Wo heute Stürme über die Nordsee fegen, fand sich einst Land. Mammutknochen und Flintsteine zeugen von dieser Zeit. Auch aus späteren Epochen liegen am Meeresboden einzigartige Zeugnisse, die mit neuen Methoden erforscht werden. Aber die Zeit drängt.
Von Tomma Schröder | 02.10.2022
Fundstellen auf Zeit Rungholt soll sagenhaft reich gewesen sein Nach der "Groten Mandränke" gab es Rungholt nicht mehr
Den Legenden zufolge soll Rungholt märchenhaft reich gewesen sein; Dichter, Geschichtenschreiber und Sagenerzähler berichten davon. Dass es diese tatsächlich wohl gar nicht mal so arme Stadt wirklich gegeben hat, weiß man erst seit dem letzten Jahrhundert; und auch das nur aus sehr wenigen Dokumenten. Einer der wichtigsten Belege ist eine Urkunde, die Hamburger Kaufleuten Handelsfreiheit zusicherte und die am 19. Juli 1361 unterzeichnet wurde. Sechs Monate später war sie nutzlos. Nach der „Groten Mandränke", dem „Großen Ertrinken" am 15. Januar 1362 gab es kein Rungholt mehr. Seitdem sind die Stadt und ihre Überreste den Launen der Natur überlassen. Mal spült die Flut etwas frei, mal nimmt sie Fundstücke unbesehen mit sich fort.
Im Gegensatz zu Fundstätten an Land lassen sich in dem feuchten Boden des Meeres aber nicht nur Scherben, Steine und Ziegel finden, sondern auch organische Reste. Stefanie Klooß zieht an diesem Tag nicht nur 600 Jahre alte Reste eines Korbgeflechts aus dem Watt, sondern auch ein säuberlich vernähtes Stück Leder. „Das ist der Schuh. Hier sieht man Lederreste und hier. Das fällt aber schon auseinander. Aber ich denke, dass das hier ein Teil der Sohle ist. Ich pack das mal ein."
Was den Archäologen im Wattenmeer jedoch oft fehlte, ist die Sicht aufs große Ganze. Anders als an Land können sie nicht großflächig ausgraben, finden sich auf dem Boden keine Überreste von Gebäuden, Warften oder Deichen, weil das Meer längst alles weggeschwemmt hat.
Wenn man aber quasi von oben in den Meeresboden hineinschauen kann, dann muss man sich auch nicht mehr nur mit den Rändern der Meere beschäftigen, die von den Gezeiten regelmäßig freigegeben werden. Man könnte tiefer hineingehen ins Meer - und damit immer weiter zurück in die Vergangenheit.
Denn dort, wo die Nordsee heute hundert Meter tief ist, waren vor 12.000 Jahren noch Graslandschaften. Erst nach dem Ende der letzten Eiszeit rückte die Nordsee allmählich - aus dem Norden und aus dem westlichen Ärmelkanal kommend - an die heutigen Küsten heran. Davor hätte man noch trockenen Fußes von Deutschland nach England gehen können. Der Archäologe Vince Gaffney von der Universität Bradford: „Dass es unter der Nordsee wahrscheinlich eine Landschaft gibt, wussten wir schon seit mindestens 100 Jahren, wahrscheinlich sogar fast 200 Jahren. Aber die Arbeit in diesen Gebieten ist wahnsinnig schwierig."
Das sogenannte Doggerland - das heutige Nordseegebiet zwischen Großbritannien, Belgien, Niederlande, Deutschland und Dänemark, war bis vor 20 Jahren noch archäologisches Niemandsland. Die einzigen Ausgräber waren hier lange Zeit die Fischer, die mit ihren Bodenschleppnetzen hin und wieder einen Flintstein oder einen Tierknochen an die Oberfläche beförderten.
„Und als Ergebnis geschah etwas ziemlich Seltsames. Die Leute bezeichneten Doggerland einfach als Landbrücke. Jetzt denken Sie mal darüber nach, wozu Brücken da sind. Nun, man geht auf einer Brücke von A nach B. Nur sehr wenige Menschen leben auf Brücken. Und man hatte einfach die Vorstellung, dass da draußen eine leere Fläche war, deren einziger Zweck darin bestand, dass man von Europa herüberkommen konnte, um Brite zu werden - oder umgekehrt, natürlich. Aber es wurde nicht als ein besonders bedeutendes Gebiet darüber hinaus angesehen. Und das, obwohl der Doyen der britischen Mittelsteinzeit, Graham Clark, bereits vor fast einem Jahrhundert gesagt hat, dass das Land dort draußen wahrscheinlich nicht nur gut zum Leben geeignet war, sondern wahrscheinlich zu den besten Orten in Nordwesteuropa gehörte."
Bei der Frage, wie es aussah, das Doggerland, der „place to be", bleibt Gaffney jedoch vorsichtig. „Das kommt auf die jeweilige Zeit an. Wenn Sie 12.000 Jahre oder mehr zurückgehen würden, hätten Sie damals Flüsse gesehen, die über Kiesebenen flossen - mit vielen kleinen Kanälen, die sich sehr schnell bewegten. Allerdings ist es so, dass sich die ganze Welt während der Existenz des Doggerlands verändert hat. Man sagt manchmal, die Vergangenheit sei ein fremdes Land. Nun, diese erste Zeit war fremder, als man sich vorstellen kann. Sie war fremder als die Römerzeit, fremder als die Eisenzeit, die Bronzezeit und sogar die nahe Jungsteinzeit. Während der Zeit, in der Doggerland existierte, hat sich auch die Wirtschaftsweise weltweit verändert. Zuerst bestand sie zu hundert Prozent aus Jägern und Sammlern; und am Ende, als das Doggerland schon fast komplett vom Meer überschwemmt worden war, gab es in Nordwesteuropa die Landwirtschaft."
