Uli Kreikebaum

Journalist/Autor, Hoffnungsthal

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Artikel

Willemsens Fragen

Quo vadis, Journalismus?

Willemsens Fragen

Der Autor dieses Textes hat vor drei Jahren mit Roger Willemsen darüber gesprochen, was eine gute Frage ist. Willemsens Gedanken über die Kunst des Fragens, Haltung im Journalismus und darüber, was Talkshows mit „Fertigessen aus der Kühltruhe" zu tun haben, sind aktueller denn je.

Wenn Roger Willemsen Menschen interviewte, wollte er etwas erfahren, was er noch nicht wusste. (Das geht nicht jedem so.) Der Autor dieses Textes hat vor drei Jahren mit dem am 7. Februar an Krebs gestorbenen Publizisten darüber gesprochen, was eine gute Frage ist. Es ging in dem Gespräch darum, ob Journalisten noch die richtigen Fragen stellen, ob das Internet eine Gefahr für die klassischen Medien bedeutet oder eine Chance, weil sich in dem Meer an Meinungsmüll im Netz fast alle verlieren. Roger Willemsen nahm sich Zeit für das Gespräch, obwohl er seinerzeit, im November 2012, kaum Interviews gab und sich aus dem Fernsehen komplett zurückgezogen hatte. Er sagte mit seiner hellen, charmanten Stimme: „Ich finde ihr Thema interessant. Ich habe so viel Zeit, wie wir brauchen."

Seine Antworten sind aktuell - Autoren, die über die vermeintliche „Lügenpresse" schreiben, landen Bestseller, ein Gerücht im Netz kann gravierendere Folgen haben als ein Leitartikel.

Fragen, sagte Roger Willemsen, seien „nur dann gut, wenn sie präzise sind". Er habe das Gefühl, dass die Fragen im Durchschnitt stereotyper würden. „Die Frage: Wie haben ihre Angehörigen reagiert? Kann man einem Pleitier, einem zurückgetretenen Politiker und einem Menschen, der gerade erfahren hat, dass er Aids hat, stellen. Es ist eine grausame Frage, weil sie unpräzise ist", sagte er. „Aus dem Massenschicksal wird nicht dieses eine, unverwechselbare Schicksal rauspräpariert." Das wollte er immer: dieses eine Menschenleben begreifbar machen.

„Die Frage als Grundnahrungsmittel" zeichne sich durch Empathie aus. Er habe das Gefühl, dass die Fähigkeit, aus der Sicht des Gegenübers zu denken, schleichend verloren gehe. Das liege wohl auch am Konsum von zu vielen vorgefertigten Informationen, die er mit „Fertigessen aus der Kühltruhe" verglich. „Talkshows und Interviewsendungen präformieren häufig. Es gibt lange Vorgespräche, dann sagt der Moderator: Ich interessiere mich für die Antworten sechs, 19 und 44. Diese Fragen werden dann in der Sendung gestellt. Es fehlt die Gegenrecherche, um Fragen zu stellen, die mehr Widerstand hervorrufen. Kenntnisse zu haben, die das Gegenüber nicht hat, die es überraschen." Willemsen hatte diese Kenntnisse fast immer. Er hat sich immer akribisch vorbereitet - nur so konnte es gelingen, Machtmenschen wie den damaligen Focus-Chefredakteur Helmut Markwort in einem Fernsehinterview zu entlarven.

„Man hat immer das Gefühl, da wird nach Guantanamo gefragt und das wird behandelt wie eine folkloristische Petitesse. Ich wünschte mir, dass öfter jemand entschieden für oder gegen was ist."

Um Antworten zu erhalten, die über die üblichen Floskeln hinausgehen, brauchte er Wissen - und eine Haltung. „Bei Fragestellern im Fernsehen fehlt mir, dass irgendetwas von einer Überzeugung zumindest mal durchblitzt. Man hat immer das Gefühl, da wird nach Guantanamo gefragt und das wird behandelt wie eine folkloristische Petitesse. Ich wünschte mir, dass öfter jemand entschieden für oder gegen was ist."

Willemsen liebte das freie Wort. Vor unserem Gespräch sagte er, dass das Skript natürlich für mich frei verfügbar sei - er war strikt gegen die Autorisierung von Interviews.

Was es bedeute, frei fragen zu dürfen? „Es ist ein schlechtes Zeichen für ein System, wenn es Fragen nicht zulässt. Unser System lässt jede Frage zu. Das ist gut. Leider hat sich aber hierzulande eine Praxis des Nicht-Antwortens etabliert. Es ist ein Sport, dass in Antworten nichts Substanzielles gesagt wird. Oder Politiker wollen ihre Antworten komplett neu schreiben - wenn sie mal was gesagt haben. Ich habe vor allem bei Politikern erlebt, dass sie bis in die lächerlichste Form hinein Korrekturen vornehmen wollen." In dem Journalismus, der nur auf Promis, Teaser, Rankings und Angstmache setzt, sah Willemsen eine Gefahr. Jogi Löw über Schuhe, Cremes, den Arabischen Frühling, Afghanistan - das fand er lächerlich und traurig zugleich. Er erinnerte sich an die Pressekonferenz von Karlheinz Stockhausen, in der der Musiker den 11. September 2011 als „Kunstwerk des Teufels" bezeichnet hatte. „ Stockhausen hatte es gesagt, es ließ sich nicht mehr aus der Welt nehmen." Mit der BILD-Zeitung hat sich Roger Willemsen gern angelegt. 37 Prominente eine Frage an Angela Merkel stellen zu lassen, „das ist das langweiligste, was es gibt", sagte er. „Man müsste sie doch danach Fragen, wie sie mit ihren Entscheidungen unser Leben formt, oder?" Mit Plattitüden-Fragen à la BILD gebe man der Kanzlerin das Gefühl, den Menschen nichts schuldig zu sein.

