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Richten und berichten / 2010 ---

Der Reporter Michael Graczyk war 300 Mal Zeuge, wenn ein Todesurteil in Huntsville, Texas, vollstreckt wurde. Für ihn ist das zur Routine geworden - auch wenn er das so nicht sagt. 

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Von Thomas Schuler


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Michael Graczyk erinnert sich gut an Raymond Kinnamon und dessen Verzweiflung. Kinnamon dachte, solange er rede, könne man ihm nichts tun. Der verurteilte Mörder sagte bei seiner Hinrichtung: "Ich bin nicht bereit zu gehen." Und redete und redete. Nach einer halben Stunde begann der Henker seine Arbeit. "Direktor, Sie haben mich nicht ausreden lassen," waren Kinnamons allerletzte Worte, bevor er bewusstlos wurde. Das war 1994. "So was kann man nur beschreiben, wenn man dabei war," sagt Michael Graczyk. "Deshalb sind wir hier."

Henker, Pfarrer, Journalist

Wir, das heißt: AP, Michael Graczyk und sein Laptop. Hier bedeutet: Der Reporter der Nachrichtenagentur Associated Press ist seit mehr als 25 Jahren fast immer dabei, wenn Menschen in Huntsville, Texas hingerichtet werden. Weit über dreihundert Mal hat er dabei zugesehen, manchmal als einziger Zeuge neben Henker, Pfarrer und Gefängnispersonal. Er selbst hat aufgehört zu zählen. Hinrichtungen sind für ihn Routine, auch wenn er das so nicht sagt. Als die Behörden Mitte 2009 die Zeugenlisten durchgingen, stand bei 315 von 439 Hinrichtungen sein Name auf der Liste; für weitere 80 Hinrichtungen fehlten Angaben. Gut möglich also, dass er schon bald 350 Hinrichtungen gesehen hat. Ein "makabrer Rekord", wie CNN anmerkt. Zugleich eine wichtige Aufgabe. Graczyk empfindet sich als Watchdog, als Wachhund, der aufpasst, ob alles mit rechten Dingen zugeht, wenn der Staat tötet.

Sicher ist, dass 1 200 Menschen seit der Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 in den USA hingerichtet wurden - davon seit 1982 allein 454 in Texas. Graczyk berichtet 1984 über das Ende der zum Tode Verurteilten, sein Name taucht aber erst zwei Jahre später auf der Zeugenliste auf. Sieben Exekutionen waren es bislang in diesem Jahr, zwei sind für diesen Mittwoch und Donnerstag und weitere neun sind für Mai bis August angesetzt. Wenn alles läuft wie immer, dann wird alles in sieben Minuten geschehen sein - so lange dauert eine Hinrichtung durchschnittlich in Texas.

Huntsville liegt eine Autostunde nördlich von Graczyks Büro in Houston. In der Gefängnisverwaltung ist ein einstimmiger Beschluss des Stadtrats ausgestellt: Der Staat Texas dürfe gerne noch weitere Gefängnisse im Stadtgebiet bauen, die 35.000 Einwohner freuten sich über jede neue Anlage. Hinrichtungen wurden vor Jahren von Mitternacht auf 18 Uhr verlegt, "um es allen Beteiligten leichter zu machen", wie es damals offiziell hieß.

