Vor zwei Jahren, bei der EM, stand Englands Verteidiger Harry Maguire noch im Fanblock, als Zuschauer. Jetzt ist er eine der Entdeckungen dieser WM.
Man wüsste doch zu gerne, wie Kroatiens Trainer Zlatko Dalic seine Spieler vor dem Halbfinale auf die Standardsituationen der Engländer vorbereitet. Vermutlich wird er sie ermahnen, Ecken und Freistöße ganz einfach zu vermeiden. Ob es hilft? Acht ihrer elf Treffer haben die Three Lions nach ruhenden Bällen erzielt, zuletzt schlugen sie gegen die Schweden wieder zu.
Noch bevor Ashley Young die Ecke schlagen konnte, sah man Englands Zielspieler im schwedischen Strafraum miteinander gestikulieren. Da standen sie nun, Harry Kane, John Stones und Harry Maguire, es war eine Sache von Sekunden. Doch die reichten, Schwedens sonst so geordnete Defensive war ein einziges Chaos. Dann schlug Young die Ecke, Kane und Stones blockten Maguire frei, der einen Schritt nach hinten tänzelte, dann entschieden nach vorne preschte und derart hoch absprang, als habe er dafür ein Trampolin benutzt. Kopfball, Tor.
Der Schwede Emil Forsberg, der das entscheidende Kopfballduell verlor, konnte einem nur leidtun. Wer sah, wie Maguire seine gut 100 Kilo in die Luft wuchtete und plötzlich noch deutlich größer als 1,94 Meter wirkte, musste sich fragen: Wer bitte soll diesen Mann aufhalten?
Dieses Tor und der Einzug ins Halbfinale der Weltmeisterschaft sind der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die Maguire in vier Jahren aus der dritten englischen Liga bis in den Fußballerhimmel katapultiert hat. Er ist zusammen mit Trainer Gareth Southgate und Torhüter Jordan Pickford das Gesicht einer Mannschaft, die kaum glaubhafter für den Beginn einer neuen Zeitrechnung im englischen Fußball stehen könnte.
Bei der EM 2016, als einmal mehr überdeutlich wurde, wie sehr Englands Auswahl einen Neuanfang brauchte, stand Maguire mit seinen Brüdern und einigen Freunden noch im Fanblock. Sicher stünde er dort auch in Russland wieder, wenn ihm nicht der eigene Höhenflug dazwischengekommen wäre.
Maguire spielte damals für Hull City in der zweiten Liga, erst zwei Monate später sollte er sein Debüt in der Premier League feiern. Und als er ein Jahr später nach dem Abstieg von Hull wechseln wollte, lagen ihm Angebote der halben Liga vor. Doch Maguire wechselte nicht nach London oder Manchester, sondern lieber in die East Midlands, zu Leicester City.
Maguire wird schon lange nicht mehr unterschätzt
Craig Shakespeare, damals Trainer in Leicester, sagte einmal dem "Telegraph": "Harry hat mich vor allem mit seinen unzähligen Fragen zu unserer Taktik und dem Spielstil beeindruckt." Maguire ist nicht nur ein kantiger Verteidiger, er gilt auch als einer, der ein besonderes Verständnis für den Fußball mitbringt. Und er ist ein überdurchschnittlicher Spieleröffner, beherrscht die langen Flugbälle hinter die Abwehr des Gegners, aber auch den kurzen, präzisen Pass. Von den knapp 400 Profis, die in der vergangenen Saison in der Premier League zum Einsatz kamen, hatten nur 28 eine bessere Passstatistik als Maguire.
Es ist eine andere Seite eines Spielers, den man keinesfalls auf seine beeindruckende Körperlichkeit reduzieren sollte. In England tun sie das schon lange nicht mehr. Und wenn, dann nur mit einem Augenzwinkern. Englischer Humor eben. So war in einem englischen Liveticker während eines WM-Spiels der Engländer zu lesen, Maguire sei der einzige Spieler, den man auch vom Weltraum aus noch erkennen könne. Wahrscheinlich könnte Maguire darüber lachen, das tut er nämlich oft. Und besonders gerne über die Scherze seines Mitspielers Jamie Vardy.
Als Maguire im Herbst 2017 erstmals für England nominiert wurde, tauchte er mit zwei Müllsäcken in der Hand auf, in die er all seine Klamotten verpackt hatte. Vardy, der kurz darauf mit einer sündhaft teuren Sporttasche auftauchte, hatte ihm gesagt, so mache man das bei den Three Lions. Vardy lag fast am Boden vor Lachen, und Maguire? Der lachte einfach mit.
Auch seinen Spitznamen "Slab-Head", Quadratschädel, hat Maguire Vardy zu verdanken. Als Maguire kürzlich bei einem Mediengespräch Rede und Antwort stand, tauchte plötzlich Vardy auf. "Hi, ich bin Jamie Vardy von den Vardy News", sagte er und an Maguire gewandt: "Was ist der Durchmesser ihres Kopfes?" Eine Antwort bekam er nicht, Maguire lachte und lachte und lachte.