Zur Begrüßung wird in Deutschland immer mehr geherzt, geknutscht und umarmt. Warum bloß, fragt unsere Autorin. Sie findet das nämlich ziemlich unappetitlich
"Was ist denn mit dir los?", ruft mein alter Bekannter Michael mit verstörtem Gesichtsausdruck gegen die laute Musik an. "Hab' ich dir irgendwas getan?" Ja, hat er. Er hat etwas Abscheuliches getan, etwas, was mir in letzter Zeit zutiefst zuwider ist. Und zwar ist er auf mich zugestürmt und hat mit geschlossenen Augen die Lippen gespitzt, bevor er versucht hat, mir zwei Küsse auf die Wangen zu hauchen. Fürchterlich! Dieses Gebussel ist eine Pest, schon unter Freundinnen. Und noch schlimmer als wangenküssende Frauen sind - bussihauchende Männer. Unmännlicher geht es kaum. Anstatt das zu erklären, ziehe ich aber nur meinen Kopf weg und gucke böse. "Ich arbeite eben in einer Werbeagentur, wir begrüßen uns alle so", sagte Michael entschuldigend. Das stimmt wahrscheinlich sogar - leider.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich küsse gerne. Wie Essen, Schlafen, Sex und Urlaub gehört es zu den schönsten Dingen des Lebens. Küssen ist etwas ganz Tolles, macht Spaß, regt den Kreislauf an. Erstens haben aber Bussis auf die Wangen nichts mit "echten", leidenschaftlichen Küssen zu tun, zweitens lasse ich mich nicht gern zu etwas zwingen. Ich weiß einfach nicht, warum in letzter Zeit jeder jeden abküssen muss, als hätten sich alle total lieb. Sogar Leute, die sich zum ersten Mal sehen, herzen sich, als träfen sie ihre Mutter wieder, die nach einem Flugzeugabsturz 30 Jahre als verschollen galt. Das Schlimmste: Es kommt immer mehr in Mode.
Schon die Jüngsten sind betroffen vom nationalen Kusswahn. Auf der Internetseite des Kindermagazins Geolino beschwert sich ein Halbwüchsiger über das Begrüßungsritual seiner Kameradinnen aus der neunten Klasse. Er fragt sich, warum die sich morgens alle abknutschen müssen. Vor allem, weil das ewig dauere und sie deshalb oft den Bus verpassten. Die Bussi-Bussi-Gesellschaft hat es also bis an die Schulen geschafft. Sind bald die Kindergärten dran?
Das allgegenwärtige Geküsse gehört mittlerweile zum guten Ton. Nicht mehr nur in Golf- und Tennisklubs oder unter den Adeligen und sozialistischen Staatschefs dieser Welt. Der Kuss gilt im 21. Jahrhundert längst nicht mehr als Liebesbeweis. Er soll Zugehörigkeit demonstrieren, Offenheit, Nähe. Auch da, wo es gar keine gibt.
Wer hat eigentlich je behauptet, es würde Lässigkeit demonstrieren, wenn man jemanden zur Begrüßung küsst? Abgesehen davon, dass es häufig affektiert und aufgeregt wirkt, weiß niemand, wie es wirklich geht - und das kann schmerzhaft enden. Erst neulich kam ich in eine sehr unangenehme Situation, weil eine mir unbekannte Person aus meinem neuen Sportkurs die anderen fünf Teilnehmer zur Verabschiedung küsste. Musste ich jetzt etwa auch mein Gesicht hinhalten? Ich entschied mich dagegen. Doch die betreffende Dame kam auf mich zu, reckte ihren Hals in meine Richtung, ich überlegte einen Moment zu lang, sie zog den Kopf zurück, ich streckte ihr dann doch meinen hin, sie ihren wieder vor. Unsere Köpfe knallten unsanft gegeneinander.
Die Kopfschmerzen wären uns durch ein freundliches, aber distanziertes Händeschütteln erspart geblieben. Die Peinlichkeit auch.
Da es leider keinen allgemeingültigen, deutschen Bussi-Regelkatalog gibt und in der Begrüßungswelt totale Anarchie herrscht, kann es schnell passieren, dass zwei Menschen aufeinandertreffen, die unterschiedliches Kussverhalten an den Tag legen. Beginnt man links oder rechts? Wie oft küsse ich überhaupt? Und: Nur hauchen wie beim Handkuss oder mit der Wange die Haut berühren?
