Die „Effektiven Altruisten“ sind von der Pandemie nicht überrascht worden. Sie wollen das Leben möglichst vieler möglichst umfassend verbessern. Wie optimiert man Hilfsbereitschaft im Weltmaßstab?
Die tödliche „Asiatische Krankheit" lässt folgende Wahl: Im ersten Szenario fordert sie mit Sicherheit vierhundert Opfer. Im zweiten Szenario drohen sechshundert Tote, aber nur mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln - mit Glück bleiben alle verschont. Die meisten Menschen wären hier zu pokern bereit. Ist die zweite Option also der ersten überlegen?
Sie sei es nicht, lautete der Befund dieses Experiments der Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky aus dem Jahr 1981. Je nach Formulierung änderte sich die Präferenz der Probanden. Sobald es um die „Rettung" von Leben ging, war die Risikofreude erloschen, obwohl beide Optionen im Ergebnis dieselben blieben.
Menschen sind eben inkonsequente Entscheider. Ihre Rationalität ist eine Illusion. Vielleicht wurde ein solch kühles Abwiegen von Leben, wie es sich hier als fehleranfällig erwies, gerade deshalb im politischen Diskurs zur Covid-19-Pandemie vermieden. Privat konnte es aber trotzdem nötig werden. Etwa wenn man nach Ansehen der Krisenbilder etwas Gutes tun wollte: lieber an die Organisation A oder an die Organisation B spenden?
Dauerhaft zehn Prozent des Einkommens spendenÜber die Frage, wo Wohltätigkeit den größten Nutzen entfaltet, machen sich Zeitgenossen Gedanken, die sich seit 2009 als „Effektive Altruisten" in Vereinen organisieren (F.A.Z. vom 29. Januar 2018). Derzeit verzeichnen EA-Vereine Spenden in Rekordhöhe. Das Bewusstsein für globale Ungleichheit ist bei vielen Menschen gewachsen, hinzu kommt, wie Luke Freeman gegenüber der F.A.Z. erläutert, dass einige dank Staatshilfe und gesunkener Freizeitausgaben sogar mehr Geld als zuvor für Spenden ausgeben können.
Freeman ist der Direktor von Giving What We Can (GWWC). Die knapp fünftausend Mitglieder, die aus 87 Ländern, verschiedensten Berufen und Einkommensklassen stammen, haben sich nicht bloß dazu verpflichtet, dauerhaft zehn Prozent ihres Einkommens zu spenden, also den sogenannten „Pledge" abgelegt, sondern wollen auch stets wissen, wie effektiv ihr Geld und ihr Altruismus denn gerade sind. GWWC erhebt regelmäßig, ob die Mitglieder ihrem Pledge treu bleiben und welche Organisationen sie sich aussuchen. In Einzelfällen, etwa als jemand an eine Kunstgalerie spenden wollte, war ein Machtwort nötig, aber im Grunde ist es den Mitgliedern freigestellt.
Eine Vorliebe für den spekulativen AnsatzSo zeigen sich verschiedene Präferenzen. Will man mit direkten Geldtransfers wenigen Menschen, aber diesen mit Sicherheit helfen? Die Organisation Give Directly hat die Pandemie zum Anlass genommen, ihre Geldtransfers in fünf afrikanische Länder auszubauen und um ein Programm für die Vereinigten Staaten zu ergänzen. 115.000 einkommensschwache amerikanische Haushalte haben im ersten halben Jahr der Pandemie bedingungslos Geld erhalten. Den Nutzen dieser Maßnahme bestätigen Forscher um den Wirtschaftsnobelpreisträger Abhijit Banerjee.
Oder möchte man lieber an ein Forschungsinstitut spenden und die Chance erhöhen - wie gering sie auch sein mag -, dass ein medizinischer Durchbruch sehr vielen Menschen zugutekommt? Obwohl beide Strategien als legitim angesehen werden, haben die Effektiven Altruisten eine besondere Vorliebe für letztere: den spekulativen Ansatz. Sie glauben, dass es aus Perspektive eines Wohltäters viele „tiefhängende Früchte" gebe, die von der Allgemeinheit vernachlässigt würden.
