Jordan Pickford ist bei dieser WM die Entdeckung unter den Torhütern. Sein Spiel ist modern und er patzt nicht. Für einen Engländer ist das revolutionär.
Die englische Nationalmannschaft schreibt dieser Tage viele schöne Geschichten. Sie handeln von Spielern, die auf aufblasbaren Einhörnern durch einen Hotelpool pflügen und dabei vor Lachen beinahe untergehen. Von Harry Kane, dem tollen Torjäger. Von Gareth Southgate, dem Trainer, der den Engländern die Furcht vor dem Elfmeterschießen nahm.
Die vielleicht schönste aber handelt vom jungen Torhüter Jordan Pickford, der gerade eine fast unheimliche Entwicklung durchmacht. Es ist die Geschichte der Heldwerdung eines englischen Schlussmannes, man mag es kaum glauben. Sie beginnt in den Niederungen des englischen Fußballs, und wo sie endet, ist noch unklar. Vielleicht ja mit dem WM-Titel?
Es ist noch gar nicht lange her, da stand Trainer Southgate in der Kritik, weil er sich für Pickford als Nummer eins entschieden hatte. Pickford, der erst im November 2017 für England debütiert hatte, sei zu unerfahren, hieß es. Sollte es England bis ins Finale schaffen, würde er dort sein zehntes Länderspiel absolvieren.
Dann war zu lesen, Pickford sei mit 1,85 Meter zu klein für einen Schlussmann. Die New York Times hat kürzlich alle sieben Torhüter, die England seit 1962 bei einer Weltmeisterschaft vertraten, miteinander verglichen. Nur Peter Shilton, bis heute so etwas wie die positive Erscheinung in Englands Torwarthistorie, ist mit 1,83 Meter noch kleiner als Pickford. Nationaltrainer Sam Allardyce, der Pickford in Teilen der letzten Saison beim FC Everton trainiert hatte, sagte kürzlich im Gespräch mit dem Radiosender talkSport: "Wir können ihn ja leider nicht länger machen, aber mit einem oder zwei Zentimetern mehr wäre er ein sehr viel besserer Torwart."
Seitdem sind nur wenige Wochen vergangen. Die Engländer stehen im Halbfinale gegen die Kroaten. Und Jordan Pickford, 24, dieser blasse Torwart aus der kleinen Stadt Washington im äußersten Nordosten Englands, ist der neue Liebling einer ganzen Nation. Vielleicht, weil er immer ein bisschen aussieht, als könne man mit ihm auch ganz gepflegt durch die Pubs ziehen, Fußball schauen und über die britischen Dance-Charts fachsimpeln.
Ganz sicher aber, weil sich Pickford immer überall gegen Widerstände durchsetzen musste, weil ihm nie etwas geschenkt wurde. So etwas mögen sie in England. Beim AFC Sunderland galt Pickford früh als Supertalent, doch als er zu gut für die Jugendteams wurde, schickte man ihn erst einmal auf eine Odyssee durch Englands Amateurfußball. Vor fünf Jahren spielte er noch in der fünften Liga für einen Club namens Alfreton Town, der Wind pfiff durch die altersschwache Tribüne, und manchmal stand er knietief im Matsch, attackiert von Angreifern, die mit ihrer Definition von Körpereinsatz überall anders Probleme bekommen würden.
Da spielt es auch keine Rolle, dass Pickford längst im Geschäft der ganz Großen mitmischt. Als er 2017 von Sunderland nach Everton wechselte, kostete er umgerechnet 34 Millionen Euro, noch nie hatte ein englischer Torhüter mehr gekostet.
Die Szene, die endgültig dafür gesorgt hat, dass Pickford in England nicht mehr als potenzieller Schwachpunkt wahrgenommen und stattdessen als Held gefeiert wird, spielte sich an einem späten Dienstagabend Anfang Juli in Moskau ab. Es lief das Achtelfinale der Engländer gegen Kolumbien, und auch nach 120 Minuten war keine Entscheidung gefallen. Es ging ins Elfmeterschießen. Und Pickford hielt den letzten Elfmeter, es war eine epische Parade.
