"Man lebt sein Leben mit ihm", so die britische Schriftstellerin Zadie Smith über die Lektüre Ihres sechsbändigen autobiografischen Projekts "Min kamp": "Man identifiziert sich nicht nur mit der Hauptfigur, man wird quasi zu ihr." Im Gegensatz dazu identifiziere ich mich beim Lesen nicht mit Ihnen und habe vielmehr den Eindruck einer intensiven, Scheu und Scham überwindenden Begegnung mit einem anderen Menschen. Wann sind Sie beim Lesen zuletzt in dieser Weise einem Anderen begegnet?
Das letzte Mal hatte ich dieses Erlebnis beim Lesen der Tagebücher des schwedischen Dramatikers Lars Norén. Allerdings sollte man eigentlich gar nicht von "Tagebüchern" sprechen, weil es sich um ein literarisches Projekt handelt und Norén sehr genau weiss, was er tut. Er versucht, sein Leben so wahrhaftig und reich wie möglich darzustellen, und allein schon der gigantische Umfang des Projekts ist faszinierend. Es geht mir ähnlich wie Ihnen, ich identifiziere mich nicht mit Norén, hasse ihn beim Lesen sogar manchmal und denke: "Was bist du doch für ein erbärmlicher kleiner Mensch." Aber die Lektüre ist hypnotisierend. Ich bin mir nicht sicher, welche Relevanz diese Bücher haben, aber es ist tatsächlich die Begegnung mit einem anderen Menschen, die sie auszeichnen und meines Erachtens zu einem der grossen literarischen Projekte machen, die Skandinavien in den letzten vierzig Jahren hervorgebracht hat.
Handelt es sich bei der identifikatorischen Lektüre Ihrer Bücher demnach um eine Fehllektüre?
Nein, das würde ich auch nicht sagen. Beim Lesen unterwirft man sich der Autorität eines anderen, und mitunter verliert man dabei alle Distanz. Mir geht das zum Beispiel so, wenn ich Dostojewski lese, "Die Brüder Karamasow", und vielleicht ist dies sogar das wahre Erlebnis, das uns die Kunst schenkt. Keine Ahnung, welche Erkenntnisse ich dabei gewinne, aber ich fühle mich bei der Lektüre etwas zutiefst Menschlichem verbunden. Dieses Erlebnis lässt sich nicht erklären, man erfährt es entweder im Leben selbst oder in der Auseinandersetzung mit Kunst.
Vor wenigen Jahren wurden David Foster Wallace' "Unendlicher Spass" und Roberto Bolaños "2666" im deutschsprachigen Raum als neue Meilensteine in der Evolution der Gattung Roman rezipiert. Insbesondere in der angelsächsischen Welt misst man Ihrem Werk inzwischen eine ähnliche Bedeutung bei . Wie beurteilen Sie selbst den diesbezüglichen Rang Ihrer Bücher?
Ich kann meine Bücher auf diese Weise gar nicht sehen. Beim Schreiben erscheint einem alles klein und unbedeutend, eher wie der Versuch, etwas auszudrücken, und wie ein beständiges Scheitern. Dann gibt es Momente, in denen sich etwas zu öffnen scheint, in denen etwas funktioniert, aber man weiss nicht weshalb oder wie. Es geschieht einfach. Aus dieser Perspektive erscheint mir der Gedanke an einen möglichen Einfluss meiner Bücher eher wie eine brutale Ironie.
Sehen Sie Ihre Bücher als "Romane", oder widersetzt sich Ihr Projekt jeder Gattungszuschreibung?
Für mich handelt es sich um Romane. Ursprünglich ging es mir um ein Experiment - um die Frage, auf welche Weise man heute noch realistische Prosa schreiben könne. Dafür musste ich den Unterhaltungsfaktor und alles andere aufgeben, was einen Roman für gewöhnlich auszumachen scheint. Wie weit kann ich gehen, ohne eine Geschichte erzählen zu müssen, bevor sich das Ganze auflöst und unlesbar wird? Eine Frage, der auf andere Art auch Joyce nachgegangen sein dürfte, dessen "Ulysses" ich bisher drei Mal gelesen habe und vermutlich noch zehn weitere Male lesen könnte und dessen "Finnegans Wake" der einzige unlesbare Roman ist, den ich kenne. Ein Roman kann offenbar nahezu allen Experimenten standhalten, und auch ich habe mich in der Annahme getäuscht, dass mein Projekt zu extrem sei, um Leser zu finden. Es scheint Mainstream zu sein, jeder liest die Bücher.
Weshalb erschien es Ihnen uninteressant, sich eine fiktive Handlung auszudenken? Weshalb langweilt es Sie, eine Figur zu erfinden, und rekonstruieren Sie stattdessen in grösstmöglicher Ausführlichkeit den Alltag Ihrer eigenen Biografie? Ist die Schöpfung einer vollkommen imaginären Welt, wie man sie etwa in Kazuo Ishiguros historischem Fantasy-Roman "Der begrabene Riese" findet, nicht die weitaus substanziellere literarische Replik auf eine Gegenwart, in der jeder auf Facebook die privatesten Details seines Lebens preiszugeben scheint?
