1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Zum 100. Geburtstag von Saul Bellow: Die Verteidigung der menschlichen Seele

Mit seinen Romanen hat Saul Bellow Amerika unbarmherzig den Spiegel vorgehalten. Er insistiert auf dem Wert und der Würde des Individuums, um die seine Figuren - nicht immer erfolgreich - ringen.

"Es gab eine Zeit, als Menschen der Gewohnheit frönten, die Rede häufig an sich selbst zu richten, und sich keineswegs schämten, ihre inneren Transaktionen aufzuzeichnen", so der Ich-Erzähler von Saul Bellows 1944 erschienenem erstem Roman "Mann in der Schwebe". Dessen Anfangszeilen sind zugleich Auftakt eines Werkes, das erst ein halbes Jahrhundert später seinen Abschluss fand und noch heute so stark und unverbraucht anmutet, dass es mehr Zukunft als Vergangenheit haben dürfte. "Aber das Führen eines Tagebuchs wird heutzutage als eine Art Selbstbespiegelung aufgefasst, eine Schwäche und Geschmacklosigkeit", bemerkt Bellows Protagonist, dessen Stimme bereits das verführerische, von einem empfindlichen Kulturpessimismus verdunkelte Timbre anklingen lässt, das auch die späteren Erzählerfiguren des Autors auszeichnet. "Denn dies ist eine Periode des Hartgesottenseins": eine unerbittliche, in den Augen des am 10. Juni 1915 im kanadischen Lachine geborenen und ab 1924 in Chicago aufgewachsenen Sohnes jüdisch-russischer Einwanderer zeitlebens fortbestehende "era of hardboiled-dom", wie es im Original des Debütromans heisst, dessen Erzähler ein Jahr nach Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg auf die Einberufung wartet und sich in seinen Aufzeichnungen einer intensiven Selbstbeobachtung unterzieht.

Blick nach innen

"Hast du Empfindungen?" In Saul Bellows Amerika, im frühen Meisterwerk "Die Abenteuer des Augie March" (1953) ebenso wie in der verstörenden chaotischen Wirklichkeit so grosser Romane wie "Herzog" (1964), "Mr. Sammlers Planet" (1970) und "Humboldts Vermächtnis" (1975), gilt der bereits in "Mann in der Schwebe" beschriebene "Kodex des Athleten, des rauen Gesellen". Es ist das Gebot der Macht und der Überlegenheit, das Gesetz der Gier und des Schwachsinns einer in ihrem Fortschrittsglauben und ihrem Erfolgsstreben rauschhaft niedergehenden Kultur. "Hast du ein Innenleben?", so Bellows literarisches Alter Ego im ersten Absatz von "Mann in der Schwebe", dem Anfangskapitel jenes schliesslich vierzehn Romane, mehrere Theaterstücke und zahlreiche Kurzgeschichten umfassenden, autobiografisch grundierten Lebensromans, für den Bellow 1976 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. "Hast du Leidenschaften?"

Es ist sein rückhaltloses, von Buch zu Buch fortgeschriebenes Bekenntnis zu den "inneren Transaktionen" seiner in der Absurdität des Daseins gefangenen Figuren, das Bellow immer tiefer in die verborgene Mechanik des Herzens und der Seele eindringen liess. Wie der Erzähler seiner Mitte der siebziger Jahre veröffentlichten Kurzgeschichte "Vettern und Cousinen", die von den Erinnerungen an die Amerikanisierung seiner eigenen weitläufigen Familie und an die dabei erlittenen "Deformationen" inspiriert war, hat er nie die Gewohnheit aufgegeben, "alle wahrhaft wichtigen Beobachtungen auf jenes ursprüngliche Ich oder die ursprüngliche Seele zu beziehen".

