Was ist ein gutes Leben? Ein Gespräch mit Ian McEwan über seinen neuen Roman "Kindeswohl" und die Segnung des klaren Verstands Von Thomas David
Im schmucklosen Souterrain eines pompösen spätviktorianischen Hotels am Russell Square sitzt Ian McEwan an einem Konferenztisch. Neben ihm die Tweed-Mütze eines Country-Gentleman, auf den Lippen das schmale Lächeln, das man von den Autorenfotos kennt. Lichtes, grau meliertes Haar: Mit 66 befindet sich McEwan in den "frühen Kinderjahren des Alters", wie es in seinem neuen Roman "Kindeswohl" über die Hauptfigur heißt. Durch die Fenster das dumpfe Dröhnen des Londoner Straßenverkehrs, nur ein paar Hundert Meter entfernt die altehrwürdige Anwaltskammer von Gray's Inn, in der McEwans Roman spielt.
Literarische Welt:
Die Hauptfigur Ihres neuen Romans ist nicht nur angesehene Richterin, sondern auch eine talentierte Pianistin. Sie haben bereits in " Amsterdam" und "Am Strand" über Musik geschrieben und für den Komponisten Michael Berkeley sogar Libretti für ein Oratorium und eine Oper. Können Sie den neuen Roman in musikalischen Begriffen beschreiben?
Ian McEwan:
Ich nehme an, man könnte "Kindeswohl" als ein Stück Kammermusik bezeichnen. Es ist ein kurzer Roman, und Kammermusik ist eine meiner Leidenschaften. Indem ich Fiona zu einer guten Amateurpianistin mache, kann ich mich ihrer Figur auf eine weitere Art und Weise annähern. Wie Sie richtig sagen, habe ich Musik schon zuvor als Mittel der Figurencharakterisierung benutzt, insbesondere in "Am Strand", dessen Protagonistin meine Leidenschaft für Streichquartette teilt, während sich ihr Ehemann eigentlich nur für Rock 'n' Roll begeistert. Sie ist vom Rock 'n' Roll abgestoßen und findet ihn absurd, und er hält klassische Musik für nichts als eine prüde Erregung. Die Verwunderung über die Musik des anderen ist im Grunde der Schlüssel zu den sehr viel wichtigeren Missverständnissen, von denen "Am Strand" handelt.
Ein Thema, das Sie in "Kindeswohl" variieren, indem Sie Fionas Ehemann Jack, der sich von ihr die Zustimmung zu einer außerehelichen Affäre erhofft, zu einem Jazz-Liebhaber machen. Eine freie Improvisation, die Fiona nicht liegt.
Sie kann Musik nur vom Papier spielen, und beim Jazz geht es natürlich gerade darum, sich vom Papier zu lösen. Sosehr sich Fiona auch bemüht hat, Jazz klingt bei ihr immer wie ein Stück von Debussy. In dieser Hinsicht ist die Musik in dem Roman also von Bedeutung, aber sie ist auch wichtig, was dessen Ursprung angeht. Hier in London besuche ich gern die Wigmore Hall, eine für Kammermusik berühmte Konzerthalle, und oft gehe ich gemeinsam mit dem Richter, der mir bei den Recherchen zu "Kindeswohl" geholfen hat. Es fasziniert mich immer wieder, dass er einem Dutzend anderer Richter zuwinkt, sobald wir in der Wigmore Hall eintreffen. Die Konzerthalle quillt jedes mal fast über vor Juristen, und das ist eine interessante soziologische Beobachtung. Auch die Tatsache, dass Gray's Inn, Lincoln's Inn sowie Middle und Inner Temple, die vier Londoner Anwaltskammern, eigene Konzerte veranstalten und ihre Mitglieder ein durchaus beachtliches Niveau erreichen, ist in die Figurenzeichnung Fionas eingegangen. Die Inns of Court sind ein geschlossenes System mit einer eigenen Sprache, eigenen Ritualen- eine private Welt im Herzen von London, dessen Bewohner sich untereinander so gut kennen, dass sie für- und miteinander musizieren.
Schon Ihr Debütroman "Der Zementgarten" war im Grunde ein Kammerstück. Weshalb kehren Sie immer wieder zur Novelle zurück?