Das kann man durchaus so sehen, aber meines Erachtens leben wir in einer vollständig fiktionalisierten Welt, in der alles in Erzählung verwandelt wird. In einer derartigen Umgebung ist es nicht länger Aufgabe des Schriftstellers, weitere Geschichten zu erfinden. Ishiguro ist ein gutes Beispiel, sein Roman "Alles, was wir geben mussten" ist einer der besten Romane der letzten Jahrzehnte, ein anderes Lieblingsbuch von mir ist Ben Marcus' "Flammenalphabet", das erschreckend gut und ebenfalls vollkommen fiktiv ist.Wenn ich könnte, würde ich liebend gern einen solchen gänzlich erfundenen Roman schreiben. Aber in "Min kamp" war es die Aufgabe, die Unterschiede zwischen den Formen meines Lebens und den Formen der Literatur niederzubrechen , was natürlich ein lächerliches Unterfangen ist, denn in zehn Jahren wird man die Unterschiede auf den ersten Blick erkennen können. Ich betreibe in den Büchern eine Art Simulation von Leben, weil mich Realismus interessierte. Ich war nicht an Fiktion interessiert, sondern am realen Leben, aber ich gebe Ihnen recht: Ich würde lieber etwas schreiben können, das vollkommen ausserhalb der eigenen Erfahrung liegt.
In gewisser Weise liegen auch die im norwegischen Original in den Jahren 2009 bis 2011 erschienenen Bände von "Min kamp" bereits ausserhalb Ihrer Erfahrung, denn heute, im Jahr 2015, sind Sie längst ein Anderer. Können Sie Karl Ove charakterisieren, den Ich-Erzähler Ihres Romanprojekts?
Diese Frage ist schwer zu beantworten. Als ich die Bücher schrieb, habe ich mich wie einen geografischen Ort wahrgenommen, von dem aus ich in die unterschiedlichen Gegenden meiner selbst vordringen konnte. Der Prozess des Schreibens wird in den Büchern ständig reflektiert, und am Ende hatte ich das Gefühl, kein Schriftsteller mehr zu sein. Was bedeutet, dass ich nach Fertigstellung des letzten Bandes nicht länger der Verfasser dieser Bücher war. Der Verfasser dieser Bücher war tot. Der vielleicht einzige therapeutische Zweck des Projekts lag vielleicht darin, mich selbst aus der Literatur herauszuschreiben, mich von der Literatur zu befreien, was natürlich unmöglich ist. Das ist zwar nicht die Antwort auf Ihre Frage, aber es ist unmöglich, zu sagen, wer der Ich-Erzähler ist, weil unser Ich einem ständigen Wandel unterliegt. Wer wie ich Bücher über seine Erinnerungen schreibt, fixiert diese Erinnerungen, und für eine kurze Zeit mögen sie ihre Gültigkeit behalten, aber irgendwann erscheinen sie einem nicht mehr wahr, weil man älter geworden ist und sich verändert hat. Erinnerung und Fiktion haben denselben Ursprung, und man muss Erinnerung auf ganz ähnliche Weise erschaffen wie Fiktion, um sie überhaupt sehen zu können.
Die überbordende, von Ihren Kritikern gern zitierte Ausführlichkeit Ihres Werks mag darauf hindeuten, dass für Sie jede Erinnerung von gleicher Bedeutung ist.
Natürlich hat jeder von uns seine ikonischen Erinnerungen, die unabdingbarer Bestandteil der eigenen Identität sind. Jeder muss eine Version seines eigenen Lebens herstellen, und es sind die Erinnerungen an zentrale Ereignisse und Menschen, die diese Version ausmachen. Aber dennoch handelt es sich nur um eine vorstellbare Version, an der wir festhalten, obwohl wir aus dem Stoff unseres Lebens auch eine völlig andere Version unserer selbst erschaffen könnten. Ebendies zu tun ist die Möglichkeit, die uns die Literatur bietet, und in "Min kamp" habe ich versucht, mit dieser Möglichkeit herumzuspielen. Es ging mir darum, Romane zu schreiben, nicht, die Wahrheit abzubilden.
Können Sie, um Rilke zu zitieren, "die Summe der Missverständnisse" benennen, die sich seit dem phänomenalen Erfolg Ihrer Bücher um Sie ranken?
Nicht wirklich, denn ich vermeide es möglichst, etwas über mich selbst zu lesen oder mich im Fernsehen anzuschauen. Sich von ausserhalb seiner selbst zu sehen, ist ein schreckliches Erlebnis, und darüber hinaus habe ich natürlich eine Persona, wenn ich öffentlich auftrete oder Interviews gebe. Ich bin zum Beispiel ein sehr schweigsamer Mensch, und doch sitze ich hier vor Ihnen und versuche, Ihre Fragen zu beantworten. Auch die Pose, die ich auf Autorenfotos einnehme, zeigt diese Persona. Sie schützt mein wahres Selbst, aber im Gegensatz zu meinem schreibenden Selbst erschafft sie nichts.
Können Sie sich selbst noch fremd sein?
Ja, das kann ich - jedes Leben ist beinahe bodenlos, unergründlich, endlos.
Lässt ein megalomanes, mehrere tausend Seiten langes Projekt wie "Min kamp" noch Platz für weitere Bücher?
Unbedingt, denn nur das weitere Schreiben bietet mit die Möglichkeit, diesem Projekt zu entkommen. Mein neues Buch ist das genaue Gegenteil von "Min kamp". Es hat keine Erzählung, keine Psychologie, es gibt darin nur Dinge, Objekte, und es ist sehr kurz. Aber ich bin nicht mit ganzem Herzen dabei, es hat nicht dieselbe Notwendigkeit. Ich bin gespannt, wohin es mich führt und zu wem es mich macht.
Der fünfte Band des grossen Romanprojekts "Min kamp" (Mein Kampf) ist kürzlich unter dem Titel "Träumen" beim Luchterhand-Verlag erschienen. Eine Besprechung folgt.