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Zivilcourage für Anfänger

Wie verhalte ich mich, wenn ich einen Verletzten finde? Das ist nur eine der Fragen, die die Viertklässler durchspielen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Ismaninger Viertklässler lernen in einem Sozialtraining, wie sie Opfern von Gewalt helfen können, ohne sich selbst dabei in Gefahr zu bringen.

Beleidigt, bedroht, bewegungslos. Der Viertklässler liegt zusammengekrümmt auf dem kalten Boden. Er kann sich nicht selbst helfen. Die anderen drei Jungen sind zu mächtig, zu stark.

"Gib dein Handy her! Gib uns sofort dein Handy!" Sie bedrängen, sie schubsen ihn. Der Grundschüler ist den Tränen nahe, die Situation für ihn ausweglos. Aber von Hilfe weit und breit keine Spur. 

Solche Szenen spielen sich tagtäglich an deutschen Schulen ab. Doch sie sind nicht nur an Schulen präsent: Tuğçe Albayrak und Dominik Brunner gingen in Offenbach und Solln dazwischen, bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben und wurden zu Gesichtern für Zivilcourage - und eben jener Fall aus Solln hat auch Sozialarbeiterin Marianne Schütte sehr berührt. Die Jugendsozialarbeiterin, seit 2009 an der Grundschule an Camerloherstraße in Ismaning tätig, bietet ein mehrteiliges Sozialtraining zum Thema Zivilcourage für die vierten Klassen an. Titel: "Weggeschaut ist mitgemacht". Niemand soll sich selbst in Gefahr bringen

Allerdings steht in Schüttes Sozialtraining folgende Grundregel immer an erster Stelle: Sich selbst schützen und Möglichkeiten sehen, Gewalt zu beenden, ohne sich dabei selbst in Gefahr zu bringen. Auch bei ihr gibt es eine Übung, in der ein Kind von anderen Kindern bedrängt wird. Ihre Schüler müssen aus den nachgestellten Szenarien lernen, wie sie zu handeln haben.

Wie muss man als Außenstehender agieren, wenn ein anderes Kind sich in einer solchen bedrohlichen Situation befindet? Dazwischen gehen oder doch um Hilfe bitten? Und was, wenn es sich um ältere Personen wie Jugendliche oder Erwachsene handelt, die Kinder bedrohen?

Eine Lösung, so schlägt es die Schulsozialarbeiterin vor, wäre es, den Tätern mit kraftvoller Stimme "Aufhören, aufhören!" entgegen zu rufen. Augenkontakt sollte aber vermieden werden. Denn das würde die Wut der Täter noch weiter forcieren. Ein Schüler, der in einer Szene die Rolle des Täters übernahm, war Sascha aus der Klasse 4a. Das lautstarke Reinrufen seiner couragierten Mitschüler, das habe ihn schon eingeschüchtert, sagt der Zehnjährige im Nachhinein.

Zumal er mit dem Wort Zivilcourage noch wenig anfangen konnte: "Zivil kannte ich, das steht für Bürger, aber Courage, das kannte ich noch nicht. Zivilcourage heißt Bürgermut. Das habe ich heute verstanden."

Das Handeln der Kinder nach der Übung entsprach jedenfalls den Erwartungen der Sozialarbeiterin. Zusätzlich bereitete sie drei weitere Szenarien vor: Was tun, wenn ein Kind mit dem Roller stürzt, vom Klettergerüst fällt und wie geht erste Hilfe? Allerdings ist es nur ein Bruchteil dessen, was an der Schule an Gewaltpräventionsarbeit angeboten wird. Schütte orientiert sich an dem "Aufgschaut"-Programm. Hierbei handelt es sich um ein Projekt zur Gewaltprävention, das vom Polizeipräsidium München in Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilians-Universität entwickelt wurde.

Prügelei als Rollenspiel: Zwei Buben kommen einem anderen zu Hilfe, der Opfer von Gewalt wird.

(Foto: Alessandra Schellnegger) Der Begriff "Zivilcourage" war einigen Schülern fremd

Die Jugendsozialarbeiterin besuchte hierzu eine Fortbildung. Doch an der Schule erstaunte es sie ein wenig, als sie den Begriff "Zivilcourage" vorstellte und die Kinder nur sehr wenig damit anfangen konnten, teilweise noch nie davon gehört hatten.

Ihr Ziel sei es daher, den Kindern zu zeigen, dass Zivilcourage "nicht immer so groß gedacht" werden und viel schneller ins Alltägliche miteingebaut werden müsse. Dass Sascha und seine Mitschüler erst in der vierten Klasse mit praxisnahen Übungen vertraut gemacht werden, sei zum einen entwicklungspsychologisch bedingt, denn in diesem Alter nehmen die Kinder ihr Umfeld bereits genauer wahr, zum anderen würden sie auch auf der weiterführenden Schule mehr auf sich alleine gestellt werden.

Und dass selbst Kinder zu Zivilcourage angeleitet werden, sollte bei den Erwachsenen ein Schamgefühl bewirken, so Claudia Auer-Kiehlbrei. Als kommissarische Schulleiterin sei ihr das Thema insofern wichtig, als ihre Sozialarbeiter festgestellt hätten, dass die Kinder "mehr aufeinander schauen" und "weniger Ego haben" sollten. Inzwischen gibt es an der Ismaninger Grundschule ein Streitschlichter-Programm. Dafür wurde die Schule 2011 mit einem Jugendsozialpreis ausgezeichnet.

Wie die Gewaltpräventionsarbeit sich nachhaltig bemerkbar macht, sieht man an den positiven Rückmeldungen von Kollegen der weiterführenden Schulen, so die Sozialarbeiterin Schütte. Inzwischen böten im Landkreis die meisten Grundschulen Gewaltpräventionsprojekte an. Aufklärung, die sich lohnt. Denn eines fällt während den Übungen auf: Die meisten Schüler merken erst beim Erzählen, dass sie schon öfters Hilfe geleistet haben als sie bisher glaubten.

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