Thomas Hürner

Journalist und Autor, München

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Der Vergessene und der Volksheld

Der Fußball kann manchmal das ungerechteste aller Spiele sein, weil Nuancen über Erfolg oder Misserfolg entscheiden, vor allem aber wegen der Ungewissheit darüber, ob diese Nuancen nicht einfach nur Glück oder Pech gewesen sein könnten. Héctor Cúper, der Trainer der ägyptischen Nationalmannschaft, hätte in seiner Karriere allen Grund gehabt, sich auf die Suche nach Erklärungen zu begeben, warum am Ende immer andere als die strahlenden Sieger hervorgingen. „Ich glaube nicht an einen bösen Fluch, der auf mir lastet", sagt er, „sonst wäre ich mit meinen Mannschaften nie so weit gekommen."

Um die Jahrtausendwende war der Argentinier Cúper einer der begehrtesten Trainer in Europa, stand mit dem FC Valencia zweimal in Folge im Finale der Champions League. Nach dem ersten Endspiel, einer 0:3-Niederlage gegen Real Madrid, hatte der Argentinier gesagt, er würde sein „Leben geben, um diese Chance noch mal zu erhalten". Im Jahr 2001 ging es gegen den FC Bayern München ins Elfmeterschießen, Torwart Oliver Kahn wurde zum Finalhelden von San Siro. Wieder war Cúper gescheitert. Er wechselte zu Inter Mailand, einer in jener Zeit mit Weltstars gespickten Mannschaft, die jedoch über ein Jahrzehnt ohne Meistertitel geblieben war. Cúper wurde geholt, um an die Erfolge vergangener Tage anzuknüpfen, verspielte aber den bereits sicher geglaubten „Scudetto" mit einer Niederlage am letzten Spieltag. In seiner zweiten Saison spielte Inter im Halbfinale der Champions League gegen den Stadtrivalen AC Mailand. Nach zwei Unentschieden im eigenen Stadion war Inter ausgeschieden.

Cúper wurde wenige Monate später entlassen. Verziehen haben ihm die Inter-Anhänger bis heute vor allem eines nicht: dass der brasilianische Stürmer Ronaldo wegen ihm 2002 zu Real Madrid wechselte. Cúper war es suspekt, dass ein Spieler größer war als die Mannschaft. Das ließ er den zweimaligen Weltfußballer spüren.

Bangen nach Ramos-Foul

Bei Mohamed Salah hält das Cúper nun anders. Auch weil er weiß, dass die Verehrung des Angreifers vom FC Liverpool in der Heimat eine übermenschliche, irrationale Dimension angenommen hat. Aus der Tatsache, dass bei der letzten Präsidentschaftswahl in Ägypten mehr als 1,7 Millionen Wähler ihre Stimme ungültig gemacht hatten, strickten heimische Medien kurzerhand die Schlagzeile: „Mehr als eine Million Stimmen für Salah." Einmal in der Welt, ließ sich diese Geschichte nicht mehr einfangen.

Für die Menschen in Ägypten ist Salah ein Volksheld, in der Hauptstadt Kairo prägt sein Gesicht auf T-Shirts und Fahnen das Straßenbild. Als das ägyptische Team das WM-Quartier in Grosnyj, der Hauptstadt Tschetscheniens, bezogen hatte, ließ Putins Statthalter, der Gewaltherrscher Ramsan Kadyrow, den Superstar aus dem Hotel holen, um sich mit Salah im Stadion zu zeigen. Die zu erwartende propagandistische Vereinnahmung hatte begonnen.

Nach seiner Schulterverletzung im Champions-League-Finale gegen Real Madrid bangt ganz Ägypten um den Einsatz bei der Weltmeisterschaft. Es ist für das Land und seine 95 Millionen Einwohner die erste seit 28 Jahren. Salah konnte am Mittwoch zum ersten Mal wieder mit der Mannschaft trainieren, ein Einsatz im ersten Gruppenspiel gegen Uruguay an diesem Freitag (Anpfiff 14 Uhr/ F.A.Z.-Liveticker zur Fußball-WM und ARD) hält Cúper für sehr wahrscheinlich. Zu Beginn lässt er ihn freilich erst einmal auf der Bank, um Salah womöglich im Spielverlauf einzusetzen.

„Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, wird er spielen. Mo hat sich sehr schnell erholt, wir haben uns sehr um ihn gekümmert." Cúper wisse, dass „keine Mannschaft der Welt einen Spieler wie Salah ersetzen" könne. Als jemand, dem „Teamwork immer schon das Wichtigste" ist, wolle er das im Fall der Fälle zumindest versuchen. Im Vordergrund steht für ihn aber vor allem eins: „Die Menschen in Ägypten haben etwas gebraucht, um sich ausdrücken - und diese Rolle haben wir eingenommen."

Cúper wurde 2015 Nationaltrainer Ägyptens. Zuvor war er für viele Jahre von der großen Fußballbühne verschwunden gewesen. Ägypten und sein Fußball hatten grausame Jahre hinter sich: Die Hoffnung, die der Arabische Frühling 2011 mit sich brachte, starb auch im Jahr darauf bei der Stadionkatastrophe von Port Said, bei der 74 Menschen ums Leben kamen und in deren Folge die ägyptische Liga für zwei Jahre ausgesetzt wurde. Bis heute sind viele Ägypter fest davon überzeugt, dass es die Rache der Sicherheitskräfte an den an Demonstrationen beteiligten Fußballfans war, die diese ihre Leben kostete.

Die ägyptische Nationalmannschaft, vorher Seriensieger im Afrika-Cup, schaffte es dreimal in Folge nicht, sich für das Turnier zu qualifizieren. Mit Cúper gelang vergangenes Jahr der Einzug ins Endspiel, und obwohl dieses gegen Kamerun verlorenging, ist für ihn eines klar: „Als ich kam, habe ich ein Land und einen Verband mit großen Problemen vorgefunden", sagt er. „Wir haben uns gegenseitig gebraucht, um wieder vorwärtszukommen, um unsere Freude am Fußball wiederzuentdecken - und die WM ist unsere Belohnung."

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