Tina Epking

Freie Autorin/Journalistin, Hamburg

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Artikel

"Wir Heulsusen"

Als ich neulich von dem Experiment von Robin Weis las, war ich fasziniert. Denn die Autorin und Designerin interessiert sich genauso für das Thema Heulen wie ich. Fast zwei Jahre lang hat sie ihre Tränen dokumentiert (www.robinwe.is) – dabei herausgekommen ist eine Ansammlung von Daten, die zeigen, wie oft, intensiv und warum sie weinte. Einen Großteil ihrer Tränen verdankte sie in dieser Zeit ihrer Liebesbeziehung, außerdem vergoss Robin 40 Prozent davon in der Öffentlichkeit, 2 hatten mit ihrer Arbeit zu tun. Der längste Zeitraum, in dem Robin nicht weinte, dauerte 23 Tage an. Nachdem ich all diese Daten kannte, wollte ich auch mehr über mein Heulverhalten wissen!

„Sag mal, weinst du oder ist das der Regen, der von deiner Nasenspitze tropft?“ heißt es in einem Lied der Band Echt aus den 90er Jahren. In meinem Fall ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich weine etwa so groß wie die Wahrscheinlichkeit für regnerisches Wetter – und ich wohne in Hamburg. Tränen der Erleichterung, der Rührung, Trauer, Wut oder Hilflosigkeit: Ich kenne sie alle! Vor allem seitdem ich Kinder habe, sind meine Schleusen meistens geöffnet, ich bin eine richtige Heulsuse. Schon oft habe ich mich selbst gefragt, warum. Jetzt frage ich eine, die sich damit auskennt. Die Diplom-Psychologin Lisa Fischbach, die in Hamburg als Therapeutin eine Praxis führt, kennt die Antwort: „Gerade wenn man Kinder hat, hat man häufig einen sehr starken Zugang zu seinen Gefühlen. Kinder in ihrer Direktheit der Kommunikation berühren einen einfach. Wenn man sich darauf einlässt, Gefühle zuzulassen, kommt man schneller an die eigene Emotionalität.“

Das erklärt einiges. Auch das Verhalten meiner Mutter, die ich früher immer ein bisschen hysterisch fand, weil sie so nah am Wasser gebaut ist. Egal, ob der Nachbar der Freundin gestorben war, Rosamunde Pilcher im Fernsehen lief oder ich ein Tennisspiel gewann: Meine ansonsten sehr patente Mutter fand zuverlässig und regelmäßig einen Grund mit feuchtem Blick ein Taschentuch zu zücken. Heute verstehe ich sie sehr gut.

Dass ich das tue, liegt aber nicht nur daran, dass ich mich verändert habe, sondern dass wir im Jahr 2016 leben. Ich glaube, dass Weinen einfach akzeptierter ist als noch vor fünf Jahren. Wie ich darauf komme? In vielen Fernsehserien und Filmen wird es heutzutage regelrecht darauf angelegt, dass der Zuschauer davor sitzt und seinen Emotionen freien Lauf lässt, in der Werbung auf die Tränendrüse gedrückt und bei Sport-Ereignissen mittlerweile praktisch erwartet, dass der Gewinner/Verlierer in Tränen ausbricht. Als Diskuswerfer Christoph Harting jüngst bei der Siegerehrung der Olympischen Spiele fröhlich pfiff und tanzte, kam sein Verhalten auf jeden Fall sehr viel schlechter an als es ein Weinkrampf getan hätte.

Wäre ich er gewesen, ich hätte wahrscheinlich auch nicht geweint. Ich heule nämlich zwar oft, aber selten in der Öffentlichkeit. Mir sind Tränen vor Menschen, die nicht zu meiner Familie oder meinem Freundeskreis gehören, unangenehm. Eine Kollegin hat mir einmal verraten, dass ich eine Zeit lang den Spitznamen „Teflon-Tina“ trug, weil ich selbst bei Kritik in der Gruppe so wirken würde, als pralle alles von mir ab.

Als ich ein einziges Mal hochschwanger versteckt im Druckerraum in Tränen ausbrach und meine Chefin zufällig hereinkam, tat ich sofort so, als wäre nichts passiert. Später entschuldigte ich mich per Mail bei ihr. Sie schrieb nur: „Mach dir keine Gedanken, ich weine ständig im Büro!“ Ich kam mir damals trotzdem blöd vor. Warum eigentlich? „Nicht jeder möchte eine so persönliche Regung wie Tränen vor anderen preisgeben. Man will schließlich nicht mit jedem seine intimsten Emotionen teilen“, sagt Lisa Fischbach. „Außerdem wollen Sie im Büro natürlich professionell erscheinen. Wir sind ja nicht überall die gleiche Person, sondern haben verschiedene Rollen. Ihrem Mann zeigen Sie ganz andere Seiten als ihrer Chefin.“

