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Die Corona-Krise gefährdet Zukunftspläne in Südafrika

Fotos: Mzulungile Cabanga / Zizipho Titi

Zwei Studierende aus Kapstadt erzählen von knapper Versorgung und Arbeitslosigkeit.

„Seit der Krise muss ich mich entscheiden: Brauche ich dringender Essen oder mobile Daten?“, erzählt Mzulungile besorgt am Telefon. Ein Datenpaket für sein Handy kostet umgerechnet 1,45 Euro, der südafrikanische Student kauft damit ein Stück Normalität: Zwei Tage lang kann er damit die Emails und Kursmaterialien seiner Professor*innen erhalten. Gibt er das Geld dafür aus, fehlt es aber an anderer Stelle: Er könnte davon auch drei Packungen Toastbrot kaufen.

Mzulungiles Geschichte war bis vor Kurzem eine Erfolgsgeschichte, denn er hat sich hochgekämpft. Seit seiner Kindheit lebt der heute 32-Jährige im Kapstädter Township Khayelitsha. Es ist ein raues Umfeld. Viel Kriminalität, wenig Perspektiven. „Meine Kindheit war noch recht unbeschwert“, erzählt Mzulungile. „Richtig hart wurde es, als mein Vater auszog. Da war ich 15 Jahre alt.“ Ohne den Vater waren sie zu diesem Zeitpunkt schon zu fünft, denn seine Schwester hatte jung zwei Kinder bekommen. „Meine Mutter arbeitete als Haushälterin in reichen Familien. Von ihrem Gehalt konnte sie uns kaum ernähren“, erinnert er sich.

Es begann ein Teufelskreis. Mit 16 Jahren verfiel Mzulungile den Drogen, kurz darauf brach er die Schule ab, wurde kriminell. Die Mutter starb, als er 19 war. Die Familie versuchte, ihn auf den rechten Weg zurückzuholen – vergebens. „Eines Tages sagte mein Vater zu mir: ,Ich höre auf, mich zu sorgen. Ich warte nur noch auf deine Beerdigung‘“, erinnert sich Mzulungile. Es war der Tag, an dem er begann, sein Leben umzukrempeln.

Ihm gelang erst der Ausbruch, dann der Aufstieg: Er wandte sich von den Drogen ab und ersetzte Verbrechen mit ehrlicher Arbeit wie Reinigungsjobs. Dann gelang ihm mithilfe eines Förderprogramms sogar der Sprung an die Universität. Seit 2016 studiert er Politikwissenschaft und Psychologie – inzwischen mit der Promotion vor Augen. Stipendien übernehmen die Universitätsgebühren. Über Forschungsprojekte und Lebensmittelgutscheine des Stipendiums finanziert Mzulungile nicht nur seinen eigenen Lebensunterhalt, sondern unterstützt auch seine Familie. Mit der Pandemie und der seit dem 27. März geltenden Ausgangssperre in Südafrika veränderte sich alles. „Ich hatte gerade erst einen sehr guten Job in der Forschung gefunden. Wegen der Corona-Krise haben sie aber die Stelle gestrichen. Ich weiß nicht, wann sich für mich so eine Chance wieder ergibt“, berichtet Mzulungile. Zu den Karrieresorgen kommt der finanzielle Tiefschlag. Denn auch sein Bruder, mit dem er zusammenlebt, verlor wegen der Corona-Krise seinen Job in einer Strandbar. Den beiden bleiben nur noch Mzulungiles knappe Lebensmittelgutscheine. Ihrem Vater können sie kein Geld mehr schicken.

Die Maßnahmen gehören zu den radikalsten weltweit

Die Maßnahmen gegen das Coronavirus sind in kaum einem Land so radikal wie in Südafrika: Nur „essentielles“ Personal darf arbeiten, etwa im Gesundheitswesen oder der Lebensmittelindustrie. Alkohol, Zigaretten und Kleidung werden nicht mehr verkauft, weil sie nicht zur Grundversorgung zählen. Sogar Spaziergänge und Sport im Freien sind verboten.