Bisher gibt es zum Doggerland nur wenige Mosaiksteinchen: Knochen von Auerochsen oder Wollnashörnern etwa, oder verschiedenste Werkzeuge, die Archäologen zumindest Hinweise darauf geben, wann die Menschen hier wie gelebt haben. Aber das große Bild fehlte noch.
Tatsächlich finden sich Sedimentablagerungen durch den Tsunami noch 30 bis 40 Kilometer landeinwärts. Allerdings nur in dem untersuchten Flusstal. Darüber hinaus könne man anhand der Verteilung und der Ablagerung aber auch auf die Höhe der Wellen schließen, meint Gaffney.
„Und das verrät uns eine ganze Menge. Erstens: Wenn Sie an diesem Tag an der Küste waren, war es ein schlimmer Tag für Sie, denn Sie wurden von einer Reihe von Tsunamis getroffen. Aber diese Wellen haben nicht die ganze Landschaft überrollt. Und die Ablagerungen in den Bohrkernen zeigen uns, dass sich nach dem Tsunami wieder die alte Schichtung fortsetzte. Das betroffene Gebiet wurde also wieder zu trockenem Land. Wenn man an der richtigen Stelle an Land gestanden hätte, hätte man diese Welle ganz entspannt kommen sehen können, ohne dass etwas passiert wäre. Der Tsunami war sicher nicht das Ende von Doggerland. Es war später der Klimawandel, der das Doggerland auslöschte, nichts anderes."
Im Durchschnitt stieg der Meeresspiegel während der Mittelsteinzeit um ganze zwei Meter pro Jahrhundert. Die Nordsee schob sich also im wahnsinnigen Tempo, von Norwegen und aus dem Ärmelkanal kommend immer weiter vor. Um 6000 v. Chr., also in der Zeit kurz nach dem Tsunami, waren nur noch dünne Streifen längs der heutigen Küsten und ein kleiner Teil der Doggerbank mitten in der Nordsee vom einstigen Doggerland übrig. Die Menschen müssen sich also zwangsläufig immer weiter Richtung unserer heutigen Küsten zurückgezogen haben. Was die Forscher in den Bohrkernen allerdings vergeblich suchten, war ein Beweis für dieses menschliche Leben am heutigen Nordseegrund.
„Wenn es irgendeinen Ort gibt, an dem Sie in dieser Zeit der Jäger und Sammler nach einer halbwegs sesshaften Besiedlung suchen könnten, dann ist das in der Nordsee. Und wir haben so etwas einfach noch nie gefunden. In archäologischer Hinsicht ist hier noch viel zu gewinnen. Wir kennen bisher auch weltweit keine einzige Siedlung, die mehr als 12 Kilometer von der Küste entfernt oder weniger als 20 Meter tief ist. Über diese riesigen Gebiete weltweit haben wir also kein Wissen. Wir sind in dieser Hinsicht nicht weiter als vor einem Jahrhundert: Damals wusste man, dass da draußen Menschen waren. Und heute wissen wir, dass Menschen da draußen waren."
Mit der Windindustrie aber könnte eine Zusammenarbeit schwieriger werden, meint Gaffney - weil Offshore-Parks nicht befahren werden dürfen und weil auf Gebieten, in denen Pipelines oder Leitungen verlaufen, natürlich nicht in den Boden gebohrt werden darf. Zudem wurde auch das UNESCO-Abkommen zum Schutz des Unterwasserkulturerbes, das hier bestimmte Regeln bei Bautätigkeiten außerhalb der Küstenmeere vorschreiben könnte, von vielen Ländern noch nicht ratifiziert. Auch Großbritannien und Deutschland sind darunter. Das Auswärtige Amt verweist auf Nachfrage auf „komplizierte Abstimmungsprozesse" und bestätigt, dass dieses Abkommen unterzeichnet werden soll. Diese Aussage aber wiederholt sich nun schon seit ein paar Jahren. Die Zeit indes dränge, meint Vince Gaffney.
„Es geht längst nicht nur um die Nordsee. Es gibt weltweit riesige Gebiete untergetauchter Landschaften zum Beispiel in Südostasien, rund um die Sundastraße. Um diese Gebiete herum ist eine Fläche von der Größe Indiens an das Meer verloren gegangen. Und all diese Landschaften werden wichtig für die zukünftige Entwicklung grüner Energie. Von China bis zur Beringstraße. Und all diese sind jetzt bedroht. Und es muss weltweit irgendeine Form von archäologischer Reaktion geben. Innerhalb eines Jahrzehnts."
Die Prioritäten indes sind klar: Nicht um den Erhalt des kulturellen Erbes am Nordseegrund geht es derzeit in erster Linie, sondern vor allem darum, dass unsere Lebensräume nicht bald auch diesem Erbe anheimfallen. Letztlich zeigen uns die versunkenen Landschaften aber auch: Küstenlinien sind nicht unverrückbar. Wer weiß schon, über was Archäologen in ferner Zukunft stolpern werden? Ob sie nicht den Glockenturm des Markusdoms suchen und die Emdener Schiffswerft am Meeresgrund entdecken? Über welche Gegenstände werden sie rätseln?
„Das passiert auch nicht so oft, dass wir keine Idee haben." Die Archäologen im Rungholt-Watt werden die Bedeutung des großen grauen Steins an diesem Tag nicht mehr herausfinden. Erst einige Tage später wird klar werden, dass an dem Stein mit dem Loch in der Mitte vor 700 Jahren Messer geschliffen wurden. Aus dem 14. Jahrhundert war solch ein Werkzeug bisher noch nicht bekannt. Es wird nicht das letzte Geheimnis sein, dass der Meeresboden bewahrt hat.