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Auslandsadoptionen sind für Eltern oft die letzte Chance, eine Familie zu gründen. Dahinter steht eine mächtige Lobby - bis hin zum Kinderhandel: Glück auf Bestellung

STRASSBURG. Manchmal muss man einen Umweg nehmen, um ans Ziel zu kommen. Roelie Post wäre in vier Stunden mit dem Auto von Brüssel nach Straßburg gefahren. Stattdessen fuhr sie mit dem Zug nach Amsterdam und flog von dort nach Straßburg. Statt vier war sie mehr als acht Stunden unterwegs, damit sie dieselbe Maschine wie die Regierungsvertreter nehmen konnte. Sie wollte mit ihnen ankommen.Roelie Post kennt die Spielregeln, die bei Verhandlungen Eindruck machen. Zwanzig Jahre lang war sie selbst Beamtin in der Europäischen Union, von 1999 bis 2005 zuständig für die EU-Erweiterung und Auslandsadoptionen aus Rumänien. Sie kennt auch die Umwege, die man in Brüssel nimmt, um ans Ziel zu kommen. Das macht sie für ihren ehemaligen Arbeitgeber zu einer Gegnerin, die man ernst nehmen muss.Als Kommission und Europarat Anfang Dezember rund 150 Experten und Regierungsvertreter zu einer zweitägigen Konferenz nach Straßburg einluden, ging es offiziell um die Aktualisierung einer Konvention aus dem Jahr 1967. Roelie Post, 50, dagegen wusste es besser. In Wirklichkeit, sagt sie, sei es darum gegangen, einen Markt zu öffnen, der seit 2001 verschlossen ist. Damals hatte Rumänien ein Moratorium gegen Auslandsadoptionen verhängt. Nun wolle die EU unter dem Deckmantel der Einführung einer so genannten Europäischen Adoption Kinderhandel legalisieren, sagt Roelie Post. Tatsächlich bestätigte eine Mitarbeiterin der Kommission einem rumänischen Journalisten, dass das Ziel der Konferenz das Ende des Moratoriums sei.Nach dem Ende des Kommunismus wurden innerhalb von zehn Jahren mehr als 30 000 Kinder ins Ausland vermittelt. Die meisten von ihnen waren keine Waisen. Mitunter wurden Kinder zur Adoption freigegeben, deren Eltern dazu nie ihr Einverständnis gegeben hatten. Eltern wurden am Besuch von Kinderheimen gehindert, um die Kinder als alleingelassen auszugeben - eine Bedingung für die Adoption. Adoptionsbewerber aus Rumänien selbst hatten keine Chance. Sie konnten sich das nicht leisten. Etwa 30 000 Dollar an Gebühren zahlten Amerikaner für ein Kind. Das macht bei 30 000 Kindern einen Umsatz von 900 Millionen Dollar. Eine Zahl, die die ehemalige Leiterin der rumänischen Adoptionsbehörde, Theodora Bertzi, im Jahr 2006 für "nicht übertrieben" hielt. Im Gegenteil: sie schätzte die Summe, die durch Adoptionen verdient wurde, sogar noch höher, auf rund eine Milliarde Dollar. Diese Unsumme schuf in Rumänien ein unkontrolliertes, mafiöses System aus Vermittlungsagenturen, die vor allem am Profit und nicht am Wohl der Kinder interessiert waren.Etwa die Hälfte dieser Kinder kamen in die USA, die andere Hälfte nach Europa, auch nach Deutschland. Heute leben in Rumänien 22 000 Kinder in stark verbesserten, staatlichen Heimen; weitere 21 000 sind bei Pflegeeltern untergebracht. Nur 700 bis 800 gelten als adoptionsfähig. Auf jedes dieser Kinder warten zwei bis drei rumänische Paare, wie der Vertreter von Unicef in Rumänien bestätigt. Eigentlich bräuchte es also keine internationalen Bewerber.Per KatalogKaum hatte Rumänien das Moratorium 2001 durchgesetzt, prozessierte eine amerikanische Vermittlungsagentur dagegen - ohne Erfolg. Die USA forderten fortan zahlreiche Ausnahmen. Angeblich ging es dabei nur um Fälle, deren Verfahren vor dem Stopp begonnen wurde. Doch die meisten wurden erst danach in die Wege geleitet. Bis zum Jahr 2004 wurde im Schnitt fast täglich eine Ausnahme durchgesetzt - auf diese Weise kamen noch einmal rund 1 000 Kinder ins Ausland, wie aus einem Schreiben der rumänischen Adoptionsbehörde hervorgeht. Rumänien wurde zu einem Selbstbedienungsladen. Jemand wie Roelie Post, die nicht wegsehen wollte, störte da nur. Einflussreiche