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Bei aller Liebe - ein Essay

Bildquelle: Sarah Pfenniger

Die heutige Jugend wächst mit der ersten sogenannten Partnerschaft in der Mittelstufe auf. Bis zur Volljährigkeit wurde das Herz oft schon mehrmals gebrochen, die Scheidungsrate liegt unterdessen in Deutschland bei nahezu 50 Prozent. Ist die romantische Tugend der einen, ewigen Liebe nur noch blanke Illusion? Nicht zwingend - glaubt Tim Kummert.

"Heirate - oder heirate nicht: Du wirst es bereuen" - das sagte bereits Sokrates. Heute ist die Heirat ein romantischer Prozess, der von vielen kritisch beäugt wird: Kaum noch steuerliche oder gar gesellschaftliche Vorteile, die soziale Ächtung von Nicht-Verheirateten ist schon lange nicht mehr ausgeprägt. Die Tatsache, dass nahezu die Hälfte aller Ehen in Deutschland wieder geschieden wird, hat aber keine Auswirkungen auf die Heiratsfreudigkeit. Die Zahl der Eheschließungen ist konstant. Warum eigentlich? Hat nicht jeder "Bund fürs Leben" nur eine 50-Prozent-Chance: Bis dass das Leben euch scheidet?

Rein statistisch gesehen mag das stimmen. Doch zeigt die Heiratslust vor allem den Wunsch, endlich ankommen zu wollen, den perfekten Gegenüber zu finden und diesen festzuhalten. Die Schlagerindustrie propagiert genau dieses Bild. Dass da die oder der Eine ist, nach dem wir eigentlich ein Leben lang suchen - und es dann einfach "Klick" macht. Ein Blick und alles ist klar. Ist das so? Oder nur ein mittlerweile überholtes, vorsintflutliches Ammenmärchen?


Verliebte Teenies prahlen bei WhatsApp und Facebook

Wohl beides. Erstaunlicherweise hat die Vorstellung von der einen, lebenslangen Partnerschaft nach wie vor einen sehr hohen Stellenwert. Das Glück in der Liebe - glaubt man den Erzählungen von Jugendlichen - ist vielen das angeblich Wichtigste im Leben. Das Streben nach demselben allerdings artet in einer bizarren Suche aus: In der heutigen Mittelstufe einen Partner zu haben, gilt nicht nur als schick. Es ist ein Muss, um sich die Aufmerksamkeit der Klasse zu sichern. Das gängige Procedere beginnt: Der WhatsApp-Status wird mit einem rosa Herzchen geschmückt, auf der Facebook-Seite der Beziehungsstatus verkündet.


Ein nicht unwesentlicher Grund für die häufigen frühen Partnerschaften dürfte auch die öffentliche Kundgebung sein: "Ich habe jemanden - und guckt mal (ein Bild wird auf der Facebook-Chronik gepostet), wie gut mein Partner aussieht. Meine Güte, was sind wir glücklich!" Das ist wohl nichts als peinliche Regression in exhibitionistische Kindergartenattitüden.


Die Boulevardzeitungen und -zeitschriften sind voll von möglichen Trennungsgerüchten und Herzschmerzgeschichten. Der Voyeurismus der Leser ergießt sich über potenziell bald getrennte Promipaare. Diese Geschichten finden sich manchmal sogar direkt neben "Zehn praktische Tipps für eine wirklich glückliche Beziehung". Sprichwörtliche Bigotterie. Die Leserschaft scheint einen unglaublich großen Gefallen am zerbrechenden Glück anderer und dem gleichzeitigen Streben nach der ewigen eigenen Partnerschaft zu haben. Auf jeden Fall zeigen all diese Facetten, dass die Liebe als solche eine nach wie vor immense gesellschaftliche Relevanz hat: Regalmeterfüllende Ratgeberliteratur, TV-Sendungen, Tausende Artikel in Zeitungen und Zeitschriften - das Informationsbedürfnis ist riesig, andernfalls würde die Branche nicht so boomen.


Die Liebe ist ein gutes Geschäft

Apps wie "Crazy Blind Date" und "Tinder" symbolisieren den Hunger nach dem wunderbaren Partner, der nun über vage Angaben in einer Smartphone-App identifiziert werden soll. Schaut man sich die - oft in diesem Zug eiligst herbeizitierte - seriöse Faktenlage an, so fällt Folgendes auf: Der Mensch ist nach Lehrmeinung immer wieder verliebt, dieser Zustand hält zwischen drei Minuten und drei Jahren an. Manchmal liebt man sogar mehrere Menschen gleichzeitig. Der Philosoph Richard David Precht behauptet, anschließend würde die "Droge Verliebtheit" ihre Wirkung verlieren: Zwei Hormone, von denen das eine für die Sicherheit, das andere für das Abenteuer zuständig ist, hielten sich bislang in der Waage - der eigentliche Zauber des Verliebt-Seins. Nun kippt es allerdings in eine Richtung - entweder zur Sicherheit oder zum Abenteuer. Je nachdem, wie der Partner gestrickt ist.


Die besten Chancen für eine lange Beziehung hätten demnach Paare, die dieselben Lebensziele verfolgten (Sicherheit), aber unterschiedlichen Temperaments seien (Abenteuer). Vielleicht einer von vielen Kniffen, um eine glückliche Beziehung führen zu können - die nicht beendet wird, wenn einem "was Besseres" über den Weg läuft. Ein anderes Rezept liegt im Festhalten - getreu dem Heiratsversprechen - in guten wie in schlechten Zeiten. Vor nicht allzu langer Zeit geisterte ein Foto durch die sozialen Netzwerke, das ein altes Ehepaar in Schwarz-Weiß zeigt. Zwei Menschen, denen das Alter buchstäblich ins Gesicht geschrieben ist. Die beiden werden gefragt, wie sie es geschafft hätten, über all die Jahre zusammenzubleiben. Ihre simple wie bestechende Antwort: "Wir wurden in einer Zeit geboren, in der man kaputte Dinge reparierte anstatt sie wegzuwerfen".

