Till Wilhelm

Journalist & Fotograf, Berlin

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Rezension

Tyler, IGOR und das andere Ich

DIESER ARTIKEL ERSCHIEN ZUERST BEI SPLASH! MAG (REST IN PEACE)

Zwei Jahre sind wieder vorbei, es ist wieder soweit: Tyler, The Creator hat mit „IGOR“ sein sechstes Studioalbum veröffentlicht. Viel war vorab nicht bekannt, die Featureliste sieht mit Frank Ocean, A$AP Rocky, Pharrell Williams und einigen anderen wie immer ordentlich beeindruckend aus und auch der visuelle Output war bis hierhin on point. Aber was ist das für ein Album, das Tyler Okonma hier ohne große Promo in die Welt herausgeschickt hat? Vielleicht sein größtes Werk.

Am 26. April 2019 sehe ich es zuerst auf Instagram: Ein internes Dokument von Sony wurde geleakt, darauf zu lesen: „Noteworthy projects for the quarter ending June 30, 2019“. Und darunter: „Tyler, The Creator – T.B.D.“ Das ging dann auch durchaus schnell durchs Netz, aber: Kein Titel, kein Releasedatum, keine Vorabsingles. Wie sollte man sich darauf vorbereiten? Ab dem 3. Mai wurde das neue Projekt dann immer wieder geteasert: Wunderschöne, kurze Videos mit Songausschnitten lud unser liebster Flower Boy ins Netz, Releasedatum für das Album: 17. Mai 2019. Aus diesem Einblick konnte man allerdings noch lange nicht raushören, in welche Richtung das neueste Projekt des 28-Jährigen gehen wird. Klar war: Wilder als „Scum Fuck Flower Boy“, durchdachter als „Cherry Bomb“.

Das führt uns zum gestrigen Abend: Nachdem ich dies und das erledigt hatte, saß ich auf der Couch, die Augen auf der Laptop-Uhranzeige, die Finger auf der Apple Music-App. Sekündlich aktualisierte ich die Artist Page. Aber nichts da, Tyler zieht das weltweite Release um Mitternacht New Yorker Zeit durch. Also: heute Morgen aufgestanden, noch vor’m Duschen das Album heruntergeladen. Weg zur Uni – Play.

Der erste Song überrascht mich zunächst mit seinem dröhnenden Synthie und den roughen Drums, Tyler singt clean, weil er es liebt, nicht, weil er es kann. Es ist „IGOR‘S THEME“. Verschiedenste Motive, die den Rest das Albums durchziehen, werden hier schon mal angedeutet. Und: „I’m Ridin‘“ Tylers zweite Lieblingsbeschäftigung nach der Musik scheint mittlerweile das Autofahren zu sein. So steht auch in seinen Hinweisen zum Album: „I BELIEVE THE FIRST LISTEN WORKS BEST ALL THE WAY THROUGH, NO SKIPS. FRONT TO BACK. […] SOME GO ON WALKS, SOME DRIVE, SOME LAY IN BED AND SPONGE IT ALL UP.“ So ist es wohl am besten.

Nach diesem weitestgehend instrumentalen Intro säuselt uns Tyler ins Ohr: „For real, for real this time.“ Der Track handelt, wie der größte Teil des Albums, von Liebe. Von einer Beziehung mit all ihren Höhen und Tiefen. „You make my earth quake“ singt er da und trifft genau die Töne, die das frische Verlieben braucht. Doch das Gefühl ergreift nicht alle Teile des Instrumentals: Die Bass-Synths bleiben tief und zerrend, wie sie uns auch auf dem Rest des Albums begegnen. Sie verknüpfen sich mit den Downsides des höchsten aller Gefühle: „It’s making my heart break, don’t leave“. Auch dieses Motiv wird wiederkehren, zum Beispiel auf „NEW MAGIC WAND“

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Albums macht sich auf diesem Song bemerkbar: Der Einfluss Pharrell Williams‘. Nicht umsonst sagt er über dessen Band N.E.R.D in seinem GQ-Interview: „my favorite band in the world, […] that shaped everything for me.“ Den Einfluss merkt man auf „IGOR“ stärker als bei jedem Album zuvor, zumindest stilsicherer. Nicht umsonst lautet eine der prägnantesten Zeilen auf „EARFQUAKE“: „‘Cause when it alle comes crashing down, I need you“.