Als Kolumbiens Carlos Bacca schoss, war Pickford schon auf dem Weg in die Ecke, vielleicht war er einen Tick zu früh abgesprungen. Plötzlich riss Pickford im Fallen den linken Arm in die Höhe, er drehte den Kopf und wurde zum staunenden Beobachter seiner eigenen Parade. Von seiner linken Hand prallte der Ball ab, eine grandiose Reaktion.
Der Rest ist Geschichte. Englands Fußballer, die vorher noch nie ein Elfmeterschießen bei einer Weltmeisterschaft gewonnen hatten, schrieben an diesem Abend die Erzählung ihrer Nationalmannschaft neu. Eric Dier verwandelte den entscheidenden Versuch, England stand im Viertelfinale, und das Elfmetertrauma, es scheint überwunden.
"Pickford ist zum Gigant unter den englischen Torhüter geworden", schrieb der Daily Telegraph, und wenn man fies sein wollte, könnte man sagen, dass es ja gewiss schwierigere Aufgaben gibt. Denn die Engländer und ihre Torhüter, das war zuletzt wirklich keine glückliche Beziehung mehr.
Pickford ist Englands Erlöser
In den Neunziger- und den frühen Nullerjahren hieß der Schlussmann der Engländer David Seaman. In Erinnerung blieben neben seinem imposanten Schnurrbart vor allem eklatante Aussetzer in den unmöglichsten Situationen. Dann kam David James, von dem man nur wissen sollte, dass die Engländer ihn wegen seiner vielen Patzer "Calamity James", Katastrophen-James, nannten. Und später Paul Robinson, Robert Green und Joe Hart, die alle ähnlich flatterhaft hielten.
Der Schlussmann Jordan Pickford, er muss auf die Engländer, diese so stolze Fußballnation mit dem immerwährenden Torwartproblem wie ein Erlöser wirken. Denn Pickford verkörpert einen Typ Torwart, den die Engländer lange nur aus dem Fernsehen kannten. Er hat tolle Reflexe und Fußball spielen kann er auch noch. So gut, dass ihn sein früherer Trainer David Moyes in Sunderland im Training gerne im Feld spielen ließ. "Es ist, als würde man einem richtig guten Mittelfeldspieler zusehen", hat Moyes einmal gesagt.
Zu sehen war all das auch im Viertelfinale gegen die Schweden, wenige Tage, nachdem Pickfords Heldwerdung in Moskau ihren Anfang genommen hatte. Pickford zitterte nicht, wenn ihn seine Mitspieler anspielten, er passte den Ball mit dem linken Fuß präzise weiter. Elegant sah das aus und kein bisschen angestrengt. Wenn er bei einem Abstoß einen 60 Meter entfernten Mitspieler anvisierte, landete der Ball auch dort, und nicht etwa im Seitenaus. Pickford patzte auch nicht, als die Schweden ihn prüften, er hielt die leichten Bälle und auch einige unmögliche. Einen Kopfball von Marcus Berg fischte er aus dem Winkel und wenig später lenkte er einen Drehschuss des Ex-Hamburger mit den Fingerspitzen noch über den Querbalken. Ohne seine Paraden stünde England kaum im Halbfinale.
Gegen Kroatien wird Pickford sein neuntes Länderspiel bestreiten. Er ist noch immer ein Newcomer, aber einer, der die Sicht der Engländer auf ihre Torhüter verändert hat. So würde es vielleicht Pickford ausdrücken, von dem es heißt, es mangele ihm nicht an Selbstvertrauen.
Als ein Reporter nach dem Viertelfinale fragte, ob er sich jetzt Chancen ausrechne, zum Torhüter des Turniers gewählt zu werden, sagte Pickford: "Klar. Warum denn nicht?"