Liebe ist mehr als Verliebt-Sein. Und Liebe ist wohl auch mehr als gemütliches Händchenhalten im Sonnenschein. Interessanterweise ist aber genau diese Händchenhalten-Sonnenschein-Liebe in vielen Köpfen praktisch omnipräsent. Anders ist beispielsweise der ewige "Romeo und Julia"-Hype nicht zu erklären. Die beiden starben, bevor sie sich überhaupt im biederen Alltag beweisen mussten. Getreu dem Shakespeare-Zitat: "Der (All)Tag ist ja noch fern..."


Ewig Unglückliche will doch keiner heiraten

Wie alltagstauglich eine Beziehung tatsächlich ist, stellt sich oft erst nach Jahren des Zusammenlebens heraus. Interessanterweise ist der bestklebendste Kitt, der Paare zusammenhält, nicht ein Kind - sondern eine gemeinsame Immobilie. Das fand die "Zeit" vor kurzem heraus. Nun könnte man ankommen und irgendwelche wilden Theorien von wegen Habsuchts-Gesellschaft ansetzen. Und vielleicht hätte mancher damit auch gar nicht so Unrecht. Doch sollte die eigentliche Kernfrage sich nicht darum drehen, was der Begriff "Liebe" eigentlich für einen selbst meint?


Michael Hanekes oscarprämierter Film "Liebe" zeigt eine weitere mögliche Facette: Der respektvolle Umgang miteinander. Wie Haneke seine zwei steinalten Protagonisten miteinander agieren lässt, mag als Idealbild anmuten. Doch braucht es nicht zum oft arg negativ verzerrten medialen, oberflächlichen Kitsch auch positive Leitlinien in die andere Richtung? Was auch immer man über die Liebe schreiben und sagen mag: Es wird unzureichend bleiben. Nicht umsonst wurde sie schon oft als stärkste Kraft überhaupt gelobt, die zusammenschweißt und alles andere überwinden kann. Diese Kraft bleibt den meisten jungen Menschen wohl heute verdorben, die sich die Droge des Verliebens aneignen: Weil es Spaß macht, weil die Welt besser ist, weil man mitreden will. Bis der nächste kommt.

Ziemlich sicher lässt sich dennoch auch heute voraussagen, dass auch aus dieser Generation Menschen kommen werden, die bis an ihr Lebensende glücklich verheiratet sind. An dieser Stelle lohnt nochmals ein Blick auf die Statistik. Fakt ist: Verheiratete Menschen sind glücklicher als nicht verheiratete. Das ist empirisch bewiesen. Allerdings - das behauptet zumindest der Mediziner Eckart von Hirschhausen - liege das an einer statistischen Verzerrung. Denn zum einen wolle die durchweg Unglücklichen ja keiner heiraten und zum anderen sei die Zeit des Glücklich-Seins schon nach zwei Jahren vorbei, beginne allerdings ein Jahr vor der Trauung.


Gleich und gleich gesellt sich gern

Dieser Ansatz deckt sich mit der Prechtschen Theorie von den maximal drei Jahren Verliebtheit. Das allerdings ist pure Statistik, Glück und Liebe sind - besonders im Verbund miteinander - hoch individuell. Ein nettes Bonmot beinhaltet, dass wer sich liebt, sich nicht permanent anschauen müsse - wohl aber in die gleiche Richtung. Ein Ansatz, über den es sich mindestens nachzudenken lohnt. Denn das Sich-Anschauen hat etwas mit Verliebt-Sein zu tun. In die gleiche Richtung zu blicken, mit Liebe. Darin schwingt nicht nur Weitsicht, sondern auch tiefe Verbundenheit mit. Wer dieselben Ziele und Erwartungen hat wie sein Partner, womöglich selbst ähnlich tickt, dessen Glück ist nicht garantiert, aber zumindest wahrscheinlich.

Gewiss: Es heißt im Volksmund gelegentlich "Gegensätze ziehen sich an". Doch die Betrachtung von reiferen Paaren und auch etlicher Psychologen zeigt: "Gleich und gleich gesellt sich gern" steht noch ein wenig darüber: Es gewinnt eben doch das Wir. Ebenfalls ein lohnenswerter Gedankenanstoß ist die Idee, dass Liebe in Zeit "bezahlt" wird. Womöglich ist Zeit tatsächlich das einzige, was der Mensch wirklich hat. Zeit, um sich kennenzulernen. Und Zeit als Geschenk für den anderen: Ich verbringe meine Zeit mit dir, anstatt mich diversen anderen Dingen zu widmen.


Es sind bestimmt so viele Wege, wie es Individuen auf diesem Planeten gibt, möglich, um zu seiner eigenen glücklichen Liebe zu finden. Ganz sicher aber bedarf es einer Menge an Weitsicht und Verständnis: Für sich, für den Partner und nicht zuletzt auch für das gemeinsame Agieren. Dass dabei Fehler gemacht werden und manche Irrung und Wirrung beschritten wird, ist nur eine der möglichen Prüfungen. Es obliegt der Entscheidung jedes Einzelnen, ob er dennoch an der einen Liebe, für die er sich entschieden hat, festhalten will - oder das Handtuch schmeißt.


Wer festhält, wird die Zähne zusammenbeißen müssen - doch nicht zuletzt auch einen echten Gegenüber gefunden haben. Im Idealfall einen fürs Leben. Und ist dann - entgegen Sokrates These - doch noch, ob mit Heirat oder ohne, glücklich.

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