Ein großer Schokoladenhersteller wirbt mit dem Spruch: "Guten Freunden gibt man ein Küsschen - oder auch zwei oder drei." Mal unabhängig davon, dass hier von Pralinen gesprochen wird, passt der Satz ganz gut: Die wissen auch nicht, wie es geht. Geht man in eine Bar, kann man die unterschiedlichsten Varianten beobachten. Den klassischen Einfachen, den Dreifachen mit Luftküssen, doppelte Küsse, Vierfache geschmatzt. Keine Regel, mit welcher Wange man anfangen muss. Daher die große Kopfnussgefahr. Selbst in der Grande Nation des Küssens ist nicht strikt geklärt, wie oft man sein Gegenüber herzt: In Paris nur zweimal, in den sonstigen Teilen des Landes küssen die Franzosen viermal. Begonnen wird dort übrigens mit der linken Wange. Tatsächlich wird in sehr vielen Ländern geküsst: In Polen gibt es noch den angedeuteten Handkuss zur Begrüßung einer Dame. In der Schweiz und Belgien wird auf die Wange geküsst. In Teilen Lateinamerikas küssen sich sogar die Männer, ob zwei oder dreimal, hängt vom jeweiligen Land ab.
Erfreulich ist, dass im Bussi-Bussi-Land Frankreich zumindest im Berufsleben zunehmend die Hand gegeben wird. Auch wenn Staatschef Nicolas Sarkozy erst vorige Woche beim deutsch-französischen Gipfel mit seinem herzlichen Begrüßungskuss an Angela Merkels Wange wieder das Gegenteil demonstrierte. Herr Sarkozy ist jedoch nicht unbedingt eine Ikone stilsicheren Verhaltens. Dem sollte man lieber nichts nachmachen.
Ganz sicher gibt es in der Begrüßungskultur ein Nord-Süd-Gefälle. Je südlicher, desto mehr wird geküsst. Und es gibt Kulturen, in denen der Begrüßungskuss ständig benutzt wird. Wie in Spanien. Bei einem längeren Aufenthalt auf der Iberischen Halbinsel war ich als Bussi-Verächterin irritiert darüber, dass ich alle und jeden küssen sollte - auch bei der Arbeit. Der internationale Business-Knigge sagt zwar, Küsschen seien in Büros nicht angebracht, an meinem Arbeitsplatz schmatzten mir aber ständig alle ungefragt auf die Wangen. Da ich neu war und niemanden beleidigen wollte, wehrte ich mich nicht.
Bei dem einen oder anderen Kollegen kam mir allerdings bald der Verdacht, dass das Bussi nur als Alibi zur Annäherung diente. Besonders einer konnte sich gar nicht zurückhalten, fasste mich beim Küssen dauernd an und umarmte mich dazu auch noch stürmisch. Es schien ihn nicht zu stören, dass ich zur Salzsäule erstarrte und nicht reagierte. Feuchtküsser an sich sind ja schon eklig, aber dieses unattraktive Exemplar roch auch noch unangenehm und zerstörte in Windeseile mein Make-up mit seinen sabbernden Bussis. Igitt! Kein Wunder, dass der jede Möglichkeit nutzte - anders kam der bestimmt niemals so nah an eine Frau heran. Der Typ wusste offensichtlich nicht, dass es als unfein gilt, feucht zu küssen. Wenn schon busseln, dann bitte richtig: Die Wangen sollten höchstens touchiert werden.
Ich möchte mir diesen Kusswahn einfach nicht mehr gefallen lassen, auch nicht aus Höflichkeit. Schließlich ist das Ganze ja auch nicht ungefährlich, beim sozialen Geküsse werden jede Menge Krankheitserreger übertragen. Gerade, wenn es feucht wird. Zur Sabber- kommt auch noch die Ansteckungsgefahr hinzu. Wenn andere Menschen auf Herpes und Grippe stehen, ist das ihre Sache. Ich muss das alles nicht haben. Warum schafft man den Bussi-Brauch nicht einfach ab? Die Welt würde dadurch bestimmt nicht schlechter. Doch wenn das hier so weitergeht, kommt sonst nur noch die Flucht infrage. Vielleicht nach Japan? Dort gilt Küssen in der Öffentlichkeit als unschicklich. Zur Begrüßung wird sich höflich und respektvoll voreinander verneigt. Allerdings: Seit Neuestem wird dort auch der Handschlag immer beliebter.