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Ein Dutzend Eier weckte Kolumbiens Wut

Die Pandemie hat die gesellschaftlichen Probleme nochmals vergrößert. (Foto: AP)

Kaum ein Land weltweit ist so ungleich wie Kolumbien. Als die Menschen gegen eine unausgegorene Steuerreform auf die Straße gehen, reagiert die Regierung mit aller Härte. Dutzende sterben. Jetzt macht sie langsam Zugeständnisse. Warum?

Von Viktor Coco, Medellín, und Roland Peters, Buenos Aires

Es ist viel los am Platz der Wünsche. Heute probt ein Punk-Quartett unter freiem Himmel einen Song zu Ehren der Dutzenden Todesopfer der Demonstrationen der letzten Tage. In einer Debattierrunde proklamieren Studierende durch ein klappriges Megafon ihre Forderungen. Einige angrenzende Wände sind besprüht. "Weniger Bullen, mehr Ärzte" steht da. Zerbrochene Scheiben erinnern an Auseinandersetzungen Demonstrierender mit kolumbianischen Polizeikräften in vergangenen Nächten. Hunderte junge Menschen kommen derzeit täglich hierhin, zum "Parque de los Deseos" in Medellín.


In Kolumbien hat sich in den vergangenen Wochen eine breite Allianz verschiedener Interessengruppen gebildet, die Forderungen an die konservative Regierung stellen. Indigene fordern ihre Rechte ein, LKW- und Taxifahrer blockieren Hauptverkehrsadern des südamerikanischen Landes, weil sie Lohngarantien wollen. Dazu kommt die Wut der Jugend, die ihre Zukunft gefährdet sieht; wegen fehlender Jobchancen, hoher Bildungskosten und des mangelhaften Friedensprozesses der bewaffneten Konflikte.

Stein des Anstoßes für die Proteste in den Städten war eine übergriffige Steuerreform, die vor allem untere und mittlere Einkommensschichten betroffen hätte. Das Haushaltsdefizit hatte sich im Jahr 2020 auf fast zehn Prozent verdoppelt, die Regierung wollte mit den erhofften Einnahmen ihr Budgetloch schließen. Daraufhin gingen die Menschen auf die Straßen oder blockierten sie, die Steuerreform wurde abgeblasen, der Finanzminister nahm seinen Hut.


Inzwischen hat die Regierung weitere Zugeständnisse gemacht. Das Vertrauen in Präsident Iván Duque, der in weiten Teilen der Bevölkerung als Marionette des rechten Strippenziehers und Ex-Präsidenten Álvaro Uribe gilt, ist gering. Weil die Krise jedoch Duque unter Handlungsdruck setzt, gibt sie ihm auch eigenen politischen Spielraum. Die Frage ist, wie er ihn nutzt.

Unter den 50 Millionen Einwohnern gibt es unterhalb der Oberschicht wegen der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie immer weniger zu holen. Im März ging es rund 60 Prozent der kolumbianischen Haushalte schlechter als zu Beginn der Pandemie. In manchen Provinzen waren es sogar nahezu 80 Prozent. Mehr als 90 Prozent haben kein Geld für größere Anschaffungen. Ein Viertel kann nicht einmal alle seine Rechnungen bezahlen. Und in einem ebenso großen Anteil wird nur zweimal oder noch seltener pro Tag gegessen.

Der Protest sei so stark, weil die Menschen ihre Lebensgrundlage verloren haben oder gefährdet sehen, sagt Politikwissenschaftler Marco Romero von der kolumbianischen Nationaluniversität in einem Videogespräch: "Die Menschen demonstrieren, weil sie kein Geld haben und nicht mehr weiter wissen." In Kolumbien sind Einkommen so ungleich verteilt wie in nur wenigen anderen Ländern der Welt.


Erst wurde geschossen, dann geredet

Es sind laute Tage in Kolumbien, aber unter dem Baum im Parque de los Deseos pinseln Angela und Yaneli still ihre Protesttafeln. "Wir haben so lange geschwiegen, das grenzte fast an Ignoranz", steht auf einer davon. "Wir schreiben auf, was wir fühlen. Wir versuchen die ganze Wut auszudrücken", sagt Angela. "Ich bin 24 Jahre alt und kann nicht studieren, weil ich sonst nicht für meinen Lebensunterhalt arbeiten kann." Selbst dann reicht es meist nicht. "Heutzutage muss man sich fast entscheiden, ob man den Lohn für Miete, Nebenkosten oder Essen ausgibt", mischt sich die 18-jährige Yaneli mit erhobenem Zeigefinger ein.


Unter jungen Frauen ist ein Drittel arbeitslos. "Man stellt eher einen Venezolaner ohne Aufenthaltsgenehmigung für die Hälfte ein und muss so einem Kolumbianer die Lohnnebenkosten nicht zahlen", regt sich Yaneli auf. Knapp zwei Millionen Einwanderer kamen in den letzten Jahren aus dem Nachbarland Venezuela. Ob mit oder ohne Aufenthaltsberechtigung, die meisten von ihnen steigen auf der untersten Stufe in den Arbeitsmarkt ein. "Wir wollen wertgeschätzt, respektiert und wahrgenommen werden. Wir sind Kolumbiens Zukunft", sprudelt der Frust irgendwann aus Yaneli heraus.

