Kommerz kontra Tradition: Am Sonntag erwartet die Leipziger viel Protest beim 1. FC Union. Die RB-Macher hat das noch nie gestört.
"Wo beginnt eigentlich Tradition, und wo hört sie auf?", fragt Perry Bräutigam. Der 51-Jährige steht wie eine lebende Skulptur für (Ost)Fußballtradition. Mit Vokuhila-Frisur, Schnauzbart und diesem herrlichen Vornanamen prägte er als Torhüter erfolgreiche Zeiten bei Carl Zeiss Jena und Hansa Rostock, war letzter Keeper der DDR-Nationalmannschaft und erlebte auch die Bundesliga. Inzwischen ist er Torwarttrainer bei RasenBallsport Leipzig - jenem Verein, dem fehlende Tradition und ausufernder Kommerz vorgeworfen wird. Doch vielleicht beginnt Tradition ja bereits da, wenn einer wie Bräutigam Anekdoten darüber erzählen kann, wie genau die Sturzgeburt des in der Retorte gezeugten Vereins überhaupt verlief?
Red-Bull-Scouts hatten für ihren Marketingcoup auch Ziele in Frankreich und England auf dem Zettel. Doch die Bedingungen in Leipzig waren einfach unschlagbar: ein leer stehendes WM-Stadion, die nächsten Bundesligastandorte Berlin, Wolfsburg und Nürnberg mit 200 Kilometern weit genug entfernt, sowie jede Menge schlafende Fußballtradition.
Von der Vereinsgründung am 19. Mai 2009 bis zum Trainingsstart am 2. Juli blieben nur ein paar Wochen. Der erste Trainingstag im Stadion am Bad - vom dort ansässigen SSV Markranstädt hatte RB die Oberligalizenz erworben - sei "turbulent" verlaufen, erinnert sich Bräutigam: "Auf dem Rasenplatz gab es einen Säureanschlag, so dass wir unter großem Medieninteresse auf dem Kunstrasen trainiert haben." Alles sei notdürftig zusammengetragen worden. Beim ersten Testspiel einige Tage später sei es kalt gewesen, es habe geregnet, die Spieler hatten nur eine Trainingsgarnitur zur Verfügung und froren erbärmlich. "Wie die Erfolgsgeschichte hier losgegangen ist, war schon abenteuerlich", sagt Bräutigam.
Der gebürtige Altenburger war vom ersten RB-Präsidenten Andreas Sadlo gefragt worden, ob er als "Identifikationsfigur" Teil des Projekts sein wolle. Noch am Tag des ersten Treffens sagte Bräutigam zu. "Die Namen Red Bull und Dietrich Mateschitz haben mich fasziniert. Alles, was Mateschitz plant, führt er sehr beharrlich durch und bringt das auch zu Ende. Das hat mir imponiert", sagt Bräutigam. Heute ist er neben Torhüter Benjamin Bellot - einziger gebürtiger Leipziger im Kader -, Scout Ronny Kujat und dem Fanbeauftragten Ingo Hertzsch einer der letzten "Gründungsväter". Viele andere mussten nach kurzer Zeit wieder gehen. Nach zwei verpassten Aufstiegen in die 3. Liga soll ein gewaltiger Druck im Klub geherrscht haben. Scheitern und Dietrich Mateschitz, das passt nicht zusammen.
Dann kam Ralf Rangnick. Er drückte im Juli 2012 auf den Reset-Knopf: "Es ist mir wurscht, was bisher war. Um 13 Uhr beginnt hier eine neue Zeitrechnung", sagte der machtbewusste Manager bei seiner Vorstellung. Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz persönlich hatte Rangnick dazu überredet, nach dessen burn-out-bedingter Auszeit wieder ins Fußballgeschäft einzusteigen. Mit einem Hubschrauber schwebte der Energy-Drink-Mogul in Rangnicks schwäbischer Heimat ein. Mateschitz' heftiges, aber nicht aufdringliches Werben schmeichelte Rangnick; die angebotenen Gestaltungsmöglichkeiten und die Machtfülle beeindruckten ihn. Seither arbeitet Rangnick mehr als je zuvor, ist Manager in Salzburg und Leipzig gleichzeitig. Dass RB Leipzig erste Priorität genießt, kann der Schwabe nur notdürftig kaschieren. Mehr noch als Trainer Alexander Zorniger drängt er darauf, möglichst schnell in der Bundesliga anzukommen. Der Durchmarsch von der vierten bis in die erste Liga wäre einmalig. In der zweiten ist RB schon angekommen, und spielt in dieser Saison auch gleich oben mit.
Rangnick ist bisweilen Kontrollfreak, trifft nicht nur sportliche, sondern auch administrative Entscheidungen am liebsten selbst. Um sich herum spann er jedoch ein dichtes Netz aus Vertrauten und Fachleuten, die er für geeignet genug hält, ihn zu unterstützen. "Ohne zu delegieren, geht es in dieser Konstellation nicht. Ich brauche das gute Gefühl, jetzt gerade in Leipzig zu sein und gleichzeitig zu wissen, dass die Dinge in Salzburg laufen", sagt Rangnick.
