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brand eins: Was denken Sie, Watson?

Einst war der von allen nur ehrfurchtsvoll Big Blue genannte Konzern die unanfechtbare Weltmacht der EDV. Jetzt will IBM zurück zu alter Größe und macht sich dafür – kleiner.


Es ist nicht nett, wie IT-Leute über ihre IBM-Großrechner alter Bauart reden: Legacy Systems nennen sie diese sogenannten Mainframes, „Hinterlassenschaften". Wer diesen vermeintlichen Elektroschrott heute noch braucht, gilt als jemand, der sich nicht getraut hat, sich aus dem fürsorglichen Klammergriff zu befreien, den IBM bereits lange vor Apple meisterhaft beherrschte.


Die Produktion von Hardware passt eigentlich auch schon lange nicht mehr in die Strategie des Konzerns, der als International Business Machines Corporation groß wurde und einst die IT-Weltmacht Nummer eins war. IBM versteht sich längst als Dienstleister und Softwareanbieter. Viele Banken, Versicherungen und Fluggesellschaften hängen allerdings an ihren Großrechnern. Jahr für Jahr geben sie immer noch Milliarden Euro für Ersatz aus, weil sie sonst ihre Software-Systeme ersetzen müssten. Deshalb hat ihr alter Hauslieferant kürzlich den Z14 auf den Markt gebracht, den leistungsstärksten Rechner seiner Art, datenschutzgerecht aufgerüstet mit neuester Verschlüsselungstechnik.


Den Kunden aufgemotzte Achtzigerjahre-Technik als modernes Produkt zu verkaufen ist für Virginia „Ginni" Rometty, die Vorstandsvorsitzende und Präsidentin des Konzerns, nicht die größte Herausforderung. Diese besteht vielmehr darin, ihren Aktionären einen Einnahmenrückgang nach dem anderen zu erklären, ohne ihren Job zu verlieren.

Die Chefin nimmt in Kauf, dass die Umsätze seit nun bereits 21 Quartalen sinken. Sie stößt einen unprofitablen Geschäftszweig nach dem anderen ab und kann so jedes Jahr Gewinn melden: 2016 waren es 11,9 Milliarden Dollar (2015: 13,2 Milliarden Dollar) bei einem Umsatz von 79,9 Milliarden Dollar (2015: 81,7 Milliarden Dollar), ein Viertel weniger als vor fünf Jahren. Das Kerngeschäft - Software, etwa für Datenanalyse, IT-Dienstleistungen, Beratung - wächst zwar zu langsam, um die Ausfälle zu kompensieren, und der Großrechner-Absatz sinkt, doch die Margen sind nach wie vor ordentlich.


Die Schrumpfkur soll der glanzlos gewordenen IBM helfen, wieder „Big Blue" zu werden - ein von Kunden und Anlegern gleichermaßen bewunderter Weltkonzern, an dem niemand vorbeikommt, wenn es um IT-Lösungen für die Wirtschaft geht. Standen einst die kobaltblauen Großrechner im Mittelpunkt der Konzernstrategie, dreht sich diese nun um einen virtuellen Schlauberger in der Cloud: Watson, die digitale Superintelligenz, die Quiz-Champions schlägt, Onkologen die Diagnose erleichtert, Mitarbeitern der Personalabteilungen beim Sichten von Lebensläufen hilft und Küchenchefs originelle Rezepte vorschlägt. Es ist eine Wette auf die Zukunft, ihr Ausgang ist offen.


Die Informationstechnik hat einen Reifegrad erreicht, der Anbieter und Anwender zwingt, über die künftige Rolle des Computers im Wirtschaftsleben nachzudenken. Die einen suchen neue Wachstumsfelder, weil Rechenleistung im Überfluss vorhanden ist; die anderen müssen überlegen, welche Tätigkeiten sie immer komplexeren Algorithmen anvertrauen wollen. Deshalb hat sich IBM schon mal auf eine sozialverträgliche Botschaft festgelegt: Die neue Hausmarke Watson stehe für eine IT, die Menschen nicht wegrationalisiere, sondern sie bei der Arbeit unterstützen soll. „Wir sprechen lieber von Augmented Intelligence als von künstlicher Intelligenz", sagt Niklaus Waser, Leiter des Watson IoT Centers in München, das die weltweiten IBM-Aktivitäten rund um das Internet der Dinge steuert.