"Wir betreten die Welt ohne vorherige Ankündigung, wir sind erschienen, bevor uns das Erscheinen bewusst sein kann." Der feste Glaube an die nicht nur im literarischen Werk, sondern auch in Essays und Interviews gegen den kalten Ansturm einer materialistischen Welt verteidigte "ursprüngliche Seele", an "unsere wirklichen Kräfte, die Kräfte, die dem Universum selbst zu entspringen scheinen", wie Bellow in seiner Nobelpreisrede sagte, ist Schlüssel zu seiner Biografie und zu seinem Werk. Dieser Glaube macht den etwa von der Lehre Rudolf Steiners beeinflussten Bellow zu einem der vielleicht letzten Metaphysiker der amerikanischen Literatur. Deutlicher noch als "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", das erklärte Vorbild seines ersten Romans, transzendiert bereits "Mann in der Schwebe" die äussere Erscheinung der Welt und drängt nach den "heimlichsten Tiefen", dem metaphysischen "Grossen".

Im Unterschied zu dem am Ende tragischen, im unerlösten Zustand des Sehnens verharrenden Erzähler des Debüts wird es erst Augie March gelingen, sein "ursprüngliches Ich" zu befreien und seine Seele vor der Vereinnahmung durch die fremden Weltbilder zu bewahren, die ihm die "Nebenstrassen- und Nachbarschafts-Machiavellis" aufzudrängen versuchen, denen er im düster schillernden Chicago der Weltwirtschaftskrise begegnet. Nach "Mann in der Schwebe" und dem gleichfalls dem Regelwerk europäischer Vorbilder folgenden zweiten Roman "Das Opfer" (1947), seinen "Magister"- und "Dr. phil."-Romanen, wie er später sagte, waren "Die Abenteuer des Augie March" Bellows Selbstentfesselung.

Für Philip Roth, der in Bellow und William Faulkner das "Rückgrat der amerikanischen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert" erkennt, ist der im selbstbewussten, lebendigen Idiom seiner freien Erzählweise vibrierende Roman "unser ‹Ulysses›". Der britische Schriftsteller Martin Amis, der sich nicht nur in Interviews, sondern auch in Romanen wie "Gierig" und "Night Train" zu Bellows väterlichem Einfluss bekennt, sieht in "Die Abenteuer des Augie March" schlichtweg "the Great American Novel", diese "mythische Bestie, diesen Heiligen Gral, dieses irdische Eden", auf das amerikanische Schriftsteller seit Generationen Anspruch erheben. Als "eine Art Kolumbus des Naheliegenden", als den Augie sich am Ende des Romans beschreibt, ist er der Entdecker jener verwirrenden Terra incognita der amerikanischen Gegenwart, deren spirituelle Leere den Erzähler von "Der Regenkönig" (1959) nach Afrika vertreibt und spätere Hauptfiguren wie den in New York gestrandeten Holocaustüberlebenden Artur Sammler, den vom "faustischen Geist der Unzufriedenheit" heimgesuchten Gelehrten Moses Herzog oder den in "Humboldts Vermächtnis" ebenfalls einem "inneren Wunder" entgegenstrebenden Schriftsteller Charlie Citrine um ihre Seelenruhe oder gar um den Verstand zu bringen droht.

Irregeleiteter Rationalismus

"Sie haben eine Seele, nicht wahr, Moses?" Es ist diese in "Herzog" beinahe ironisch, beinahe amüsiert gestellte Frage, deren fundamentale Ernsthaftigkeit Bellows 2000 mit dem Roman "Ravelstein" vollendetem Werk sein spezifisches, nach Ansicht der Schwedischen Akademie vom "Wert und der Würde des Lebens und der Menschheit" erfülltes Gewicht verleiht. "Schlimmes Handicap, eine Seele", so einer der ohnmächtigen, in der Ekstase des grandiosen Bewusstseinsstroms von Bellows Werk dahintreibenden, an der toten Last seiner Selbsttäuschungen festhaltenden "Realitätslehrer", deren irregeleitetem Rationalismus Bellow sprachmächtig und überaus geistreich Widerstand leistet. Schlimmes Handicap: Einhundert Jahre nach der Geburt des im April 2005 in Brookline, Massachusetts, verstorbenen Schriftstellers, erinnern Saul Bellows Romane und Erzählungen daran, dass es sich lohnen könnte, mit diesem Handicap zu leben.

Zum Original