Es braucht mehr ForschungEntsprechend hatten Effektive Altruisten auch eine mögliche Pandemie schon lange in ihre Erwartungen einbezogen. Heute fühlen sie sich bestätigt in ihrer besonderen Aufmerksamkeit für Zukunftsszenarien, die mit geringer Wahrscheinlichkeit eintreten, deren Eintritt aber dann große Schäden anrichtet. Zwar lassen sich ihre Spekulationen nicht wie die Geldtransfers mit randomisierten Kontrollstudien testen und bewerten. Doch steht für sie ohnehin außer Frage, welche Intervention geboten ist: Es brauche mehr Forschung.
Pandemien sind trotz allem noch nicht ihre Hauptsorge. Der Philosoph Nick Bostrom, der in enger Verbindung zur EA-Gemeinschaft steht, warnt mit seiner „Verwundbare-Welt-Hypothese" davor, dass es in der Urne möglicher Erfindungen eine „schwarze Kugel" geben könnte. Zieht die Menschheit alle Kugeln heraus, dann früher oder später auch eine fatale Technologie, zum Beispiel im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI), nach deren Erfindung die Zivilisation „ihrer Zerstörung anheimfällt". Engagierte Forschung könne dieses existentielle Risiko verringern, verkündet Bostrom in seinem Büchlein mit dem Titel „Die verwundbare Welt. Eine Hypothese", das im vergangenen Jahr bei Suhrkamp erschienen ist. Wer dieses Ziel unterstütze, kämpfe mit seinem Geld - Bostroms Buch kostet 12 Euro - gegen das Ende der Menschheit an.
Neue Technologien als das aktuell größte RisikoAus ähnlichen Gründen sieht der Philosoph Toby Ord, ein Mitbegründer des Effektiven Altruismus, die Apokalypse heraufziehen. Wie Bostrom hält er neue Technologien aktuell für das größte Risiko, noch vor Klimawandel und Nuklearkrieg. Regierungen wie auch Individuen seien in der Pflicht, es einzudämmen. Die nächsten Schritte liegen für ihn auf der Hand, die Menschheit setze lediglich die falschen Prioritäten, erläutert er in einem 480 Seiten starken Buch, das Bloomsbury in London unlängst unter dem Titel „The Precipice. Existential Risk and the Future of Humanity" herausbrachte.
Hat die Weltgemeinschaft also einen blinden Fleck, was diese Gefahren und die damit verbundenen Möglichkeiten zur Einflussnahme angeht? Letztlich sind die EA-Philosophen nur Fachleute für Risiken, nicht für KI. In manchen Fällen mussten sie ihre Einschätzung, wie tief eine Frucht genau hängt, auch schon korrigieren. Die Berufsberatung „80.000 Hours" ermittelt, wo die achtzigtausend Arbeitsstunden eines Menschenlebens am effektivsten eingesetzt wären. Seit jeher hatte die Organisation junge Menschen dazu angehalten, in die Forschung zu gehen und sich der Kontrolle von Künstlicher Intelligenz kurzerhand selbst zu widmen - ganz im Sinn der neuen Bücher von Ord und Bostrom. Doch in den vergangenen Monaten revidierte „80.000 Hours" manche Standpunkte. Der Tipp, KI-Forscher zu werden, sei nicht für alle Menschen gleichermaßen praktikabel. Andere Forschungsfelder hätten ebenfalls ihre Berechtigung, schreiben sie. Und: Sie hätten in ihren Darstellungen überbewertet, wie effektiv die Arbeit bei einer EA-Organisation wie der ihren eigentlich ist. Selbst Effektive Altruisten sind in ihren kühlen Abwägungen also nicht gegen Wahrnehmungsverzerrungen gefeit.