Blendende Patentbilanz


Sich unaufhörlich neu zu erfinden ist eine gut hundertjährige Übung des Unternehmens. So jedenfalls stellt es der jüngste Geschäftsbericht dar. Tatsächlich investierte man schon immer viel Geld in Innovationen. Zum Beispiel genießt das Konzernlabor in Zürich-Rüschlikon seit drei Jahrzehnten Weltruhm, weil vier seiner Grundlagenforscher in zwei aufeinanderfolgenden Jahren den Nobelpreis für Physik gewannen. Virginia Rometty weist ihre Kritiker gern auf das US-amerikanische Patent-Ranking hin, um die Innovationskraft des Konzerns zu belegen: 8088 Anmeldungen brachte IBM voriges Jahr durch, mehr als Google, Intel und Microsoft zusammen. Bereits seit 1993, dem ersten Jahr unter dem Vorstandsvorsitzenden Louis Gerstner, hält sich das Unternehmen ununterbrochen auf Platz eins. Solche Statistik-Erfolge lassen jedoch keine Rückschlüsse darauf zu, ob IBM tatsächlich an den richtigen Zukunftsthemen arbeitet: Nokia etwa gab viel mehr Geld aus für Forschung und Entwicklung als Apple, saß auf einem Berg von Patenten - und ging doch am Erfolg des iPhones zugrunde.


Von der Addiermaschine zum Computer


Auch bei IBM sind die großen Veränderungen, die der Konzern durchlebt, keineswegs alle von strategischem Weitblick und Gespür für technische Trends geprägt. Das war schon bei den allerersten Computern so: Obwohl IBM den Weltmarkt für elektromechanische Rechenmaschinen beherrschte, erkannte der erfolg- und einfallsreiche Konzerngründer Thomas Watson senior nicht das Potenzial der „Elektronengehirne", die der Deutsche Konrad Zuse und seine Rivalen bei der US-amerikanischen Firma EMCC bereits in den Vierzigerjahren entwickelt hatten. Erst sein Sohn und Nachfolger Thomas Watson junior setzt in den Fünfzigern auf die neue Technik und schafft es, die altvertrauten Lochkarten der nun überholten mechanischen Hollerith-Addiermaschinen als branchenübliches Medium für die Dateneingabe am Großrechner durchzusetzen.


An den Lochkarten verdiente IBM schon immer prächtig - wie Jahrzehnte später die Druckerhersteller an ihren Tintenpatronen. Hatte der alte Watson noch alles darangesetzt, Wettbewerber am Drucken von Lochkarten zu hindern, unterwarf sich sein Sohn 1956 einer offiziellen Vereinbarung, auf monopolistisches Geschäftsgebaren zu verzichten. Gleichzeitig trieb er die Entwicklung neuer Geräte voran wie Datenspeicher, Eingabeterminals und Drucker. Seine Strategie bestand darin, seinen Kunden den gesamten IT-Bedarf aus einer Hand zu bieten. Unter seiner Führung entwickelte sich IBM zum marktbeherrschenden Anbieter.


In den Siebzigerjahren erreichte der Konzern eine Dominanz, die seinen Führungskräften Unverwundbarkeit suggerierte. Das US-amerikanische Justizministerium initiierte 1969 auf Betreiben von vier Konkurrenten eine Kartellklage gegen den Marktführer wegen angeblich wettbewerbswidrigen Verhaltens: Den Universalrechner System /360 gab es nur als Paket aus Hard- und Software. IBM reagierte auf den Antitrust-Prozess mit dem Aufschnüren der Produkt-Pakete. Das Verfahren ging dennoch weiter und wurde erst 1982 eingestellt.


 Zu groß, zu langsam, zu selbstgewiss


Als Leute wie der Apple-Mitgründer Stephan „Steve" Wozniak im Silicon Valley die ersten Kleincomputer zusammenlöteten, ließ der Vorstandsvorsitzende von IBM, Frank Cary, seinen Entwicklern zwar die Freiheit, selbst ein wenig an Kleinrechnern zu basteln, doch er nahm die Pioniere nicht ernst. Erst 1980 setzte eine Gruppe von internen Querdenkern die Idee durch, aus zugekauften Standardbauteilen den Tischcomputer IBM 5150 zu entwickeln. Im Sommer 1981 kam das Gerät unter dem Namen Personal Computer auf den Markt und verkaufte sich gut.


Die Mainframe-Fraktion belächelte die Neuerer allerdings noch lange: Ihr Denken war auf Rechenzentren fixiert, ihr Vertrieb auf Millionenaufträge. Der Personal Computer (PC) war für sie lediglich ein komfortableres Terminal für die Datenerfassung. Schließlich hieß die zuständige Konzernsparte Entry Systems Division, was in diesem Fall sowohl Einstei- ger als auch Eingabe bedeuten konnte. Niemand in der Chefetage erkannte die Revolution, die sich da anbahnte: Nun konnten technisch begabte Arbeitnehmer Programme wie Wordstar oder Visicalc nutzen und kleinere Aufgaben an der zentralen EDV vorbei lösen - oder sich Arbeit auf einer Diskette mit nach Hause nehmen.


