getroffen, außerdem mit dem rechten Matteo Salvini in Italien und der VOX-Partei in Spanien. Als er nach seiner Pinochet-Aussage gefragt wird, windet Kast sich. "Er hätte wohl nicht viele andere Optionen", sagt er. Ohnehin stellt er infrage, ob es in Chile eine Diktatur überhaupt gab. Schließlich habe Pinochet den Übergang in die Demokratie ermöglicht und dabei keine Oppositionellen eingesperrt, führt er aus; im Gegensatz zu den autoritären Regimen in Venezuela, Kuba und Nicaragua.


Konzepte aus der Vergangenheit

Die Straßenschlachten von 2019 wurden begleitet von Forderungen nach mehr Geld für das marode öffentliche Bildungs- und Gesundheitssystem, Folge der umfassenden Privatisierungen Pinochets und des schlanken Staates. Kast und seine Anhänger wollen den aber zumindest beibehalten. "Chile ist seit den 90er Jahren ein Land der freien Marktwirtschaft, hat sich aber zuletzt zunehmend zu einer sozialen Marktwirtschaft gewandt", findet die 30-jährige Vanessa Aravena, die sich mit ihrer Hündin Romi in eine Chile-Flagge eingewickelt hat. "Chile hat sich zurückentwickelt", kritisiert sie.

Kasts Vorschläge halten jedoch selbst wirtschaftsliberale Experten für unrealistisch: eine Senkung der Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte sowie eine Reduzierung der Unternehmenssteuer um 10 Prozentpunkte, basierend auf einem konstanten Wachstum von 5 bis 6 Prozent. Sämtliche Prognosen sehen niedriger aus, für kommendes Jahr etwa maximal 2 Prozent.


In einer ruhigen, knapp 30-minütigen Abschlussansprache fordert Kast "würdigen Wohnraum und Rente" und greift damit Slogans der sozialen Proteste auf. Doch gejubelt wird insbesondere beim Dank an die Polizisten und Soldaten des Landes. Er fordert mehr Personal, Budget- und Gehaltserhöhungen für die Uniformierten sowie bedingungslose Unterstützung. Mit der Armee will er den Süden des Landes von den indigenen Mapuche "zurückholen". Außerdem soll härter gegen Gewalt bei Demonstrationen vorgegangen werden. Aus dem Rat für Menschenrechte der Vereinten Nationen würde Kast austreten.


All das gefällt den Menschen in Las Condes, aber mit seinem Versprechen, gegen die Kriminalität im Alltag vorzugehen, punktet Kast im ganzen Land. "Das ist eine Sache der letzten fünf Jahre, das Niveau der Gewalt ist krass", sagt etwa Carlos Gutiérrez, der von brutalen Raubüberfällen im familiären Umfeld betroffen war. Er hat seine kleinen Kinder mitgebracht und wünscht sich von einem Präsidenten Kast vor allem "Ordnung für Chile", wie er sagt.


Wie wahrscheinlich ist es also, dass Kast tatsächlich in den Präsidentenpalast einzieht? In den vergangenen Wochen gaben bis zu 22 Prozent der Wähler an, sich noch nicht für einen Kandidaten entschieden zu haben. Doch sowohl Kast als auch sein linker Widersacher Boric liegen meilenweit von der nötigen absoluten Mehrheit entfernt, um im ersten Wahlgang zu gewinnen. Alles deutet auf eine Stichwahl zwischen den beiden am 19. Dezember hin. Die Würfel dafür fallen heute.


Quelle: ntv.de



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