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Mut zum Fünfeck

Moderne Lernlandschaft mit viel Tageslicht: die Regine-Hildebrandt-Gesamtschule in Birkenwerder - Foto: Fromme+Linsenhoff

Tong-Jin Smith

Einst waren Schulen steinerne Repräsentanten eines autoritären Bildungssystems, in denen man gleich am ersten Tag zu spüren bekam, dass man ab jetzt still sitzen und gehorchen sollte. Eskapaden, wie sie sich die Primaner in der „Feuerzangenbowle" erlaubten, waren selten, genau wie eine Pädagogik, die sich an den kindlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten orientierte. Erst die reformpädagogische Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts und die Folgen des Zweiten Weltkriegs führten zu einem schrittweisen Wandel - auch im Schulbau.

So stellte man sich nicht nur die Frage nach neuen Werten und einer neuen Erziehung, sondern auch nach einer neuen Architektur.

Beispielgebend war und ist die Grund- und Hauptschule, die Hans Scharoun - auch Architekt der Berliner Philharmonie - zwischen 1960 und 1964 für die Stadt Marl entwarf und mit der er seine Vorstellungen einer organischen Architektur umsetzte: Im Zentrum des Komplexes liegt als „Herz" die Aula. Daran angeschlossen sind fünf Klassenflügel mit wabenförmigen „Schulwohnungen", die je einen Unterrichtsraum, Toiletten, eine Garderobe, einen Gemeinschaftsraum und einen Freiluftbereich umfassen. Damit hat Scharoun ein pädagogisches Konzept architektonisch umgesetzt, das die Schüler in den Mittelpunkt stellt und für verschiedene Altersgruppen unterschiedliche Lernbedingungen vorsieht.

Damals war das ein neuer Gedanke. Heute herrscht unter Architekten, Pädagogen und Eltern Einigkeit, dass Schulen Lern- und Schutzräume für Kinder und Jugendliche sind und dass man vom Kind aus denken, sehen und fühlen muss. Im Idealfall reflektieren die Gebäude auch das pädagogische Konzept einer Schule und bieten inspirierende Lernlandschaften für kognitive, sensorische und soziale Erfahrungen in angstfreier Atmosphäre, wie es zum Beispiel an Waldorfschulen typisch ist.

Aber das ist nicht die Norm. Viel zu selten haben Architekten, Pädagogen und andere Akteure Gelegenheit, sich vor einem Schulneu- oder umbau auszutauschen und voneinander zu lernen. Genau das sei aber nötig, meint Schulbauarchitekt Wolf-Emanuel Linsenhoff. Denn im modernen Bildungsverständnis gilt der Raum neben den Lehrern und den Mitschülern als „dritter Pädagoge", der die Kinder nachhaltig ästhetisch prägt. Dabei wird kein Styling à la „Schöner Wohnen" benötigt. Es geht viel mehr um ein Gleichgewicht von Raum-, Gebrauchs- und emotionaler Qualität. Denn Bildungsräume sind Lebensräume und dienen unterschiedlichen Lernprozessen, emotionalen Erfahrungen sowie zur Entspannung und Inspiration.

„Lehrer schauen oft nach Skandinavien, um zu lernen, wie moderne Pädagogik aussehen kann", sagt Linsenhoff. Auch Architekten seien meist offen für Neues, nur mangele es an einer eigenständigen Auseinandersetzung mit den Anforderungen an den Raum in einer modernen Schulbaulandschaft. So berufen sich die meisten auf ihre eigene Schulzeit und übersehen dabei, dass die Zeiten des Frontalunterrichts vorbei sind und man heute auf Bildungskonzepte setzt, die über kooperatives Lernen Kreativität und Eigenständigkeit fördern.

„Besser wäre also, wenn sich Architekten wie Pädagogen mit den Erfordernissen eines modernen Unterrichts auseinandersetzen", so Linsenhoff. „Insbesondere die Anforderungen für die Sekundarstufen sollten gemeinsam mit den Pädagogen und Schülern analysiert werden. Dazu gehört auch, dass man als Architekt im Unterricht hospitiert und herausfindet, was man im Raum wahrnimmt und wie er wirkt - von der Akustik über Licht und Farben bis hin zu den Formen."

Linsenhoff zeichnet für Vorzeigebauten wie den Erweiterungsbau der Regine-Hildebrandt-Gesamtschule in Birkenwerder, die Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in Mühlenbeck oder die Nashorn-Grundschule in Vehlefanz verantwortlich. Er kritisiert, dass Schulbaurichtlinien, die sich an technischen Aspekten wie Sicherheit, Brandschutz und Bauphysik orientieren, traditionelle Grundrisse mit Rettungsfluren und gereihten Klassenzimmern fördern. „Es geht aber auch anders", sagt er. „So kann man zwei bis drei Klassen um einen hellen Lernflur gruppieren, der als Gruppen-, Lern- oder Kommunikationsraum genutzt werden kann. Und Klassenräume müssen nicht rechteckig sein, sie können auch fünf- oder sechseckig sein. Wir müssen nur den Mut und das Wissen haben, neu zu denken und zu bauen, um den Anforderungen modernen Lernens gerecht zu werden."

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