Thomas Hürner

Journalist und Autor, München

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Juventus Turin: Alle lieben sie, alle hassen sie

Juventus Turin feiert die x-te italienische Meisterschaft. © Valerio Pennicino/Getty Images

Recht oder Unrecht, Gut oder Böse, Liebe oder Hass – die Antwort auf all diese Fragen ist in Italien immer der Champions-League-Finalist Juventus Turin. Von Thomas Hürner


Dass es im italienischen Fußball um weit mehr geht als nur um einen wochenendlichen Zeitvertreib, blieb selbst Winston Churchill nicht verborgen. "Die Italiener verlieren Kriege, als wären es Fußballspiele, und Fußballspiele wie einen Krieg", soll der einstige britische Premier einmal gesagt haben. Man definiert sich durch Erfolg und verschmäht die Niederlage.

Ganz besonders gilt diese Haltung für Juventus Turin. Lange Jahre litten die Turiner unter Minderwertigkeitskomplexen, das Verständnis von der eigenen Größe wurde auf einmal infrage gestellt. Nun aber steht Juventus am Samstag in Cardiff gegen Real Madrid vor dem zweiten Champions-League-Finale in drei Jahren. Die Scham wurde abgelegt, kein Gegner scheint mehr zu groß und man selbst schon gar nicht zu klein.

Niedergang und Genese, beides ist eng umwoben mit dem Calciopoli-Manipulationsskandal, der Italiens Fußball im Jahr 2006 erschütterte. Was die Tifosi von Mailand bis Sizilien längst vermuteten, war nun traurige Gewissheit: Im großen Stil manipulierte der damalige Juve-Sportdirektor Luciano Moggi Spiele und Schiedsrichter, der Club musste zwei Meistertitel abgeben und in die zweite Liga absteigen.

Verbittert geführter Meinungskrieg

Moggi wurde mit einem lebenslangen Berufsverbot bestraft, konnte sich mit schlauen Anwälten aber vor der eigentlich verhängten Haftstrafe mehr als fünf Jahre lang drücken. Auch deshalb gilt er heute als Sinnbild für alles Böse im Land, das in jener Zeit das korrupte Fußballgeschäft Italiens beherrschte. Reue oder zumindest eine klare Abgrenzung zu Moggis Machenschaften sucht man in Turin seither vergebens. "Er ist ein wichtiger Teil unserer Geschichte", sagte etwa der Präsident Agnelli, "wir sind ein katholisches Land, also können wir auch vergeben." Bis zuletzt versuchte Juventus, die beiden aberkannten Titel, die Scudetti, auf Rechtswegen wiederzubekommen.

Der ewige, teils verbittert geführte Meinungskrieg im italienischen Fußball mündet stets bei den Fragen nach Recht und Unrecht, Gut und Böse, Liebe und Hass - und die Antwort auf all diese Fragen ist immer Juventus Turin. Für seine Fans ist Juve schlicht der von allen Seiten beneidete Klassenbeste, der sich stets haltloser Vorwürfe erwehren muss, weil strahlender Erfolg nun mal Missgunst nach sich zieht. Das schweißt die Tifosi über das Land hinweg zusammen, fino alla fine, bis zum Schluss. Juventus hat die größte tifoseria der Republik, die Anhängerschaft ist fast gleichmäßig über sämtliche Regionen und Provinzen verteilt.

Für alle anderen sind die Turiner ein erbitterter Rivale. Egal ob in Mailand, Rom, Florenz oder Neapel: Juventus wird als Erzfeind wahrgenommen, der Club steht für das arrogante Establishment im reichen Norden und kriminelle Fußballmafia zugleich. Einer der lautesten Kritiker ist der tschechische Kulttrainer Zdeněk Zeman, derzeit beim Absteiger Delfino Pescara angestellt. Seit mittlerweile zwei Jahrzehnten trägt er seine Antipathie öffentlich über die Medien vor. "Ich bin kein Feind von Juventus, aber von denjenigen, die betrügen," polterte Zeman erst wieder im April. "Es genügt, sich die Akten durchzulesen, die der italienischen Justiz vorliegen."