Als Präsident Cyril Ramaphosa am 23. März die Ausgangssperre verkündete, zählten die Behörden erst 402 Infektionen. Aber die Sorge vor Fallzahlen wie in einigen europäischen Ländern war groß: Sie würden die finanziellen und medizinischen Kapazitäten des Landes gnadenlos überrollen. Hinzu kam, dass das Virus das Leben der vielen HIV- und Tuberkuloseinfizierten in Südafrika besonders gefährdet.

Laut Armutsforscher Rocco Zizzamia von der Universität Kapstadt trifft die Corona-Krise zwei Bevölkerungsgruppen besonders hart: Die Jungen und die Armen. „Nun verlieren viele Südafrikaner gleichzeitig ihren Job, ohne dass neue Jobs geschaffen werden“, erklärt er. „Gerade für junge Arbeitnehmer kann die Arbeitslosigkeit so zu einem chronischen Problem werden. Denn Unterbrechungen der ersten Arbeitserfahrungen senden negative Signale an zukünftige Arbeitgeber. Das ist der selbstverstärkende Effekt von Arbeitslosigkeit.“

Ein Großteil der Südafrikaner verfügt laut Zizzamia über keine Rücklagen, um solch eine finanzielle Krise abzufedern. Ganz im Gegenteil: „Die Menschen in der ärmeren Hälfte der Vermögensverteilung haben im Durchschnitt sogar Schulden. Viele leben von der Hand in den Mund.“ Ungeschönt zeigt sich die Armut in den Townships, in denen allein in Kapstadt deutlich mehr als eine Million Menschen leben. Dicht an dicht reihen sich hier die kleinen Häuser und Hütten. Manche sind massiv gebaut. In anderen Teilen türmen sich improvisierte Bauten aus dünnen Holz- oder Wellblechwänden sogar aufeinander. Viele Bewohner teilen sich öffentliche Toiletten und Wasserhähne. Anders als gewöhnliche Armenviertel sind Townships nicht „natürlich“ gewachsen. Im Rassenwahn stahl das Apartheidsregime Häuser und Land von Schwarzen und „Coloureds“ und vertrieb die Menschen in diese Viertel.

In der Corona-Krise nimmt die Not täglich zu, die Verzweiflung entlädt sich gewaltsam. Nach Gerüchten über eine ungerechte Verteilung von Lebensmittelpaketen zündeten Bewohner in mehreren Kapstädter Townships Autoreifen an und attackierten Polizisten mit Steinen.

Beide Schwestern verloren ihr Einkommen

Auch Zizipho lebt mit ihrer großen Schwester und deren zwei Kindern zusammen im Township Khayelitsha. Die 25-Jährige erzählt am Telefon gegenüber jetzt stolz, dass sie eine Ausbildung zur mechanischen Ingenieurin macht: „Ich werde als Frau in einem vermeintlichen Männerberuf arbeiten. Damit trage ich zum Kampf gegen Geschlechterungleichheit bei!“ Wann sie wieder Motorteile in den Händen halten kann, ist derweil noch nicht klar. Denn Unterricht findet momentan nicht mehr statt.

Zizipho verdient mit ihrer Ausbildung kein Geld. Bis zur Ausgangssperre verkaufte sie deshalb nebenbei kleine Drahtelefanten und andere Tiere, die sie mit bunten Perlen verzierte. Ihre Schwester frisierte von zu Hause aus Haare. Beide verloren ihr Einkommen und stehen nun finanziell vor dem Nichts.

„Momentan hilft uns unsere älteste Schwester noch, aber bald werden auch ihre Ersparnisse zu Ende gehen“, sorgt sich Zizipho. „Meine elfjährige Nichte bei uns im Haus sitzt im Rollstuhl. Was sollen wir machen, wenn wir ihre Windel nicht mehr bezahlen können? Oder wenn es ihr schlechter geht? Das lokale Krankenhaus behandelt nur noch Menschen mit Covid-19-Syptomen. Zu Fuß schaffen wir es nicht zum großen Krankenhaus. Minibusse fahren aber auch keine während der Ausgangssperre.“