In Texas interessieren sich nur noch wenige Journalisten für Hinrichtungen. Das Texas Department of Criminal Justice hält fünf Plätze für Journalisten bereit, doch immer öfter nehmen nur drei oder vier Reporter teil. Zeitungen drucken Agenturberichte, TV-Sender berichten oft gar nicht. Keine der großen Zeitungen aus Houston, Dallas, Austin oder San Antonio, schickt zu jeder Hinrichtung einen Reporter. Nur Graczyk ist stets da, häufig nur in Gesellschaft eines Lokalreporters des Huntsville Item. Selten kommt es vor, dass ein Kollege für ihn einspringt."Es ist halt mein Job," sagt der 60-Jährige, einer wie jeder andere, nur ein bisschen spannender als Stadtrat oder der Streit um die Schuluniform. Nüchtern, selbstbeherrscht, im Tonfall des Chronisten erzählt Graczyk von seinen Erfahrungen. Bei einem Todeskandidaten fiel die Nadel raus, ein Vorhang ging zu, damit man nicht sah, wie die Henker erneut stachen.Nur dabei sein, sei nicht genug, schrieb einmal eine Leserin aus Texas, und kritisierte Graczyks Berichte als "müde Auflistung von Todeszeitpunkt, letzten Worten, recycelten Fakten und dem obligatorischen Das-ist-Gerechtigkeit-Zitat." Sowohl Gegner als auch Befürworter der Todesstrafe wünschen sich eine umfangreichere Berichterstattung bis hin zu Live-Übertragungen. Die Befürworter, um potenzielle Verbrecher abzuschrecken. Die Gegner, um Protest zu stimulieren.

Graczyk hält sich aus solchen Diskussionen raus. Wenn Graczyk den Bildschirm seines tragbaren Computers aufklappt, ist dort bereits die vorgefertigte Meldung vom Tod des Häftlings zu lesen. Nur Todeszeitpunkt, letzte Worte und besondere Vorkommnisse fehlen; Graczyk hat Teile des Berichts bereits kalt geschrieben, wie das unter Journalisten heißt.

Er zähle die Hinrichtungen nicht mehr, sagt er. "Du gewöhnst dich an das Prozedere. Ich will nicht von Routine sprechen, denn es ist nicht Routine, wenn der Staat ein Leben nimmt. Aber weil sich der Vorgang so oft wiederholt hat, muss ich mich nicht mehr um jedes Detail kümmern. Anfangs habe ich noch berichtet, dass ein Häftling dreimal gehustet und seinen Kopf gedreht hat. Jetzt schreibe ich nur wirklich Ungewöhnliches."So wie vor etlichen Jahren bei Kenneth Ray Ransom, der - zusammen mit anderen - vier Jugendliche erstochen hatte. Ransom wurde auf eine Liege geschnallt und der Henker stach Nadeln in seine Arme. Hinter Plexiglas wartete neben Graczyk auch Ransoms Mutter, und hörte zu, als der 34-Jährige über den Lautsprecher seine Unschuld beteuerte. Er sagte seiner Mutter, er liebe sie, und sie solle bitte nicht weinen. Doch irgendwann zwischen 18.12 Uhr, als der Henker, hinter einer Mauer versteckt, das Gift in Ransoms Arme pumpte, und 18.20 Uhr, als Ransom für tot erklärt wurde, warf sich seine Mutter zu Boden und begann hysterisch zu schreien. Wärter setzten sie in einen Rollstuhl, und schoben sie hinaus. "Das mit der Mutter, das war ein trauriger Moment," sagte Graczyk hinterher. Aber um so einen Vorfall zu beschreiben, dazu sei er da.

Die Todeskandidaten grüßen

Graczyk interviewt die Todeskandidaten einige Tage vor der Hinrichtung, aber er versucht, das Ereignis nicht zu nahe kommen zu lassen. Es kann vorkommen, dass Todeskandidaten ihn mit Namen grüßen, oder - weil keine Angehörigen zusehen - mit ihm sprechen wollen, bevor sie sterben.Sein Vorgänger bei AP in den 60er-Jahren war Zeuge bei mehr als 180 Hinrichtungen. Die Erfahrung machte aus dem Befürworter einen Gegner der Todesstrafe. Graczyk sagt nicht, was er von der Todesstrafe hält, um objektiv und unangreifbar zu bleiben, wie er sagt. Aber ist zusehen neutral? Nichts lässt darauf schließen, dass er eine ähnliche Entwicklung wie sein Kollege durchmacht. Im Januar berichtete er über eine Studie, wonach durch die zwei Dutzend Hinrichtungen im vergangenen Jahr bis zu 60 Menschenleben gerettet worden seien. Eine Erfolgsmeldung.

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