Der wohl folgenreichste strategische Fehler unterlief Carys Nachfolger John Opel: Er unterschätzte das Ausmaß, in dem der Markteintritt eines so großen Konkurrenten wie IBM das Geschäft der kleinen Computer-Hersteller beflügelte. Neue Wettbewerber wie Compaq oder Dell klonten den PC nicht nur, sie bauten bald auch bessere, billigere Rechner und vermarkteten sie offensiv als IBM-kompatibel. Der Konzern wiederum versuchte, seinen eigenen PC über Fachhändler und sogar Warenhäuser an Kleingewerbetreibende und Privatleute zu verkaufen, war aber als klassischer Anbieter für Firmenkunden den Herausforderern des Geschäfts mit Endkunden unterlegen. Bei den Großabnehmern von IBM löste das neue Produkt unterdessen Grabenkämpfe aus: Die Datenverarbeitungs-Abteilung versuchte, ihre Machtposition und ihre großen Budgets zu verteidigen, während die mit der Leistung der IT notorisch unzufriedenen Fachabteilungen - das waren alle anderen - mehr Selbstbestimmung beim Computereinsatz verlangten.


Als strategisch überfordert erwies sich auch Opels Nachfolger John Akers. Er leitete den Konzern, als der Trend zur Dezentralisierung der IT Fahrt aufnahm. Allerorten wurden in den Büros Kabel verlegt, um die PCs mit einem Abteilungsserver zu vernetzen. Der war nichts anderes als ein besonders leistungsstarker PC. Selbst in großem Stil in die Produktion solcher billigen Server einzusteigen kam für IBM nicht infrage. Denn das hätte eine Schwächung des Geschäfts mit Großrechnern bedeutet.


So nutzten andere Unternehmen ihre Chance, und als Anfang der Neunzigerjahre der Umsatz mit Großrechnern zu sinken begann, verlor die IBM ihren Nimbus: Die scheinbar unanfechtbare Weltmacht der EDV macht 1992 den größten Verlust, den je ein US-Unternehmen in einem Geschäftsjahr bis dato verbucht hatte: knapp fünf Milliarden Dollar.

Anfang 1993 verlor der Aufsichtsrat die Geduld und engagierte einen Sanierer von außerhalb: Louis Gerstner, der zuvor unter anderem bei McKinsey und American Express gearbeitet hatte. Mangels Branchenerfahrung konnte der neue Chef zwar nicht mit einer Vision der IT von morgen aufwarten, wohl aber mit dem Wissen, wie man Verluste stoppt, um das Vertrauen der Börse wiederzugewinnen. Gerstner verkündete den Umbau des Hardware-Produzenten zum Dienstleister, der sein Geld mit Software, Systemintegration und dem Betreiben von Rechenzentren im Kundenauftrag verdienen sollte, entließ in großem Stil Angestellte, um später viele neue Mitarbeiter einzustellen.


Nicht mehr technische Innovation bestimmte von nun an die Marschrichtung, sondern kostenrechnerische Opportunität. Gerstner kaufte in den Folgejahren fünf große Software-Anbieter, darunter Lotus Development (Notes). Aus der traditionsreichen Produktion von Hardware-Bauteilen wie Festplatten stieg er hingegen aus. Komplette Computer - PCs, Server und Großrechner - hatte der Konzern aber noch im Programm, als der Sanierer den Chefsessel 2002 an Samuel Palmisano übergab, einen langjährigen IBMler. Der verkaufte die PC-Sparte 2004 an den chinesischen Newcomer Lenovo (siehe brandeins 11/2013 „In guten Händen"), unter Virginia Rometty folgte 2014 die Serversparte.


Silo-Denken

Die im Laufe der Neunzigerjahre aufkommende Start-up-Kultur machte innerhalb von IBM nie Schule. Zu sehr widersprach sie der konservativen Unternehmenskultur. Auch Gerstners Nachfolger Palmisano, gleich zu Beginn seiner Amtszeit konfrontiert mit den Folgen der geplatzten Dotcom-Blase, konnte mit eigenmächtigen Unternehmertypen wenig anfangen.


Als er 2002 die Consultingsparte von PricewaterhouseCoopers übernahm, sollten sich deren Mitarbeiter in die hauseigene Beratertruppe integrieren. Der Erfolg war durchwachsen. Gut fünf Jahre später verkündete der Vorstandsvorsitzende zwar die Strategie „One IBM", doch zum homogenen, ganzheitlich geführten Unternehmen wurde der Konzern dadurch nicht. Weiterhin gab es Silos - so nannte die Branche Unternehmensteile, deren Mitarbeiter strikt voneinander abgeschottet arbeiteten, statt je nach Bedarf gemischte Teams zu bilden.