Mit den Schulschließungen entfällt auch für viele das Mittagessen

Wie Ziziphos Hochschule bleiben auch alle anderen Schulen momentan geschlossen. Darunter leidet nicht nur der Bildungsauftrag. „Das ‚Schulernährungsprogramm‘ versorgt etwa neun Millionen Schüler unter der Woche mit Mittagessen“, erklärt Zizzamia. „Das müssen die Eltern nun ausgleichen. Die täglichen zusätzlichen Ausgaben verstärken die Armut in vielen Haushalten dramatisch.“

In einem offenen Brief an die Ministerin für Grundbildung Angie Motshekga forderten zuletzt verschiedene Kinderschutzorganisationen die Fortführung des „Schulernährungsprogramms“. Kritiker entgegneten, dass die Wiedereröffnung des Programms die Infektionsrate erhöhen könnte. Und dennoch: Mehrere Initiativen organisieren inzwischen Mittagessen für die Schüler. So auch in Ziziphos Nachbarschaft.

Die Township-Bewohner können nicht zu Hause bleiben

In den wohlhabenderen Bezirken gleicht Kapstadt während der Ausgangssperre einer Geisterstadt. Vor den Supermärkten ein paar parkende Autos. Hier und da ein Fußgänger mit Einkaufstüten in der Hand. Ampeln sind zu einer rein dekorativen Lichterinstallation verkommen. Nicht so im Township, das erzählen Mzulungile und Zizipho. „Besonders die vielen Arbeitslosen hier überleben nur durch kleine Jobs und die Kontakte auf der Straße“, erklärt Mzulungile. „Niemand erreicht hier jemals den Punkt, bei dem er alles zum Überleben Nötige horten kann und im Haus bleiben kann. Dafür reicht das Geld einfach nicht.“

Nötig und doch unerschwinglich ist für Zizipho ein verlässlicher Internetzugang mit ausreichendem Datenvolumen. Der Frust verleiht ihren Worten Nachdruck, wenn sie spricht: „Die Lehrer erwarten von uns, die Hausaufgaben digital einzureichen. Ich kann nicht einmal unsere Aufgaben aufrufen. Vielleicht falle ich deshalb in diesem Jahr durch.“ Dann aber, meist wenn sie von der Familie erzählt, nimmt die Sorge ihr die Worte. Oft stockt sie. Sie sagt: „Meine Eltern sind alt und krank. Ich möchte meine Ausbildung dazu nutzen, um die Situation meiner Familie zu verbessern. Jetzt wird es mich mehr Zeit kosten, einen Job zu finden.“

Vor der Corona-Krise lag die Arbeitslosenquote bei den unter 35-Jährigen bei 40 Prozent. Die genauen Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt sind noch nicht abschätzbar. Die prognostizierten Arbeitsplatzverluste reichen von mehreren Hunderttausend bis zu 1,6 Millionen. Der Blick in seine Zukunft macht auch Mzulungile Angst. Das Virus werde unsere Welt verändern. Ob er sein Studium wie geplant abschließen könne, sei noch unklar. Und danach? Er frage sich oft, was sein Uni-Abschluss dann auf dem Arbeitsmarkt wert sein werde. Keiner weiß es.

Nach seinen Zukunftsträumen gefragt, antwortet Mzulungile: „Ich darf nicht an mich denken. Ich muss meine Familie unterstützen“, und ergänzt: „Das sollte mein letztes Semester sein. Ich bin 32 Jahre alt. Ich habe keine Zeit mehr. Ich muss anfangen, Geld zu verdienen.“ Selbstverwirklichung? Offenbar ein Erste-Welt-Privileg.

Die südafrikanische Ausgangssperre wird noch mindestens bis zum 30. April dauern, die Wirtschaftskrise noch viel länger. Mzulungile und Zizipho zahlen einen hohen Preis für den Kampf gegen das Virus. Dennoch teilt Mzulungile selbstlos eines seiner wichtigsten Güter: sein mobiles Internet. Die Fotos zu dieser Geschichte stammen alle von ihm, er hat sie uns geschickt.


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