Warum der Protest so andauernd ist, hat auch mit dem Unmut darüber zu tun, dass die Regierung den Menschen nicht ausreichend unter die Arme griff, als ihre Einnahmen in der Pandemie wegbrachen. Der Staat zahlte 30 Prozent des Mindestlohns. Viel zu wenig, um über die Runden zu kommen.


In den Städten, wo sich die Proteste konzentrieren, sehen fast alle das Land in einem schlechteren Zustand als zu Beginn der Pandemie. Zugleich sind die Erwartungen düster. In einem Jahr sind Präsidentschaftswahlen, und nur ein Drittel der kolumbianischen Haushalte glaubt, dass es bis dahin wirtschaftlich aufwärtsgehen könnte. Schon 2019 gab es Proteste gegen die soziale Situation im Land. Dann kamen die Pandemiefolgen hinzu.


Zynische Rechenspiele

Elitär anmutende Unwissenheit über die Lebensumstände der Bevölkerung hat die Wut mit angefacht. Präsident Duque schätzte etwa den Lohn eines Bäckers im vergangenen Jahr doppelt so hoch ein, als er wirklich ist. Während die Menschen irgendwie versuchten, ihren Alltag zu bewältigen, kaufte die Regierung 23 neue Fahrzeuge für den präsidialen Fuhrpark, wollte 14 Kampfjets für die Luftwaffe anschaffen und gab 1 Million Euro für Regierungsmarketing aus, während der Staatsapparat geschätzte 11 Milliarden Euro durch Korruption verschleuderte.

Kolumbianische Medien rechnen ab und an vor, wie viele Beatmungsgeräte oder Schulen man damit finanzieren könnte. Aber es ist die fehlende Lebensnähe, die eigentlich empörte. Im April hatte der Finanzminister den Preis für ein Dutzend Eier auf ein Drittel des tatsächlichen geschätzt und wurde damit an den Ladentheken des Landes zum zentralen Gesprächsthema. Wenige Tage nach dem Fehltritt begannen die Proteste; man könnte sagen, wegen eines Eierkartons.


Wegen der Steuerreform hat es sich Duque mit der Mittelschicht verscherzt. Fast nirgendwo rutschten in der Pandemie so viele Menschen aus diesem Status ab wie in Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens, wo nun die Proteste besonders groß sind. Beantwortet wurden sie zunächst kaum mit Verständnis, sondern mit scharfen Schüssen der Polizei. Dutzende Zivilisten starben. Zum Vorgehen mit harter Hand aufgefordert hatte Ex-Präsident Uribe.


Bewaffnete in Zivil schossen auf protestierende Jugendliche und Indigene, die sich ihnen massenhaft angeschlossen hatten. Der größte TV-Sender des Landes meldete offen diskriminierend "Bürger gegen Indigene", während Präsident Duque die Indigenen aufforderte, sich wieder in ihre Schutzgebiete zurückzuziehen. Sicher sind sie auch dort nicht unbedingt.


Politische Zeitenwende

Neben den gravierenden sozialen Problemen in den Städten finden auf dem Land noch immer tödliche Dramen statt. Über Tausend sogenannter sozialer Anführer wurden seit dem historischen Friedensvertrag mit der linken Farc-Guerilla 2016 ermordet, ein Fünftel davon Indigene. Dazu kommen Menschenrechtsverfechter oder Bauern, die sich für Koka-Ersatzprogramme einsetzen. Bewaffnete Gruppen verübten allein im Jahr 2020 rund hundert Massaker, also Gewaltexzesse mit mindestens drei Toten. Diese finden fast ausschließlich in ländlichen Regionen statt; dort, wo kriminelle Gruppen um Produktion und Transportrouten von Kokain konkurrieren.


Die Regierung packt diese Probleme nicht wirklich an, obwohl soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Wiederaufbau und der Frieden Hand in Hand gingen, sagt Politikwissenschaftler Romero, der mit einer Nichtregierungsorganisation bei der Umsetzung des Vertrages mit der Farc mitwirkt. "Wir haben eine junge Generation, die sich mehr mit der Frage beschäftigt, wie der Frieden Probleme lösen kann, nicht mehr der Krieg." Mit seiner autoritären Reaktion auf die Proteste habe Duque versucht, die Probleme der Gegenwart mit den Mitteln der Vergangenheit zu lösen.


Im Friedensvertrag enthalten sind auch Rezepte gegen die sozialen und infrastrukturellen Probleme der ländlichen Regionen, bessere Gesundheitsversorgung und Bildung. Die Regierung habe dies aber nicht umgesetzt. "Duque und seine Regierung sind die Opfer ihrer eigenen Überheblichkeit", resümiert Romero: "Sie glaubten, dass mit Sicherheitspolitik alle gesellschaftlichen Probleme lösbar seien." Daran seien Kolumbiens Regierungen aus Kriegszeiten gewöhnt, aber diesmal bezahle Duque politisch dafür teuer.


Die breiten Proteste, die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sowie der Wille aller demokratischen Kräfte, die von der Pandemie verschärfte soziale und wirtschaftliche Krise über Dialog zu lösen - all dies lässt Romero hoffen. Die Gesellschaft lehne die Regierung ab, weil sie auch das autoritäre Modell und die Gewalt als Allheilmittel sozialer Probleme ablehne. "Wir erleben einen demokratischen Frühling", ist er sicher.


Quelle: ntv.de



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