Europapolitiker, die für ein Ende des Moratoriums eintraten, beschwerten sich über sie. Sie spürte den Druck innerhalb der EU-Behörde.Als ihr Chef Günther Verheugen sein Amt als EU-Kommissar für die Erweiterung abgab, wurde Roelie Post über Nacht versetzt, offiziell wegen Differenzen mit ihrem Referatsleiter und wegen Sicherheitsrisiken, denn inzwischen fühlte sie sich mehrfach bedroht und verfolgt. Sie selbst hätte sich deshalb nicht versetzen lassen, sagt sie, aber die Behörde argumentierte, eine Versetzung schütze sie. Als sie aus dem Urlaub zurückkam, musste sie in einem leeren Büro arbeiten und "in einem Job, den es nicht gab", wie sie sagt. Sie fühlte sich gegängelt, wurde krank.Als Therapie schrieb die Niederländerin ihre Erlebnisse auf und verlegte das Buch im Selbstverlag. Der Titel "Romania - For Export Only" klingt ganz bewusst nach Angebot und Nachfrage. Das Buch erschien 2007. Zahlreiche im Buch genannte Personen, deren problematische Rolle sie beschrieb, bestellten es bei ihr. Aber niemand wagte es, Klage einzureichen. Im September bestätigte ihr ehemaliger Chef Verheugen gegenüber dem WDR all das, was Roelie Post aufgeschrieben hat. "Es gibt eine sehr gut organisierte Lobby, die unter dem Deckmantel von Adoptionen in Wahrheit eine Art von Kinderhandel betreibt", sagte der Europa-Kommissar und sprach von "Kinderbeschaffungspolitik". Er habe "mit eigenen Augen gesehen, dass in interessierten Kreisen Kataloge gehandelt wurden, in denen man sich ein Kind aussuchen konnte".Als 2001 der rumänische Premierminister Adrian Nastase in Washington den amerikanischen Verteidigungsminister Colin Powell besuchte, ging es zwar formell um Rumäniens Beitritt zur Nato. Doch eigentlich wollte Powell über Tausende amerikanische Adoptiveltern reden, die auf ihre Kinder warteten. Powell forderte, es müsse Ausnahmen geben vom Adoptionsstopp. Verheugen sagte, dass die USA "eine politische Verbindung hergestellt haben zwischen der Freigabe von Kindern zur Adoption, und dem Beitritt Rumäniens zur Nato, das habe ich nicht für möglich gehalten." Als er es erfuhr, wandte er sich an die amerikanische Botschaft. Dort bestätigte man der EU schriftlich, wenn das Moratorium fortbestehe, könne man nicht garantieren, dass amerikanische Abgeordnete für den Beitritt zur Nato stimmten.Der politische Druck sei "immer wieder aus denselben Ländern" gekommen, sagte Verheugen: aus Frankreich, aus Italien, Spanien, aus Israel und aus den USA. Der Bürgermeister von Bukarest verkündete die Ausnahmen gar auf einer "Lobbyliste". Für jedes adoptierte Kind stand ein Spitzenpolitiker Pate: US-Senatoren wie Edward Kennedy, John Kerry, sogar Romano Prodi, der EU-Kommissionspräsident. "Ich war entsetzt", sagte Verheugen. "Ich habe dann in meinem wie ich glaube emotionalsten Auftritt in meinen ganzen Jahren hier in Brüssel die Kollegen ins Bild gesetzt." Prodi zog sich zurück, aber der italienische Staatschef Silvio Berlusconi forderte und erhielt hundert Ausnahmekinder für Adoptiveltern. Im Interview mit dem WDR zog Verheugen eine ernüchternde Bilanz: "Die Frage der rumänischen Kinder war für mich eine der bittersten und schmerzhaftesten Erfahrungen meines ganzen politischen Lebens."War? Beginnt nun alles von vorne? Bei der Konferenz in Straßburg machten Kommission und Europarat nun politischen Druck, indem sie sich mit Lobbygruppen gleichgeschlechtlicher Paare zusammentaten. In Straßburg waren Leute wie Robert Wintemute aus London eingeladen, ein Professor für Menschenrechte, um über "gesellschaftliche Veränderungen" zu sprechen, die man bei der Frage, wer adoptieren dürfe, berücksichtigen müsse. Am Ende des Vortrags sagte er, dass er schwul und 52 Jahre alt sei und gerne gemeinsam mit seinem Freund ein Waisenkind adoptieren möchte.Die Vorbereitungen für die Öffnung des Marktes in Rumänien laufen seit Jahren. Einer der Drahtzieher ist der Chef der französischen