Ich habe innerhalb der Möglichkeiten des Romans Verschiedenes ausprobiert, aber "Kindeswohl" war von Anfang an als kürzeres Stück angelegt. Der Roman brauchte nicht die weitläufige Partitur mehrerer Hundert Seiten. Der Fall, auf dem der Roman basiert, zog sich in Wirklichkeit über sieben Jahre: Sieben Jahre zwischen dem Gerichtsurteil, das einem den Zeugen Jehovas angehörenden Teenager das Leben schenkte, und dem Tag, als er sieben Jahre später wieder ins Krankenhaus kam und starb. Aber mit dem Zeitraum von sieben Jahren konnte ich nichts anfangen: Für meinen Roman musste ich den Fall zeitlich so stark komprimieren, dass er sich in das Drama von Fionas Ehe fügt und sich wie in der Griechischen Tragödie eine Einheit von Zeit und Ort ergibt.
"Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, was Erlenkönig mir leise verspricht?" Im Roman erwähnen Sie Goethes "Erlkönig", der nicht nur eine Ballade über das Wohl eines Kindes ist, sondern wie Ihr Roman von der Zurückweisung des Irrationalen handelt.
Auch wenn man das Irrationale zurückweist, kann man ihm manchmal nicht entkommen oder fühlt sich davon sogar angezogen, und als Fiona, die als Richterin stolz ist auf ihren analytischen Verstand, von ihrem Mann verlassen wird, reagiert sie vollkommen irrational. Sie besucht den an Leukämie erkrankten Adam im Krankenhaus und gesteht sich selbst nicht ein, dass der 17-Jährige für sie das Kind repräsentiert, das sie selbst nie hatte. Sie verliert die Kontrolle über ihre Gefühle. Später küsst sie den Jungen sogar auf den Mund. All dies ist extrem unprofessionelles Verhalten, aber wie die meisten von uns, muss Fiona hin und wieder ihren Dämonen nachgeben.
Können Sie etwas über Ihre eigenen Dämonen sagen?
Wie viele von uns habe auch ich in meinen Zwanzigern alle möglichen Reisen unternommen. So gab es in den Siebziger- und Achtzigerjahren eine Mode, die Quantenmechanik mit östlichem Denken wie dem Buddhismus in Verbindung zu bringen. Die entsprechenden Bücher besitze ich noch, aber inzwischen verbreiten sie den hoffnungslosen Geruch einer vergangenen Zeit, als ich es noch für möglich hielt, mein Interesse an der Wissenschaft mit etwas verschmelzen zu lassen, das eine andere Antwort auf das Leben ermöglichte und aus Ermangelung eines besseren Wortes "mystisch" ist. Damals dachte ich noch, dass sich diese gegensätzlichen Impulse verbinden ließen, und ich glaube, dass ich diese Überzeugung nur langsam aufgegeben habe. Heute denke ich allerdings, dass der Versuch, die Welt unter rationalen Gesichtspunkten zu verstehen, die größeren Wunder hervorbringt. Die Transzendenz liegt in der materiellen Welt, und wie wir aus der Quantenmechanik wissen, besteht diese nicht aus Materie, sondern aus Energie, aus Wahrscheinlichkeiten.
Autoren wie John Banville oder John Burnside verweigern sich den Spielarten des Übersinnlichen nicht so kategorisch.
Das reizt mich überhaupt nicht und ist in meinen Augen totaler Mist. Es erinnert mich an die "Offenbarung des Johannes" am Ende des Neuen Testaments, einem der dümmsten Texte, die je geschrieben wurden - ein unsinniges Gemurmel, finsterster Blödsinn, mit dem die Leute herumspielen. Die Welt, die wir gemeinsam bewohnen und die es zu verstehen gilt, erscheint mir weitaus interessanter und sehr viel schwieriger zu erfassen. Es ist leicht zu sagen, das verdanken wir Gott oder dem Teufel. Aber der Teufel ist zu allem fähig, und in ästhetischer Hinsicht ist diese Vorstellung Kitsch und für mich vollkommen uninteressant.
"London. Sonntagabend, eine Woche nach dem Ende der Gerichtsferien. Nasskaltes Juniwetter." Die ersten Zeilen von "Kindeswohl" lesen sich wie eine Variation des berühmten Anfangs von Dickens' "Bleak House". Wie erklären Sie sich das irrationale Element der Kunst?