Auf „I THINK“ hören wir dann einen der rar gestreuten Rap-Parts des Albums. Aber auch da hat Tyler sich weiterentwickelt: Schienen Gefühle und Themen auf „Flower Boy“ in den Vocals eher immer wieder an die Oberfläche der BARS durch, konzentrieren sich die Parts auf „IGOR“ ganz genau auf die behandelten Motive. Tylers Lyricism wirkt auf diesem Album konzentrierter und fixierter, ohne seine instrumentale Variabilität zu verlieren.

Das darauffolgende Interlude, gesprochen von Jerrod Carmichael, spricht die Schwierigkeit an, unbewusst nach etwas zu streben, vor dem man sein Leben lang weggelaufen ist. Diese Sätze leiten nicht nur den nächsten Song ein, sondern rufen auch noch in Erinnerung, dass „IGOR“ immer vor dem Hintergrund von Tylers Suche nach der eigenen Sexualität zu sehen ist. Auf „RUNNING OUT OF TIME“, einem der ruhigsten Songs des Albums, kommt dann die innere Klarheit: „Stop lying to yourself“.

Auf „NEW MAGIC WAND“, kommt dann die Sängerin Santigold, die schon auf der letztjährigen Weihnachts-EP vertreten war, zu Wort. Gerade dieser Song und der darauffolgende, „A BOY IS A GUN“, zeigen eindrücklich, wie variabel die eigentlich für Tiefe bekannt und beliebt gewordene Stimme Tylers einsetzbar ist. Sie schmiegt sich auch in den Höhen melodiös an die Instrumentals und klingen nach einer ganz anderen Persönlichkeit, einer Sehnsucht nach einem anderen Ich. Auf „PUPPET“ gibt es dann noch mal einen einzigartigen Rap-Part und einen wunderschönen Beatbreak, abgeschlossen wird dieser Mittelteil, in dem Tyler eigentlich die größten Probleme beschreibt, die man in einer Beziehung haben kann, mit den Worten: „But at some point, you come to your senses.“

Diese läuten den Abschluss des Albums ein. Mit „WHAT’S GOOD“ stellt sich Tyler wieder in den Mittelpunkt, lässt alle Wut raus und präsentiert damit auch den einzigen richtigen Spitter-Songs auf dem Album. Die letzten drei Songs liefern eine geklärte Sicht auf das Beziehungsende, auf „GONE, GONE / THANK YOU“ wahrscheinlich mit dem hellsten Instrumental des Albums und Lines voller klarem Schmerz, bei dem mir Gänsehaut und feuchte Augen gleichzeitig kommen.

Das große Vorbild Pharrell schaut dann auf dem letzten Song „ARE WE STILL FRIENDS?“ nochmal vorbei, um dem Song nicht nur seinen eigenen, sondern dem ganzen Album einen Approved-Stempel aufzudrücken. So klingt der Closer auch nochmal ganz stark nach N.E.R.D im besten Sinne. „IGOR“ könnte vielleicht für manche das beste Tyler-Album bisher sein. Mit Sicherheit ist es etwas ganz anderes als die bisherige Musik aus dem Hause GOLF WANG und trotzdem die logische Konsequenz aus „Flower Boy“ und „Cherry Bomb“. Kaum ein Rapalbum, wenn auch deutlich kein glattgeleckter Pop. Ein Album, durch das sich Tyler, The Creator endgültig nicht mehr in Schubladen stecken lässt. Eines, das die Vielseitigkeit von Tyler klarstellt und zeigt, was herauskommt, wenn der 28-Jährige fokussiert und mit rotem Faden arbeitet. Ein radikales, herausragendes Werk, das den eigenen Maßstab und den der Szene auf ein neues Level hebt.