Adoptionsorganisation SERA, Francois de Combret. Er war in Straßburg nicht anwesend, aber die Konferenz atmete seinen Geist. Vor drei Jahren hatte die Adoptionslobby an gleicher Stelle die Abgeordneten im EU-Parlament dazu gebracht, das Ende des Moratoriums zu fordern. Kommission und Parlament begannen an einer Europäischen Adoptionspolitik zu arbeiten. Der EU-Abgeordnete Jean-Marie Cavada forderte damals: "Seit fünfzig Jahren lässt Europa alles Mögliche in Europa frei zirkulieren. Wir alle haben einen Pass mit Sternchen drauf. Außer den Kindern in den Waisenhäusern, die sollen keine Europäer sein. Denen sagt man: Du bleibst, wo du bist. Wir wollen das ändern." Nach dem freien Warenverkehr müsse nun der freie Verkehr von Kindern gewährleistet sein.Die Welt in Rot, Grün und BlauDass Rumänien sich nicht für die Welt öffnen will, ist für die Adoptionslobby kein Problem. Jede Adoption innerhalb Europas soll künftig europäisch sein. Registriert und überwacht von einer europäischen Adoptionsbehörde. Das würde die Abschaffung der nationalen Adoption bedeuten. Nicht mehr Kommunen, sondern die EU wäre zuständig. Am Ende des zweiten Konferenztages präsentierte die Vertreterin der Kommission dazu Studien, die angeblich belegen, dass sich die Bürger in Europa eine solche europäische Regelung wünschten. Die Studien ließ sich die EU mehr als 300 000 Euro kosten. Kennen die Bürger, die man befragte, den wahren politischen Hintergrund? Wohl kaum. Alle im Saal, die davon hören, waren überrascht. Alle - mit Ausnahme von Roelie Post.Sie bezieht übrigens ihr Gehalt weiter aus Brüssel und darf mit Erlaubnis der EU ganz offiziell in ihrer Organisation gegen Kinderhandel ("Against Child Trafficking") arbeiten. Eine merkwürdige Situation, denn immerhin bekämpft ihre Organisation die Politik der EU. Roelie Post bezahlt alle Ausgaben für ihr Engagement selbst. In ihrer Arbeit wird sie von Arun Dohle, 36, aus Aachen unterstützt. Roelie Post wohnt 200 Meter von der EU-Zentrale in Brüssel entfernt in einem alten Haus. Es umfasst vier Etagen, im Souterrain haben Arun und Roelie zwei Arbeitszimmer. Ihr Mitarbeiter Arun Dohle wurde in Indien von Deutschen adoptiert. Vor zehn Jahren gab er seinen Job als Unternehmensberater auf, um Unregelmäßigkeiten bei seiner eigenen Adoption nachzugehen und seine Mutter zu suchen. Vergeblich. Er vermutet, dass er das uneheliche Kind eines sehr einflussreichen Inders ist, der seine Nachforschungen behindert, um seinen Ruf zu schützen.Roelie und Arun verbindet ein gemeinsames Ziel: die Abschaffung der Auslandsadoption. An der Wand ihres Büros hängt eine Weltkarte mit grünen, roten und blauen Stecknadeln. Grün sind die "offenen" Adoptionsländer, rot die Länder, die die Türen geschlossen haben. Blau steht für die Regionen, in denen Roelie Post und Arun Dohle bisher recherchiert haben: Malawi, Äthiopien, China, Peru und Indien. Ihr Ziel ist eine rote Welt. In fünf Jahren sollen Auslandsadoptionen gestoppt sein. Bis August 2011 ist Roelie Post von der EU freigestellt, dann kann die EU wieder über sie verfügen. Womöglich muss sie dann ihre Arbeit gegen illegalen Kinderhandel aufgeben.Dabei ist das Engagement der beiden notwendig. Denn die Welt der Adoptionen ist eine Welt ohne echte Kontrolle. Das Büro der Haager Konvention, die die Regeln aufstellt, ermittelt so wenig wie staatliche Behörden. Dabei wären unabhängige Untersuchungen überall angesagt.Der größten deutschen Vermittlungsagentur International Child Care Organisation wurde wegen Unregelmäßigkeiten die Lizenz entzogen, aber ein Verfahren steht immer noch aus. Family For You, die größte Agentur in Österreich, ist in Konkurs gegangen, aufgrund von Schadenersatzforderungen, weil sie Kinder fahrlässig fälschlich als Waisen vermittelt hat. Die Staatsanwaltschaft unternimmt nichts. Pro Infante? Geschlossen, weil die Agentur falsche Waisen aus Indien nach Deutschland