Anders als die unbewusste Nennung des "Erlkönigs" war die Anspielung auf Dickens' Roman eine bewusste Entscheidung. "Bleak House" ist ein berühmter London-Roman und vielleicht der größte englische Roman über das Rechtssystem. Die Anspielung ist eine Art Verneigung vor Dickens, bevor "Kindeswohl" gewissermaßen durch die Tür dieses Romans in eine vollkommen andere Richtung fortschreitet. Das irrationale Element der Kunst hat eher mit den vorhin geschilderten Ursprüngen des Romans und der Anekdote zu tun, die mir der befreundete Richter erzählte, während wir in der Wigmore Hall auf den Beginn des Konzerts warteten. Der Teil der Anekdote, der mich aus unerklärlichen Gründen nicht mehr losließ, war die Tatsache, dass der Junge so glücklich war, als geheilt aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, dass mein Freund ihn und seinen Vater mit zu einem Fußballspiel nahm, wo er schließlich die Hand seines Lieblingsspielers schütteln durfte. Durch diesen Moment des Glücks fühlte sich mein Freund in seinem Urteil so sehr bestätigt, dass der Tod des Kindes sieben Jahre später, als der inzwischen junge Mann die Bluttransfusion abermals verweigerte und kein Gericht zu Hilfe kam, wie eine Tragödie erschien. Hinzu kam der paradoxe Umstand, dass die Eltern des Jungen, die selbst strenggläubige Zeugen Jehovas waren, in Tränen ausbrachen, als sie hörten, dass das Gericht dem Krankenhaus die Erlaubnis erteilt hatte, eine Bluttransfusion vorzunehmen. Freudentränen wohlgemerkt, weil sie durch die Ablehnung der Behandlung ihrer Religion Genüge getan hatten und ihr Kind dennoch gerettet wurde. Schon als mir der Richter dies erzählte, wusste ich, dass er mir ein Geschenk gemacht hatte und ich darüber schreiben musste, weil in dieser Anekdote die ganze Widersprüchlichkeit des menschlichen Herzens zu liegen schien.
"Güte, das zeigte sich tagtäglich im Familiengericht, war das entscheidende menschliche Merkmal." Im Roman überlegen Sie immer wieder, was wir meinen, wenn wir von einem guten Leben reden.
Als Richterin muss Fiona wiederholt entscheiden, was damit gemeint ist. Was ist ein gutes Leben? Ein Netzwerk sinnvoller Beziehungen, interessante Arbeit, Gesundheit und das Streben nach einem höheren Sinn des Lebens, der ebenso in einer Beziehung liegen könnte wie in der Arbeit. Güte ist tatsächlich oft das fehlende Element in all den Tragödien, denen sich Fiona im Familiengericht gegenübersieht. Wenn Erwachsene gegenüber einem Kind nicht zur Güte fähig sind, ist das sich daraus ergebene Leid so kolossal, dass es sich oft in den nächsten Generationen fortsetzt. Manche Kritiker meines Romans empfanden Fiona als kalt und distanziert, was ich nie nachvollziehen konnte. Allein das Zitat, das Sie gerade gebracht haben, scheint auf eine große Wärme hinzudeuten.
Was macht für Sie ein gutes Leben aus?
Natürlich ist die Liste dessen, was aus Sicht der meisten Menschen zu einem guten Leben gehört, sehr lang. Schöne Gegenstände gehören dazu, nicht notwendig kostspielige. Aber ich würde sagen, ganz oben auf der Liste müssen tiefer gehende, liebevolle menschliche Beziehungen stehen. Ohne sie könnte man all die Kunst und Muße, alle Zeit für sich allein, fürs Wandern oder Tennisspielen haben, die man sich nur wünscht - aber man wäre verloren. Liebe ist der wesentliche Bestandteil dessen, was wir uns unter einem guten Leben vorstellen. Liebe und Güte - Dinge also, die sich auch das Christentum auf die Fahnen geschrieben hat. In seinen Texten zumindest, nicht notwendigerweise in der Art und Weise wie selbst ernannte Christen ihr Leben tatsächlich führen. Aber weshalb gelingt es uns nicht, unsere Vorstellungen von einem guten Leben in die Tat umzusetzen? Wir könnten uns mühelos über die Dinge einigen, von denen wir wissen, dass sie uns glücklich machen und zu einem guten Leben führen. Aber statt diesen nachzugehen, lassen wir uns ständig beirren, sind gelangweilt, ruhelos, geben unseren destruktiven oder selbstzerstörerischen Impulsen nach oder folgen irgendwelchen verrückten Ideen.
