Der Autor wartet im Hotel Bellevue Pallace voller Ungeduld auf einen Anruf. Eine Limousine hält vor dem Gebäude, der Fahrer eilt durch die Drehtür in der Eingangshalle. Den Ort gibt es bereits, literarisch verdichtet, im neuen Roman von John le Carré. Hier trifft eine der Hauptfiguren, der zwielichtige russische Geschäftsmann Dima, mit internationalen Bankiers und ihren illustren Verbindungsmännern aus Politik und Gesellschaft zusammen. Der Autor wartet immer noch, vor dem Berner Hotel treffen weitere Wagen ein, in ihren abgedunkelten Scheiben spiegelt sich die Fassade des Hauses als Bastion des guten Stils. Drinnen haben mittlerweile Bodyguards diskret Stellung bezogen, wie der Schriftsteller üben sie sich in Geduld.
Der Anruf bleibt aus, der Autor hat seinen Posten im Hotelzimmer verlassen. Jetzt steht er unter dem lichterfunkelnden Glasdach in der Eingangshalle und beschreibt eine Schlüsselszene aus seinem neuen Buch „Verräter wie wir". „Dima kommt also von dort, und Luke sitzt noch immer hier in seinem Sessel. Und die Bodyguards" - ein Blick John le Carrés geht Richtung Drehtür - „sitzen da, wo sie immer sitzen, auf den Stühlen links oder rechts vom Haupteingang." Dima, das ist das „finanzielle Superhirn" einer russischen Mafia-Zelle. In Bern übergibt er sein Amt an den „Prinzen", den obersten Machthaber der Organisation.
Tanztee, Jazz und Spirit of EcstasyLuke, das ist Luke Weaver, der bis vor kurzem noch entbehrliche, vom neuen Direktor der „Abteilung Sonderprojekte" überraschend in sein Team berufene britische Spion; die zweite Figur, die diese Geschichte über politische Moral in Zeiten globaler Krisen in Gang hält. Le Carré durchquert die Hotelhalle und geht, begleitet von neugierigen Blicken, den Korridor Richtung Bar entlang. Nur wenige Schritte von hier entfernt, wird sich Dima auf einen lebensgefährlichen Deal mit dem britischen Geheimdienst einlassen und den „Prinzen" an England verraten.
„Als Student war ich samstagnachmittags oft zum Tanztee hier", sagt le Carré. „Die Bar ist unglaublich, abends trifft man dort die schlimmsten Menschen der Welt. Wollen Sie vielleicht einen kurzen Blick hineinwerfen?" Schmeichelnder Jazz erklingt, auf dem geschwungenen Tresen thront die Spirit of Ecstasy, eine protzige, fast schon lebensgroße Replik der berühmten Kühlerfigur. „Diese Bar zieht alle möglichen Leute an, die sich der hiesigen Banken zu bedienen versuchen - das sind Menschen", sagt le Carré, „die die Welt ruinieren. Es geschieht alles sehr diskret."
„Selbsternannter Flüchtling"Am Bundesplatz blühen noch die Geranien; es ist Anfang Oktober, ein letzter Atemhauch des Sommers liegt in der Luft. In Bern, wo der siebzehnjährige le Carré als „selbsternannter Flüchtling" Ende der vierziger Jahre Deutsch studierte, schließt sich das literarische Werk um einen harten, autobiographischen Kern. „Die meisten meiner Bücher handeln tatsächlich von ein und derselben Frage", sagt er: „Was sind wir unserer Menschlichkeit schuldig, unseren eigenen Überzeugungen und Instinkten?"
In „Verräter wie wir" richtet le Carré diese Frage nicht nur an den russischen Oligarchen, der sich gegen den „Prinzen" auflehnt, als dieser den strikten, von Dima in einem sowjetischen Gefangenenlager verinnerlichten Ehrenkodex der kriminellen Wory-Bruderschaft verrät und die „Diebe im Gesetz" gegen Putins korrupten Staat ausspielt. Auch für den jungen Oxford-Dozenten Perry Makepiece und dessen Freundin, die ambitionierte Rechtsanwältin Gail, die Dima während eines Urlaubs auf Antigua kennenlernen, eskaliert sie zu einem gefährlichen Gewissenskonflikt, als Dima das Paar dazu drängt, ihm einen Kontakt zum britischen Geheimdienst zu verschaffen. Als Dimas „Professor für Fairplay" wird Perry ungewollt zum Vertrauten des charismatischen, von le Carré in der faszinierenden Widersprüchlichkeit des „Ehrenkriminellen" beschriebenen Oligarchen.