vermittelte. Hunderte Fälle wurden nie untersucht und nie aufgeklärt. Terre des Hommes, die in den 70er-Jahren größte deutsche Agentur, hat die Vermittlung eingestellt, weil die Mitglieder es wegen Unregelmäßigkeiten so wollten.Madonnas schlechtes BeispielRoelie Post und Arun Dohle stoßen immer wieder auf Fälle, bei denen Papiere manipuliert und Kinder fälschlicherweise als Waisen vermittelt wurden, weil jemand daran gut verdiente. Hundert solcher Fälle haben sie bislang gesammelt. Sie glauben, dass weit mehr Adoptionen fehlerhaft verlaufen. Arun Dohle ist 2009 eine Woche durch Malawi gereist und hat mit Menschenrechtsgruppen, Journalisten und Richtern über Madonnas geplante Adoption gesprochen. Das rechtliche Konzept einer Adoption und seiner Konsequenzen sei dort nicht bekannt gewesen, sagt Roelie Post. Zwar hat das Gericht in zweiter Instanz Madonnas Adoptionsgesuch bewilligt. Dennoch werten beide ihren Einsatz als Erfolg. Ihre Einschätzungen und Argumente seien in vielen Berichten, bis hin zu Gerichtspapieren, aufgetaucht. Vor allem aber sei es der Adoptionslobby nicht geglückt, Malawi für Adoptionen zu öffnen. Madonnas Adoption sei ein Einzelfall geblieben.Die Arbeit von Dohle und Post sei wichtig, sagt Wolfgang Weitzel, der Leiter der Bundeszentralstelle für Auslandsadoption in Bonn, denn es gebe zu viele Leute, die ihren Kinderwunsch rücksichtslos durchsetzten. Es sei notwendig, Missstände aufzuklären. Der Verlauf der Konferenz in Straßburg, sagt er, "hat mir Angst gemacht".Alles schien gut inszeniert zu sein. Eine junge Teilnehmerin, die sich als Maria Mirabella vorstellte, sagte, sie sei einst aus einem Heim in Rumänien nach Italien adoptiert worden und setze sich seit Jahren für ein Ende des Moratoriums ein. Als sie ihr Heim in Rumänien besucht habe, hätten die Kinder sie gebeten, dass sie für ihre Adoption kämpfe. "Mira, tu was, such uns eine Familie, haben sie gesagt. Ich bin gekommen, um Ihnen diesen Wunsch mitzuteilen."Thomas Klippstein, der Chef der deutschen Delegation, die das Justizministerium nach Straßburg entsandt hatte, griff zum Mikrofon und sprach von "vielen Gemeinsamkeiten", aber auch "erheblichen Unterschieden" unter den Teilnehmern. Die Haager Konvention sei verbesserungswürdig, aber er sei "nicht überzeugt, eine zusätzliche Rechtsebene einzuziehen". Sofern es bei diesem Nein bleibt, ist die Europäische Adoption erledigt.Roelie Post hatte Klippstein bereits im Vorfeld mehrfach gesprochen und über die Hintergründe aufgeklärt. Er sei interessiert gewesen, sagt sie, habe aber die Zusammenhänge nicht glauben wollen. Bis zur Konferenz. Der Unmut über den Verlauf der Debatte war ihm anzusehen; Roelie Post und Arun Dohle dagegen wirkten zufrieden. "Wir sind nicht gegen Adoption, sondern gegen Kinderhandel", sagt Roelie Post. "Leider lässt sich bei Auslandsadoptionen beides nicht voneinander trennen."


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Deutschland kommen auf ein freigegebenes Kind etwa zehn Eltern, die ein Kind zur Adoption suchen. Motive für eine Auslandsadoption sind laxere Bestimmungen und kürzere Wartezeiten. Etwa ein Drittel der in Deutschland adoptierten Kinder, insgesamt 709, kam im Jahr 2007 aus dem Ausland, die meisten aus Russland und der Ukraine.Weltweit führend bei Auslandsadoptionen sind die USA. In Europa liegen Italien, Spanien und Frankreich an der Spitze. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist der Anteil fremdländischer Kinder in Schweden und Norwegen am größten.


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Foto: Kinder in der rumänischen Provinz. Nach Ende des Kommunismus wurden 30 000 Mädchen und Jungen ins Ausland vermittelt.


Foto: Aktivisten: Arun Dohle und Roelie Post (r.) kämpfen gegen die Einführung einer europäischen Adoption. Sie meinen, dass die EU damit den Kinderhandel fördere.

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