Je mehr irrelevante Informationen verfügbar sind, desto wichtiger ist es, sie zu sortieren - darin sah Willemsen die Chance für den Journalismus. Aber er war skeptisch, ob die Zunft die Chance nutzen würde. „Warum jubeln alle Günter Wallraff so hoch? Es ist ein Zeichen für eine Mangelerscheinung. Der Journalismus erinnert sich an etwas, das er einmal war." Er erinnere sich nicht nicht „an die letzte investigative Geschichte, die zu einem Wandel in der Politik geführt hat".

Je skeptischer, desto besser? Sein Nein kam schnell und entschieden. „Am Ende hat Skeptizismus nichts mehr anzubieten. Ich halte etwas von Überzeugungen. Man kann als Journalist von bestimmten Grundstatuten des Humanen überzeugt sein. Die Mohammed-Karikaturen seien ein gutes Beispiel: Da wird etwas verteidigt, was einem wie ein Sakrament angeboten wird. Obwohl es Gefühle verletzt." Oder der Klimawandel: „Von 900 Wissenschaftlern, die sich mit dem menschgemachten Klimawandel beschäftigen, waren 900 der Meinung: es gibt ihn. 60 Prozent der Journalisten haben das bezweifelt. Ich hatte den Eindruck: Der Skeptizismus richtet sich plötzlich auf die Wissenschaft, aber nicht auf die Fakten."

Das Redaktionscredo „schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten", hielt Roger Willemsen für ein „nationales Phänomen". Er zitierte Goethe: „Die Deutschen werden schwer über allem und alles wird schwer über ihnen. Das überträgt sich heute in die Zeitungswelt." Es werde über „Krisen" geredet, die gar nicht fühlbar seien, wie die „Euro-Krise". Er erlebte das Krisengerede als deutsche Dauersinnkrise. Die vermeintliche Medienkrise sah er so nicht: „Dafür ist die Vielfalt zu groß. Und es gibt zu viele sehr gute Journalistinnen und Journalisten."

Die mediale Welt sei aber „sehr viel stärker als früher bestimmt von Nutzengedanken", sagte Willemsen. „Die Marktwerdung kann man in Interviews beobachten. Interviews mit Prominenten werden heute nur nach neuen Büchern und neuen Platten geführt und verengen sich darauf. Ich erinnere mich an Zeiten, als Leute ganz ohne Aufhänger und Begründung befragt wurden. Ganz ohne Gegenstand in eine Sendung kamen. Inzwischen ist das alles zweckfunktionalisiert. Vielen fehlt die Zeit zur Recherche. Aber die überregionalen Zeitungen haben dem etwas entgegenzusetzen."

Unbekannte Informationen und Ideen, gepaart mit Haltung und geschliffener Rhetorik hielt er für die wichtigsten Kriterien, um guten Journalismus zu machen. Jetzt, nach seinem Tod, kursiert im Netz einer seiner Aphorismen: „Es ist eine andere Welt, in der man zwischen Freizeit und Freiheit nicht unterscheiden kann, Gesellschaft sagt und Zielgruppe meint, von einem Konzept spricht und nicht einmal eine Idee besitzt, von einer Idee spricht und nicht mal einen Einfall hat."

Willemsen war so etwas wie ein optimistischer Kulturpessimist. Er glaubte, dass viele Menschen die Fähigkeit, gute Fragen zu stellen, verloren hätten. Dass es aber noch genug von ihnen gebe. Und, dass nur echtes Erkenntnisinteresse die Welt zu einem besseren Ort machen könnte. Er fragte sich: „Mit welchen Fragen und ehrlichen Antworten könnten wir Leben verdichten? Wo stehe ich wirklich? Wo war ich wirklich?" Er sagte: „Es geht mir nicht darum, nach Verhältnissen zu fragen, sondern nach der Erfahrbarkeit von Verhältnissen. Nicht nach Kollektiv zu fragen, sondern nach Individualität, und danach, was diese Individuen im Kollektiv leisten können."

In den letzten Jahren schrieb er mehr Antworten auf seine Fragen (in Büchern auf), als öffentlich zu fragen. Was Interviews betrifft, hatte er entschieden, „dass ich lange genug Hebamme für andere war und man irgendwann anfangen muss, Hebamme seiner selbst zu sein. Insofern werde ich nur noch selten interviewen. Jim Rakete hat mir mal gesagt: Na gehste wieder Steine melken? Und meinte das Interviewen. Ich will keine Steine mehr melken."

Seine private Lieblingsfrage war: Was ist das stärkere Gefühl, Liebe oder Liebeskummer? „Mit pawlow'scher Stereotypie sagen die meisten: Liebe." Für ihn war es selbstverständlich der Liebeskummer.

Letztlich, sagte er, sei es das Wichtigste, „einfach da zu sein und die Momente nicht zu versäumen". Er selbst hatte sich das Multitasking abgewöhnt. Beim Essen aß er, beim Fragen fragte er. „Jetzt telefoniere ich gerade mit Ihnen." Er hatte kein Handy und surfte selten im Internet.

Auf die Frage, welche Frage er sich am häufigsten stelle, antwortete Roger Willemsen im November 2012: „Wie lange noch? Damit meine ich die Welt. Ich bin an vielen Stellen der Erde dramatischen Veränderungen begegnet. Am Nordpol war ich bei drei Grad über Null. In Borneo wird der Regenwald so abgeholzt, dass wir absehen können, dass es ihn nicht mehr gibt. Wie lange noch, das betrifft natürlich auch mich."



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