Aber was heißt überhaupt professionell? Natürlich ist es in vielen Jobs immer noch negativ belegt, wenn man beim geringsten Grund in Tränen ausbricht. Natürlich kann es als Zeichen der Schwäche oder Instabilität ausgelegt werden. Oder auch als Instrument, um seinen Willen durchzusetzen. Allerdings hat mittlerweile sogar Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg zugegeben, dass sie im Büro weint. Sie ist nicht allein. Es gibt einen sehr klugen und witzigen Podcast mit dem Namen „Hiding in the Bathroom“, der erfolgreiche Unternehmerinnen immer als erstes genau danach fragt: Wann nur noch Verstecken vor dem öffentlichen Weinen geholfen hat. Die Antworten sind erstaunlich ehrlich, alle kennen diese Situation und sind bereit das zuzugeben. Ein neues Phänomen. „Da heute zunehmend auch Soft Skills als Erfolgskriterium gelten, ist das Zeigen von Gefühlen – auch das von Tränen – akzeptierter als früher. Es gilt als authentisch“, bestätigt Expertin Lisa Fischbach meine These. Können Gefühle als Zeichen von Stärke gelten? Sind Tränen ein Trend? Warum nicht?

Trotzdem haben laut einer aktuellen Studie der Gesellschaft für Konsumforschung nur knapp zwei Drittel der Deutschen mindestens einmal in den vergangenen zwölf Monaten geweint. Die Zahl irritiert mich. Zwei Drittel? Und nur einmal? Ich mache eine inoffizielle Umfrage unter meinen Freundinnen. Fast alle antworten innerhalb von 24 Stunden auf meine E-Mail, fast alle schreiben, dass sie häufig weinen. Der Hauptgrund der Tränen der Deutschen ist laut Umfrage der Verlust einer nahestehenden Person. Das überrascht nicht. Der zweithäufigste Grund ist allerdings weniger dramatisch: 18,5 Prozent der Deutschen müssen bei rührenden Filmen heulen. Auch das kann ich sehr gut nachvollziehen. Erst gestern Abend habe ich wieder vor dem TV geweint – bei der Netflix-Serie „The Get Down“ trug der Hauptdarsteller ein Gedicht über seine verstorbenen Eltern vor und für mich gab es kein Halten mehr. Den Rest der Episode saß ich schweratmend mit hochrotem Kopf vor dem Bildschirm, weil ich mich von der Schluchzattacke erholen musste.

Ich bin nicht allein mit meinem Problem. Auch meine Freundinnen weinen aus weit nichtigeren Gründen als einem Todesfall. Zum Beispiel die grundsätzlich sehr vernünftige Maja: Sie musste bei einer Folge „Der Winzerkönig“ mit Harald Krassnitzer in Tränen ausbrechen, als die polnischen Erntehelfer gerade noch rechtzeitig vor dem Gewitter zur Weinlese auftauchten. Die eigentlich sehr robuste Daniela muss immer bei dem Klang von Posaunen weinen – und an schlechten Tagen sogar bei deutschen Popsongs von Philipp Dittberner. Und Sandra schrieb mir, sie habe einmal weinen müssen, weil jemand im Büro ihre Buttermilch aus dem Kühlschrank einfach ausgetrunken habe. Diese Geschichten erleichtern mich. Wir weinen offensichtlich alle! Aber warum bricht eine wegen einer Buttermilch oder beim Winzerkönig in Tränen aus und die andere nicht? Das hängt laut Lisa Fischbach von verschiedenen Faktoren ab. Dazu gehören Persönlichkeit, Erziehung und Geschlecht. Hochsensible Menschen weinen mehr als sensible. Ein Kind, das gelernt hat, dass nur Memmen heulen, wird später sicher weniger schnell weinen, eins, dessen Tränen stets willkommen waren, mehr. Frauen weinen mehr als Männer. So ist die Regel.

Eine andere Regel ist die, dass man sich beim Weinen oft unwohl fühlt, danach oft besser. Sind Tränen also vielleicht sogar gesund? „Eine kathartische Wirkung ist wissenschaftlich empirisch nicht eindeutig belegt, aber es gibt Studien darüber, dass Menschen, die einen guten Zugang zu ihren Gefühlen haben und diese mehr zeigen können, weniger oft psychosomatisch krank werden“, sagt Diplom-Psychologin Lisa Fischbach. „Man weiß sicher, dass das Teilen von Gefühlen und Tränen sehr hilfreich und wohltuend ist, weil man so Trost und Zuspruch erfährt.“ Auch das beruhigt mich.

Nur 8 Prozent der Deutschen heulen übrigens vor Glück. Auch das passiert mir öfter. Neulich antwortete meine vier Jahre alte Tochter, als ich ihr sagte, dass ich stolz auf sie sei: „Ich bin auch stolz auf dich“. Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, was das bedeutet. Ich habe trotzdem feuchte Augen bekommen – und mich kein bisschen dafür geschämt.

Text: Tina Epking