Es ist dunkel im Saal. Außer den gedimmten Lichtern der Bühnenanlage leuchten hier nur noch die Smartphones, die allesamt auf die Bühne gerichtet sind. "Seit ihr bereit für meinen Bruder?", will der Ansager wissen. Euphorie macht sich breit. Rapper Haftbefehl spaziert langsamen Schrittes auf die Bühne: "Jetzt macht mal alle Lärm hier, Alda!" Der selbst ernannte "Babo" oder Boss sorgt für Unterhaltung.
Den Saal in der Szene Wien haben die Veranstalter heute nicht ganz voll bekommen, die Stimmung ist trotzdem gut. Die Anwesenden sind Fans oder einfach nur neugierig auf den Offenbacher Rapper, dessen Bild man immer öfter in den Medien sieht. Er interessiert. Vielleicht steht Haftbefehl auch für eine wirkungsreiche Veränderung in der Hip-Hop-Szene. Auf dem Feld des deutschsprachigen Gangsta-Rap, eines besonders polarisierenden Subgenres, wirkt er gewissermaßen konkurrenzlos.
Authentischer als die anderenDas Publikum ist breit gestreut: Neben jüngeren Schülern gesellen sich viele Studenten, eingeschworene Hip-Hop-Fans und Hipster dazu, viele auch aus Deutschland, wo er am populärsten ist. Und warum Haftbefehl? "Ich finde ihn authentischer als Bushido", meint Ömer. Er ist 25 und studiert am Prayner-Konservatorium Operngesang. An diesem Abend möchte er seinen Kopf frei bekommen - seine Zeit an der Uni ist ihm oftmals zu eintönig. Ein paar Schritte weiter stehen die Schülerinnen Tina und Jovana. "Ich mag seine Beats und die Texte", findet eine von ihnen. "Sein Rapstil ist gut durchdacht", bekundet die andere.
MedienhypeVon Journalisten wird er für sein Spiel mit der Sprache gelobt. "Türkisch, Arabisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, alles wird verwurstet und haftiisiert, das heißt in den Mahlstrom einer genial nuschelnden Abkürzungsrhetorik eingespeist", konstatierte die "Frankfurter Allgemeine" und verlieh ihm den Titel "Volksmusiker des kleinen Mannes". Auch die "tageszeitung" widmete ihm besondere Beachtung: "In diesem hessischen Lokalkolorit entwirft Haftbefehl ein popkulturelles Verweissystem aus Mafia- und Kampfsportfilmen." Namhafte Adressen, die sich sonst zu Rap eher kritisch äußern, sind dem 27-jährigen Deutschen kurdischer Prägung freundlich gesinnt. Der "Spiegel" ging noch einen Schritt weiter und nannte ihn einen "Erneuerer der deutschen Sprache".
Zündstoff für das InternetOft genug wird er aber auch kritisiert, die Hörerschaft tut sich sichtlich schwer damit, ein eindeutiges Urteil abzugeben. Hinzu kommt sein eigenwilliges Verhalten in Bezug auf Nationalismus und Antisemitismus, das er stets zu relativieren wusste. In einem 2010 veröffentlichten Gratis-Track schildert Haftbefehl, wie er Kokain an "die Juden von der Börse" verkauft. Ein weiterer Kritikpunkt ist sein Song "Free Palestine". Heute behandle er keine politischen Themen mehr, ließ er vor kurzem in einem Interview wissen.
Im Internet schäumt ihm selbst oft Hass entgegen. Dort wird Haftbefehl zur Projektionsfläche für alles Böse: Parodien, Kommentare, Textanalysen. "Armes Deutschland", schlussfolgert ein anonymer User unter einem Haftbefehl-Video und bekommt dafür viel Beifall.
Euros für die FansIn Wien gibt es an diesem Abend viel Zuspruch: Das Finish steht an. Haftbefehl wirft ein paar bunte Euroscheine ins Publikum, lässt Zuschauer aus der Menge zu sich auf die Bühne holen. Er wirkt zufrieden. Die Zeiten haben sich für ihn geändert. Als sein Frankfurter Kokaingeschäft nicht aufgehen wollte und danach das von ihm geführte Wettbüro tiefrote Zahlen schrieb, hat er sich voll und ganz der Rapmusik gewidmet. Jetzt ist er finanziell abgesichert. Vorerst. Mit seinem jüngsten Album "Blockplatin" landete er auf Platz vier der deutschen Album-Charts. Zudem ist er prominente Werbefigur einer sich gut verkaufenden Streetwear-Marke und geht dieses Jahr 20-mal auf Tour in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Sozialer WiderspruchAb und zu wirkt Aykut Anhan, wie Haftbefehl mit bürgerlichem Namen heißt, aber noch düster. Dann kann man sich vorstellen, wie er wohl früher war. Zu seiner Offenbacher Jugendzeit, an einem Ort, an dem die sozialen Widersprüche nicht größer hätten sein können. Dort, wo wenige besonders Wohlhabende in unmittelbarer Nähe zu vielen Armen leben. Die dunkle Kulisse der steril wirkenden Bankenstadt, die der Habenichts von einst jetzt so authentisch verkörpert. (Toumaj Khakpour, daStandard.at, 24.5.2013)