Als Marcel Freitag* begreift, dass er nicht mehr lange leben würde, plant er seinen Tod. Seit zehn Jahren leidet er an Parkinson. Die Krankheit frisst sich durch seine Nerven, jedes Jahr wird das Zittern in seinem Körper stärker. Der Parkinson, das ist klar, würde ihm sukzessive die Kontrolle über seinen Körper nehmen. Umso wichtiger ist dem 59-Jährigen, zumindest in einer entscheidenden Frage die Kontrolle zu behalten: Wie soll sein Abschied vom Leben aussehen?
Drei Seiten Fließtext, linksbündig in Arial-Schrift, die Schlagworte gefettet: So schrieb Marcel Freitag am 24. Juni 2012 das auf, was man Patientenverfügung nennt. Der letzte Wille, wie Ärzte einen Menschen behandeln sollen, wenn er selbst es nicht mehr kommunizieren kann.
Akribisch schrieb Freitag auf, welche lebensverlängernden Maßnahmen er sich nicht wünscht. Künstliche Beatmung? Nein. Künstliche Ernährung? Nein. Nein. Nein. Nein. Kein Krankenhaus und schon gar keine Operation. Er wolle zu Hause sterben, bei seiner Familie, bei seinem Hund.
Am Schluss steht: "Meine Bevollmächtigte soll dafür Sorge tragen, dass mein Wille durchgesetzt wird!"
Marcel Freitags Bevollmächtigte ist seine Nichte, Christina Pfaff*. Sie war seine engste Vertraute, pflegte ihn über Jahre. Sie hat die Patientenverfügung unterschrieben, die Aufgabe angenommen, die ihr Onkel ihr auftrug.
Beim Gespräch in einem Café erzählt, Christina Pfaff, dass sie keinen Menschen kenne, der so selbstlos und großzügig war wie ihr Onkel. Er war Landwirt, die Natur und die Tiere seien sein Leben gewesen. Als Freitag an Parkinson erkrankte, war Pfaff noch ein Mädchen. Schon mit dreizehn Jahren habe sie ihm nach der Schule geholfen, den Stall der Kühe und Pferde sauber zu machen und die Heuballen vom Feld einzuholen. Sie konnte zusehen, wie im Laufe der Jahre seine Kräfte schwanden, wie er schon nach wenigen Minuten an der Ballenpresse eine Pause brauchte. Gegen Ende machte sie oft die ganze Arbeit auf dem Hof alleine, weil der Onkel zu schwach war, um aus dem Bett aufzustehen. "Irgendwann habe ich fast selbst gespürt, wie er seinen Lebenswillen verloren hat", sagt Pfaff. Freitag sei sein Leben lang selbstständig gewesen, niemals habe er jemandem zur Last fallen wollen. Bevor er seine Autonomie vollständig aufgeben müsse und ein Pflegefall werde, wolle er lieber sterben, so habe er es seiner Nichte immer wieder gesagt.
Pfaff zieht einen großen schwarzen Aktenordner aus ihrer Tasche: "Marcel: Krankheit und Patientenverfügung" steht darauf. Sie habe die Verfügung gemeinsam mit ihrem Onkel verfasst. Getippt habe sie, formuliert habe er. Sie haben sich zwar an den Vordrucken für Patientenverfügungen orientiert, die sie im Internet gefunden haben, sagt Pfaff, aber letztendlich alles frei formuliert. So, dachten sie, werde ihr Wille deutlicher. Die beiden ließen die Verfügung für 160 Euro von einem Notar beglaubigen. Alles schien geregelt.
Aber alles kam anders.
Als Marcel Freitag am 25. Juli 2019 starb, lag er schon vier Tagen auf der Intensivstation. Freitags Lunge war mehrmals abgesaugt worden, Sauerstoff erhielt er durch einen Schlauch in seinem Rachen, ihm war mehrmals eine Magensonde gelegt worden. Diese Eingriffe sind mit großen Schmerzen verbunden. Schmerzen, gegen die sich Freitag mit seiner Patientenverfügung absichern wollte.