Mit digitalen Guides tritt die Art Düsseldorf nach ihrer Corona-Zwangspause hybrid auf - und scheut vor Provokationen nicht mehr zurück.
Der Sammler ist erst 24 Jahre alt und sucht deshalb nach Kunst im niedrigen Preissegment. Das kann man ihm auf der Art Düsseldorf allerdings nicht ansehen, denn dieser Sammler wird in Gestalt eines Smartphones über das Messegelände getragen: Er hat sich aus einer anderen Stadt zugeschaltet. Evgenia Sychinskaya ist seine Führerin, vor den Messetagen wurde sie zum „Art Guide" ausgebildet. Das Smartphone trägt sie auf einem motorisierten Handstativ, das auch ein ausgerissenes Roboterbein sein könnte. Es macht ihre Bewegungen geschmeidiger; zum Beispiel, wenn Sychinskaya um Skulpturen herumgeht, oder wenn sie noch näher an die pastose Farbe eines Gemäldes herantritt, als es sich die anwesenden Messebesucher trauen würden. Fünfzig solcher Führungen fanden allein am ersten Tag statt, fünfzehn Sprachen standen zur Auswahl, nicht alle wurden nachgefragt. Ob sich die Sammler, wie erhofft, auf anderen Kontinenten befinden, wird nicht erhoben.
Die neuartigen Führungen sind Teil des hybriden Konzepts, mit dem sich die Art Düsseldorf in ihrer ersten Ausgabe seit Pandemiebeginn - der vierten seit der Gründung 2017 - behaupten will, obendrein zu einer für sie ungewohnten Jahreszeit. Die Fördergelder von „Neustart Kultur" taten ihr Übriges, indem sie für sämtliche 90 teilnehmenden Galerien die Standmieten um 70 Prozent senkten. Somit können sich an diesem Wochenende wieder junge Sammler nach jungen Galerien erkundigen: Evgenia Sychinskaya geht auf Wunsch des Kunden zum Stand der Münchner Galerie Max Goelitz, die wie 27 andere Galerien zum ersten Mal teilnimmt. Goelitz hat als Hingucker hat er die Steininstallation „Standing Stones (Solar Symphony 8)" von Haroon Mirza und Mattia Bosco mitgebracht, die ihr audiovisuelles Eigenleben einem Solarpanel verdankt. Was auf den meisten Messen witzlos wäre, entfaltet in den von Tageslicht durchfluteten Hallen im Areal Böhler seine ganze Wirkung (194 000 Euro).
Überall auf dem Gelände kann man durch die Oberlichter den Himmel sehen. Zur Orientierung - es gibt keine Sektionen - sind alle Sichtachsen auf einen der fünf leuchtturmartigen Skulpturenbereiche ausgerichtet. Viele Positionen spielen mit räumlichen und ideellen Maßstäben. Deshalb werden die Guides des Öfteren aufgefordert, sich zum Vergleich doch bitte kurz wie ein menschliches Metermaß neben die Kunst zu stellen. Als ein Musterexemplar des Überdimensionierten oder schon als Parodie des Trends stellt der Franzose Lilian Bourgeat drei Meter hohe Gummistiefel vor den Stand der Zürcher Galerie Lange + Pult (60 000 Euro). Wie solche Signale den Menschen unbewusst lenken, verarbeitet derweil Bettina Pousttchi bei Buchmann aus Berlin. In ihrer grellroten Serie „Vertical Highways" (130 000 Euro) verläuft die Autobahn nicht nur senkrecht, sondern verbogenen Leitplanken verweigern eine gerade Linie. Bei Pousttchis „Directions" sind aus Stahl geschnittenen Pfeilmarkierungen gegeneinander verdreht. Noch länger grübeln Messebesucher über die Bedeutung der Neonpfeile von Alfredo Jaar, die bei der Berliner Galerie Thomas Schulte hängen und das Knäuel der Fluchtrouten nach Europa visualisieren.
2019 galt noch der Appell, die Stände nicht zu unruhig oder provokant zu gestalten. Das ist nach der Pandemie offenbar Geschichte. Persons Projects aus Berlin ist umringt von Besuchern, denn an der Außenwand werden mit Katarzyna Kozyras Videoarbeit „Il Castrato" falsche Genitalien, Filmblut und echte Aktionskunst zur Schau gestellt (20 000 Euro). Ähnlich einschneidend ist nur Marina Abramovićs Fotografie „Miracle 2", die bei Krinzinger aus Wien 170 000 Euro kostet. Die Sterblichkeit des Körpers wird von Abramović durch innere Organe, die auf dem nackten Schoß eines weiblichen Modells ausgebreitet sind, ausgestellt. Dass die Künstlerin schon 2014 vom damaligen Krieg in der Ukraine zu dieser Serie inspiriert wurde und dafür mit der ukrainischen „Vogue" zusammenarbeitete, weiß selbst der Mitarbeiter von Krinzinger erst, seit ein Guide am Stand vorbeikam, so gut sind die Fremdenführer informiert.
Derweil nähert sich die Belgierin Joëlle Dubois dem weiblichen Körper über Zeichnungen und Malereien, deren Humor bis ins Material trifft: Wenn auf Bildern ein Smartphone vorkommt, legt Dubois eine Lackschicht über die Acrylfarbe. Die Galeristin Sylvia Rehbein ist ein wenig missmutig, obwohl ihre Kölner Galerie am ersten Tag unter anderem Dubois' Zeichnungen für je 600 Euro verkauft hat. Im Vergleich zur Art Cologne gebe es zu wenige Besucher in Düsseldorf. Der Messeleiter Walter Gehlen würde erwidern, dass Rehbein längst nicht alle Gäste sehen kann, die sich an ihrem Stand umschauen. Tausend Anmeldungen verzeichnete der Online-Shop allein in der ersten halben Stunde. Einen Sammler hat seine Führung mit Guide so stark überzeugt, dass er am Wochenende persönlich anreist.