Sie nennen sie Rubentus

Und tatsächlich liest sich die Liste der Vorwürfe wie ein Schwarzbuch der Sportkriminalität: Schon in den 1990er Jahren mussten sich Juve-Verantwortliche vor Gericht wegen Dopingvorwürfen verantworten. Bei einer Hausdurchsuchung gefundene Akten belegten Jahre später, dass die Champions-League-Siegermannschaft von 1996 mit dem Hormon Epo gedopt wurde. Seit Neuestem beschäftigt ein handfester Mafiaskandal die italienischen Medien, in dem Präsident Agnelli verdächtigt wird, einen Mafioso zum Zwischenhändler für Tickets gemacht und so indirekt den Schwarzhandel gefördert zu haben.

Rubentus, vom italienischen rubare ("stehlen"), ist ein längst verbreiterter Terminus, mit dem ernüchterte Tifosi ihren Unmut zum Ausdruck bringen. Doch Juventus, das wissen auch die treuesten Feinde und Kritiker, macht auch vieles richtig, was andere falsch machen. Und selbst wenn sie es nie zugeben würden, so beneiden sie den Club für seine im ganzen Land gefürchtete DNA vincente, seine Gewinnermentalität.

Unzerstörbares Monument im italienischen Fußball

Nicht einmal Calciopoli und der Gang in die Serie B konnten den italienischen Giganten begraben, viele sehen darin gar den Schlüsselmoment für Juventus' heutige Stärke. Der Club stellte die Weichen für Zukunft, baute sein eigenes Stadion und rehabilitierte sich in den Folgejahren sowohl sportlich als auch finanziell. Der Glanz kam aber erst mit der Fiat-Familie Agnelli zurück nach Turin, seit sieben Jahren leitet Andrea die Geschicke bei den Bianconeri. Er ist der Neffe von Integrationsfigur Giovanni und Sohn von Umberto Agnelli, zwei der mächtigsten und einflussreichsten Präsidenten in der Clubgeschichte.

Juventus, das unzerstörbare Monument im italienischen Fußball, scheint nun mächtiger denn je. Der nationalen Konkurrenz ist man bereits lange enteilt. Die sechste Meisterschaft in Serie, ein Novum im Calcio, war ein Titel mit Ansage. "Gewinnen liegt in unserer Kultur", sagte Juve-Geschäftsführer Giuseppe Marotta im Zuge der Feierlichkeiten. Siege seien einfach der Job eines jeden, der bei Juventus arbeitet, der Club definiere sich durch Erfolge und sein Arbeitsethos.

Nicht zufällig scheinen erfolgreiche Juve-Mannschaften stets nach einem traditionellen Muster zusammengestellt. Von Dino Zoff und Gaetano Scirea hin zu Gianluigi Buffon und Leonardo Bonucci. Identifikationsfiguren mit dem nötigen Juve-Gen garantieren defensive Stabilität, vorne glänzt ein filigraner Virtuose wie Michel Platini, Alessandro Del Piero oder heute Paolo Dybala, der für den besonderen Moment vor dem gegnerischen Tor sorgt.

Obwohl die Juve-Tifosi vor großen Aufgaben stets ihren Slogan senza paura ("ohne Angst") anstimmen, werden sie in Cardiff mit ihrem größten Schrecken konfrontiert. Der heißt nicht Real Madrid, sondern Endspiel. Sechs Niederlagen in acht Partien, kein anderer Club hat häufiger ein Finale der Champions League oder des Landesmeisterpokals verloren. Und auch über dem ersten Triumph 1985 im Heysel-Stadion gegen den FC Liverpool liegt noch heute ein dunkler Schatten. Nach einer Massenpanik starben 39 Menschen, die meisten davon waren Italiener. Wenn es um seine Geschichte geht, dann scheint es bei diesem Club nur zwei Farben zu geben: Schwarz, Weiß und nichts dazwischen.



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