Der Schriftsteller Dogan Akhanli und der Filmregisseur Fatih Akin sprechen im Interview über den Film „The Cut", die Politik in der Türkei und wie die Straße Menschen zusammenbringt.
Von Uli Kreikebaum
Fatih Akin: Dogans Schriften waren Teil meiner Recherche. Künstler wie Dogan, Elif Shafak, der ermordete Hrant Dink und Orhan Pamuk, die alle über den Völkermord schrieben, haben mich zu dem Film motiviert. Weil sie wegen ihrer Gedanken angefeindet und bestraft wurden. Die vier sind für mich Helden, die einen Weg gegangen sind, der vermint ist, dafür bezahlt haben; und mir den Weg für „The Cut" geöffnet haben.
Dogan Akhanli: Vor einem Jahr in Hamburg. Ich habe eine Seminarreihe organisiert über die Frage, wie wir mit Massenmorden in der Geschichte umgehen. Welche Unterschiede und Verbindungen gibt es zwischen Holocaust und dem Genozid an den Armeniern? Plötzlich stand Fatih vor mir.
Akin: Ich hatte ein Interview mit Dogan gelesen, dort hatte er meinen Dokumentarfilm „Crossing the Bridge - The Sound of Istanbul" erwähnt. Ich wusste, dass er 2010 bei der Einreise in die Türkei festgenommen worden war und vorher jahrelang nicht einreisen durfte. Dass er dann meinen Film gesehen hat und ihn als Trost empfand, hat mir geschmeichelt.
Akhanli: Das glaube ich sicher. Und auch für den Prozess, der ja noch andauert und kafkaeske Züge trägt. Solange der Prozess, der im vergangenen Jahr neu aufgenommen wurde und jetzt immer wieder verschoben wird, nicht beendet ist, kann ich nicht in die Türkei einreisen, ohne verhaftet zu werden.
Akin: Ein bisschen ändert sich durch den Film mein Lebensstil für die nächsten zwei Jahre. Ich bin ein Mensch der Straße, ich gehe in Clubs und Cafés, mir gefällt das, weil die Straße alle zusammenbringt. Ich kann das jetzt vielleicht nicht mehr so unbekümmert. Nicht nur wegen einer Morddrohung, sondern auch, weil ich ständig diskutieren müsste. Vielleicht gibt es eine Form von ziviler Ablehnung. Aber diesen Preis bin ich bereit zu zahlen. Ich habe das mit meiner Familie vorher abgeklärt.
Akin: Es war eine Twitter-Meldung, die bei "Agos", der von Hrant Dink gegründeten armenisch-türkischen Zeitung, einging. Ich hatte der Zeitung das erste Interview zu „The Cut" gegeben. "Wir werden alles tun, dass der Film nicht in der Türkei erscheint. Wenn es sein muss, werden wir die weißen Mützen aufsetzen", heißt es in der Meldung. Die weißen Mützen sind eine Anspielung auf den Mörder von Dink, der eine weiße Mütze trug.
Akin: Nein. Das und auch die Zurückhaltung des Staates zeigt: Die türkische Gesellschaft ist bereit für so einen Film. Und ich bin sicher, dass er in der Türkei laufen wird. Die Drohmail hat dem Film viel Aufmerksamkeit verschafft.
Akhanli: Die Zurückhaltung des Staates hat mit dem Aufstand nach dem Mord an Dink zu tun. Nachdem ein Nationalist ihn umgebracht hatte, sind die Menschen auf die Straße gegangen, es wurde weltweit berichtet, es gibt inzwischen einen Gedenktag. Da hat sich gezeigt, dass die türkische Politik des Schweigens gescheitert ist. Fatihs Film ist jetzt eine Riesenchance: Er ist in der Türkei unglaublich populär. Wir brauchen einen transnationalen Gedächtnisraum. Dabei geht es auch um die Vertiefung der vorbildlichen deutschen Holocaust-Aufarbeitung und die Mitverantwortung der Deutschen am Genozid an den Armeniern. Fatih schafft mit seinem Film so einen Gedächtnisraum.
Akhanli: Weil Massenmord ein Phänomen ist, das nicht zu fassen ist. Es irritiert uns zu sehr, deswegen können Filme oder Bücher nur falsch sein. Der Kritiker, der bestimmte Bilder im Kopf hat, die er nicht findet im Film, kritisiert ihn hart. Das ist ein verantwortungsloser Umgang. Auch die Kritik, der Film sei unpolitisch: „The Cut" beginnt 1915 und endet 1923.
Wussten die Kritiker, dass der Film den Gründungsmythos der türkischen Republik infrage stellt?Akin: Ein Spielfilm muss nicht einen Völkermord erklären, das wollte ich nie. Das könnte ein Dokumentarfilm von zwölf Stunden. Ich will nur zur Diskussion anregen.
Akhanli: Ein Überlebender wird durch Gewalt zum Schweigen gebracht. Am Ende hat das Opfer wieder eine Stimme. Ein Opfer, das seit 100 Jahren keine Stimme hat. Das ist die politische Aussage. Was will man sonst von einem Werk erwarten?
Sie wollten auch mal einen Film über Hrant Dink machen, sind aber gescheitert.
Akin: Ich hatte das Drehbuch für einen bestimmten Schauspieler aus der Türkei geschrieben, der die Rolle aber nicht spielen wollte. Was ich respektiere. Ich will niemanden in Gefahr bringen. Alle anderen Schauspieler, die ich fragte, haben auch abgelehnt. Da wusste ich: Dafür ist die Gesellschaft noch nicht weit genug.
Akin: Es wäre zynisch, wenn ich über die richtige Zeit nachdenken würde. Natürlich funktionieren Komödien gut, wenn überall Krieg ist. Ich glaube aber, dass es die Konflikte im Nahen Osten heute auch deswegen gibt, weil die Geschichte nicht ausreichend aufgearbeitet wurde. Also, ganz im Gegenteil: Der Zeitpunkt ist günstig.
Akhanli: In Fatihs Film sieht man ein Konzentrationslager, in dem 1915 Armenier ermordet wurden. Heute bringen am gleichen Ort die IS-Terroristen Jesiden um.