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Reportage

Vom alten Schlag

Timo Boll ist der erfolgreichste deutsche Tischtennisspieler der Geschichte. In China ist er ein Superstar, in Deutschland wird er kaum auf der Straße erkannt. Bei den Olympischen Spielen versucht er, seine Karriere zu krönen – mit der lang ersehnten Goldmedaille. Kann das klappen, mit 40?

Wenn man sich nur ein einziges Youtube-Video anschauen will, dann vielleicht dieses: »Timo Boll vs Ma Long (World Cup 2017)«. Es hat 3,3 Millionen Klicks, dauert knapp 13 Minuten und enthält fast alles, was man über Tischtennis, die ewige Rivalität zwischen Boll und den Chinesen sowie Schönheit im Allgemeinen wissen muss: eine Halle in Belgien, Halbfinale – Boll, 36 Jahre alt, schon ein bisschen steif in der Hüfte, blaues Shirt und Stirnband mit Paisley-Muster, als hätte man ihn in den Neunzigern eingefroren und gerade aufgetaut. 


Ihm gegenüber, hin und her trippelnd, Ma Long, sieben Jahre jünger, der beste Spieler der Welt, wahrscheinlich der Geschichte, eine schmale Gottheit, ein Gesicht wie gemalt. In der Mitte ein blauer Tisch.


Boll erwischt einen miesen Start, die ersten Ballwechsel verliert er schnell. Was will der alte Mann schon machen gegen den großen Ma Long, dessen Arme wie Libellenflügel durch die Luft sirren? Ma Long setzt die Bälle in die Ecken, Boll muss rennen, der Punkt scheint verloren, Ma Long erwischt ihn auf dem falschen Fuß, da macht Boll etwas, was sonst niemand macht: Blitzschnell wechselt er den Schläger von der Linken in die Rechte, spielt den Ball zurück. Die Kommentatoren flippen aus. Ma Long ist so perplex, dass er den Rückschlag ins Netz schaufelt.


Boll verliert den ersten Satz. Als er im zweiten einen Ball mit seinem Shirt streift, zeigt er es dem Schiedsrichter an. Punkt für Ma Long. Boll ist einer der besten – und fairsten Spieler. Dabei könnte er jetzt jeden Punkt gebrauchen. Er verliert auch den zweiten Satz. Aber Boll bleibt dran, holt auf. Es folgen Ballwechsel, die aussehen wie animiert, zwei Derwische, deren Körper sich verdrehen, im Zentrum die blaue Platte, die den Ball magnetisch anzuziehen scheint, wie sonst sollte er aus unmöglichen Winkeln immer wieder zurück auf dieses winzige Ding finden? Am Ende steht es 4:3 in Sätzen für Boll, er ballt die Faust, schreit, der Kommentator schreit auch: »Redemption for Boll!« – Erlösung!


Boll ist der erfolgreichste deutsche Tischtennisspieler, den es je gab. Ein Wunderkind, Profi mit 14, elfmal Deutscher Meister, achtmal Europameister, viermal die Nummer eins der Welt. In China, wo sie Weltmeister wie am Fließband produzieren, werden Kreuzungen gesperrt, wenn Boll die Straße überqueren will, in der Halle schirmen ihn Soldaten ab und begleiten ihn von einer Platte zur nächsten. Ein Superstar, vielleicht der bekannteste Deutsche im Land. 2007 wurde Boll von den Chinesen zum Sportler mit dem größten Sex-Appeal gewählt. Vor David Beckham. 


Bloß in Deutschland, da erkennt ihn kaum jemand auf der Straße.


Immer wieder wurde er vermessen: Sein dynamisches Sehen liegt bei 280 Prozent, besser als bei den meisten Jet-Piloten. Rast ein Tischtennisball mit 140 Stundenkilometern auf ihn zu, kann er anhand des Stempels seine Rotation erkennen und daraus ableiten, ob er ihn mit Unterschnitt anschnibbelt oder als Topspin zurückhämmert.


Im März ist er vierzig geworden, gefeiert wurde auf der Terrasse in Höchst im Odenwald, seine Frau, seine Tochter, seine Eltern und sein Hund waren da, Dirk Nowitzki gratulierte per Video, und weil die Pizzeria montags Ruhetag hat, gab es Pizza vom Dönerladen. »Da werde ich beim Fünfzigsten immer noch drüber lachen«, sagt er. 


Für die meisten Menschen ist vierzig jung, für einen Profisportler uralt. Dennoch war Boll mit 38 noch mal die Nummer eins der Welt. Aus dem Wunderkind ist ein Wunderopa geworden, zuletzt immer öfter auch ein wunder Opa: Der Rücken zwickt, die Gelenke tun weh, die Beine sind nicht mehr so flink. Er könnte seine Karriere ausklingen lassen, ein bisschen grillen, Chinesisch lernen, vielleicht Kommentator werden wie Boris Becker oder Lothar Matthäus. 


Er hat alles gewonnen, sogar einen Bambi, nur eines nicht: eine olympische Einzelmedaille. Ein Stück Metall, das aus Menschen ewige Helden werden lässt. 


Leute, die ihn gut kennen, sagen: Das ist eine Kerbe, die er auswetzen will. Andere sagen: Das packt er nicht, er ist zu alt. Und zu nett. Der Bundestrainer Jörg Roßkopf, der 1996 Bronze im Einzel gewann, sagt: »Timo kann immer jeden schlagen. Er trainiert weniger als andere, aber sehr konzentriert. Wenn die Chinesen sehen würden, dass Timo in so einer alten Halle trainiert, würden sie sich wohl kaputtlachen.«


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Der Text war 2021 in der Kategorie "Beste Sportreportage" für den Deutschen Reporter:innenpreis nominiert.



SZ-MAGAZIN, 29/2021