Der 56-Jährige installierte seinen langjährigen Mentor Helmut Gross als Berater und warb Frieder Schrof und Thomas Albeck als Leiter des Nachwuchsleistungszentrums vom VfB Stuttgart ab. Der einstige DFB-Funktionär Ulrich Wolter führt mit besten Kontakten zu Verbänden und Stadt die Geschäfte. Und seinen langjährigen Berater Oliver Mintzlaff machte er im Zuge der Lizenzquerelen im Frühjahr zum "Head of Global Soccer Commercial", wie das im Red-Bull-Sprech heißt, und neuen Vorstandsvorsitzenden von RB Leipzig. Offiziell sagen dürfen sie alle jedoch nichts. Außer Rangnick stehen für Interviews ausschließlich die sportlichen Akteure zur Verfügung. Durch diese nebulöse Kommunikationsstrategie bleibt das RB-Gebilde äußerst intransparent.
Am 15. Mai erteilte die Deutsche Fußball-Liga (DFL) dem vielerorts verfemten Verein die Eintrittskarte für das Fußballestablishment. Die Lizenzierungskommission lässt damit erstmals einen Klub mitspielen, der ausschließlich zu Marketingzwecken gegründet wurde. Die Auflagen und Bedingungen der DFL, die RB mit dem Vorsitzenden Mintzlaff, Geschäftsführer Wolter und Staranwalt Christoph Schickhardt heraushandelten, sind lächerlich. Der Verein musste sein Logo frisieren, besetzte die Gremien um, gründete einen Aufsichtsrat und verabschiedete eine neue Satzung, in der Selbstverständlichkeiten ergänzt wurden. In Aufsichts- und Ehrenrat sitzen nun neben einem Red-Bull-Angestellten je zwei "neutrale" Mitglieder - allesamt Rechtsanwälte, die Red Bull nahe stehen. Bis spätestens 15. Januar 2015 muss RB noch ein neues Mitgliederkonzept sowie eine neue Beitragsordnung vorlegen.
Leipzigs Vormarsch in die Bundesliga und der angestrebten Qualifikation für die Champions League steht also nichts mehr im Wege. Neben jeder Menge Geld und einem cleveren Management hat Red Bull bereits jetzt Vorteile gegenüber herkömmlichen Vereinen hierzulande. Die Zahnräder des weltweiten Fußballkonglomerats greifen immer besser ineinander. Neben Leipzig und Salzburg gehören dazu noch die Filialen in New York sowie Brasilien und Liefering (2. Liga Österreich). "Dadurch haben wir so viele Leistungsstufen, die wir potenziellen Spielern maßgeschneidert anbieten können. Das ist ein Privileg", sagt Rangnick. In der Transferphase im Sommer zeigte Rangnick auch, dass er gewillt ist, die Vorteile und Schlupflöcher zu nutzen, die dieses System bietet. Der Belgier Massimo Bruno wurde für einen hohen Millionenbetrag von RB Leipzig verpflichtet und umgehend an Red Bull Salzburg verliehen. Das ist nicht verboten, war aber wieder einmal geheimniskrämerisch nicht kommuniziert worden. Oder Marcel Sabitzer: Der Österreicher wurde von Rapid Wien an RB Leipzig transferiert und danach direkt nach Salzburg beordert. Der Umweg über Sachsen war nötig, weil Sabitzer nur eine Ausstiegsklausel für ausländische Vereine hatte.
Diese List von Rangnick passt ins Bild, das viele Gegner von dem Verein haben. Das Engagement von RB Leipzig führte den Fans überdeutlich vor Augen, wie einfach ihr Lieblingsspielzeug Fußball mit Geld zu manipulieren ist. Ihr Unmut gegen den Kommerzfußball bekam ein neues Ziel. Seither üben sich zahlreiche Ultragruppierungen in ganz Deutschland im RB-Bashing, boykottieren Spiele, organisieren Protestmärsche, beschimpfen RB auf Bannern und mit Sprechchören und verteilen Flugblätter gegen "Rattenball".
Trainer Alexander Zorniger sagt: "Fußball ist auf diesem Niveau nun einmal Geschäft. Jetzt hat sich hier im Osten Gott sei Dank jemand gefunden, der den Fußball in geregelte Bahnen lenkt und die Wirtschaftspower mitbringt. Wenn Red Bull das nicht gemacht hätte, wäre hier auch in den nächsten 15 Jahren kein Profifußball möglich gewesen." Der Großteil der fußballbegeisterten Leipziger sieht das ähnlich. Tenor: Was wäre denn die Alternative? Traditionsklub 1. FC Lok ist gerade in Liga fünf abgestiegen. Die BSG Chemie Leipzig dümpelt in der sechstklassigen Sachsenliga. Bei RB hingegen entwickelt sich inzwischen auch die Fanszene. Die 1900 Hardcore-RB-Fans, in 16 Fanklubs organisiert, sind bislang souverän und ironisch mit den zahlreichen Anfeindungen umgegangen. Auch die Zahl der Dauerkarteninhaber (7500) sowie derer, die zu Auswärtsspielen fahren, wächst. Zum Ende der vergangenen Saison kamen über 40 000 ins Stadion, in der 2. Liga kommen aktuell rund 25 000 Zuschauer.
Die Art, wie RB die Bundesliga entert, macht es den Leipzigern leicht, den Klub zu mögen. Das System Rangnick-Zorniger steht für kluge und perspektivisch angelegte Transferpolitik mit jungen, ballsicheren, schnellen Spielern. "Ich bin stolz", sagt Perry Bräutigam, "Bestandteil des Vereins zu sein. Wer kann schon von sich behaupten, von Anbeginn dabei gewesen zu sein, als ein neuer Verein mit solchen Ambitionen gegründet wurde?" In diesem Fall ist fehlende Tradition auch mal von Vorteil.