Der für Silo-Kulturen typische Gruppenegoismus ist für Werner Krebs-Fleischmann „einer der größten Veränderungshemmer überhaupt". Der Berliner Berater kennt das Unternehmen gut. Er war 13 Jahre lang in dieser Funktion für die deutsche IBM tätig. Die Folgen der „Nahtoderfahrung" ein Vierteljahrhundert zuvor wirkten immer noch nach. 


Gerstner habe den Konzern wieder profitabel gemacht, indem er auf die Kennzahlen der einzelnen Silos geschaut habe. „Das Reporting muss stimmen", sagt Krebs-Fleischmann, „das steckt tief in den Genen." Die Fixierung auf Kosten versperre die Sicht auf den nicht bezifferbaren Nutzen einer Kooperation mit Kollegen aus anderen Silos. Die Mitarbeiter eines Unternehmens müssten aber an einem Strang ziehen: „Nicht Zahlenmanagement muss belohnt werden, sondern Vernetzung."


Wolkige Zukunft


Wenn alles wahr wird, was IBM vorhat, werden Massendaten aus dem Internet der Dinge künftig in der Cloud mit Algorithmen aus dem Big-Data-Werkzeugkasten analysiert - und zwar auf einem Großrechner, der im Unterschied zu seinen Ahnen riesige Datenmengen billig in Echtzeit verarbeiten kann. Protokolliert wird das alles in einer Blockchain, einem fälschungssicheren Onlineregister. Und die Berater müssen lernen, solche Projekte mit ihren Mandanten zu planen.


Bisher kann nicht einmal der künstlich intelligente Watson die Frage beantworten, mit welcher Strategie Virginia Rometty IBM am besten in die Zukunft führen sollte. Die Konzernchefin muss Milliarden in die großen Digitaltrends investieren und gleichzeitig Dividenden für die Aktionäre erwirtschaften. Doch das Neue bringt erst wenig Geld ein, und beim Alten beginnen die Einnahmen zu erodieren.


Auch bei den Erwartungen der Öffentlichkeit steckt IBM in einem Dilemma: „Man sieht sich schon im Zeitalter fliegender Autos und vollautomatisierter Fabriken", seufzt Carlo Velten, Vorstandsvorsitzender der unabhängigen IT-Beratung Crisp Research in Kassel, „da sind wir noch lange nicht." Das heißt für ihn: nicht in den kommenden fünf Jahren. Rometty, deren männliche Vorgänger in ihrem jetzigen Alter in den Ruhestand gingen, wäre dann 65.


Eine zentrale Rolle in Romettys Strategie spielt das Watson IoT Center. Das globale Hauptquartier für den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) im Internet der Dinge, angesiedelt in einem Büroturm im Münchner Norden, befindet sich noch mitten in der Aufbauphase. Sein Leiter, Niklaus Waser, stellt zwar ständig Fachkräfte ein, doch von den 1000 Experten, die laut Plan in drei Jahren hier arbeiten sollen, sind erst gut 300 an Bord.


Über Umsatzziele spricht Waser nicht, er nennt nur die offiziellen Zahlen zum Volumen der strategischen Investition. Sein Arbeitgeber habe in das Center, das auch Kunden wie BMW und BNP Paribas sowie Start-ups aus dem Umfeld der TU München offensteht, schon 200 Millionen Dollar gesteckt. Über fünf Jahre stehe ein Budget von drei Milliarden Dollar zur Verfügung.


Was kann Watson?


Nach Einschätzung von Carlo Velten hat IBM keine schlechten Chancen, im Umfeld von Watson eine wichtige Rolle im Markt zu spielen, wenn in zwei, drei Jahren die Lernphase zu Ende geht und kommerzielle Projekte beginnen, Gewinn abzuwerfen: „Die Kernprodukte sind exzellent, damit lassen sich gut branchenbezogene KI-Lösungen bauen." Allerdings seien Google, Facebook und Amazon AWS mit ihren Datenschätzen eine ernst zu nehmende Konkurrenz.


Laut Marktstudien, etwa der sehr detaillierten Prognose von Tractica, stehen die Umsätze mit KI-Lösungen bislang in keinem Verhältnis zu der öffentlichen Aufmerksamkeit, die das Thema genießt. Erst in den Jahren nach 2020 soll sich ein Multimilliardenmarkt entwickeln. Die Vermarktung der Marke Watson hingegen, die auf die IBM-Gründerfamilie anspielt, ist bereits in vollem Gang. Derlei „Vorankündigungen" haben eine lange Tradition bei Big Blue. „Man macht erst mal großes Brimborium", sagt Velten, „geleistet wird später." 

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