Wie wird "ein gutes Leben" zu Beginn des 21. Jahrhunderts in England definiert? Auf der nationalen Ebene.
Es scheint sich immer wieder zu beweisen, dass es Menschen glücklich macht, anderen zu helfen, und dieses Glück scheint in einer Zivilgesellschaft so eine Art sozialer Klebstoff zu sein. Wenn Menschen in Freiheit leben, scheint sich ein beachtliches soziales Engagement herauszubilden, das unabhängig von der jeweiligen Regierung existiert und auf den ersten Blick vielleicht gar nicht sichtbar ist.
Wie verändert sich dieser "soziale Klebstoff" in Zeiten der Krise?
Auf nationaler Ebene scheint es unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Vorstellungen von dem zu geben, was man als gemeinschaftliches Wohl bezeichnen könnte. Es gibt diejenigen, die sagen, dass ein Wohlfahrtsstaat die fürsorglichste und freundlichste Gemeinschaft ist. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die meinen, dass der Wohlfahrtsstaat in den westlichen Gesellschaften eine riesige Unterschicht geschaffen hat, die vollkommen unmotiviert ist. Das sind widersprüchliche, miteinander im Wettbewerb stehende Vorstellungen, und soweit es mich betrifft, bin ich schon zufrieden, wenn dieser Wettbewerb aufrechterhalten wird und es keine Staatsmacht gibt, die ihn unterbindet. Ich glaube, dass wir den Staat brauchen, dass England und andere westliche Gesellschaften sich in den vergangenen Jahrzehnten aber dennoch große Probleme geschaffen haben, aus denen uns nur ein Wettbewerb der Ideen heraushelfen kann.
Ein Wettbewerb, in den überall in Europa zunehmend rechts- und linkspopulistische Wettbewerber eintreten.
Ja, vielleicht werden wir im Verlauf dieser Bewegung das eine oder andere Desaster erleben und in eine unfreundlichere, rauere Welt eintreten. Seit Mrs. Thatcher sind wir hier in England schon ein weites Stück auf diesem Weg gegangen, und viele der Dinge, die unsere Generation befürchtete, als Thatcher mit dem in der Nachkriegszeit herrschenden politischen Konsens brach, sind Realität geworden. Die Finanzkrise ist nur die logische Folge von dem, was Thatcher begann. Die Deregulierung, der Verkauf öffentlichen Eigentums, die Förderung der Gier. Doch obwohl wir unsere Infrastruktur nach China verkaufen, ist Großbritannien heute wohlhabender, toleranter und aufgeschlossener als in den Siebzigerjahren, und in London hat sich die Kriminalitätsrate seitdem halbiert und die Qualität des Essens mindestens verdoppelt.
Wenn Fionas Ehemann recht hat und "die Geologie die Vielfalt britischer Wesensarten und Schicksale formte": Wie würden Sie sich dann selbst beschreiben - im Unterschied zu Fionas "krümeligem Kalk"?
Ich stamme ebenfalls aus dem Süden, also nicht aus der Welt des Granits, die man weiter nördlich vorfindet. Ich habe mich kürzlich etwas ausführlicher mit Geologie beschäftigt und dabei nicht nur festgestellt, dass man uns tatsächlich anhand dieser geologischen Beschaffenheit charakterisieren kann, sondern auch, dass es inzwischen möglich ist, die geologischen Prozesse in die Zukunft zu projizieren. Der Gedanke, dass in hundert Millionen Jahren auf der Erde nichts mehr vom Menschen übrig sein wird als dieses schmale, dunkle Band mit chemischen Verbindungen, die in den älteren Erdschichten nicht vorkommen, fasziniert mich seitdem sehr. Wir alle und alles, was wir geschaffen haben, werden eines Tages verloren sein, alle Gebäude und Städte, die Schiffe, Autos, alle Bücher und alle Musik, unsere gesamte Zivilisation, von der nichts bleiben wird. Nichts als eine dunkle Ablagerung im Gestein, die darauf hinweist, dass sich hier auf Erden einmal wirklich merkwürdige Dinge zugetragen haben.
Ian McEwan: Kindeswohl. A. d. Englischen v. Werner Schmitz. Diogenes, Zürich. 224 S., 21,90 €.