Kaum jemand beherrscht die hohe Schule des Minimalismus so wie norwegische Künstler. Erwähnt seien Tomas Espedal oder Jan Garbarek. Der Grossmeister in der Reduktion der Mittel aber ist Jon Fosse. In dem wenigen, was bei ihm vor sich geht, steckt fast alles.
Als wir uns 2016 in Hainburg an der Donau trafen, hatten Sie bereits 1500 Seiten Ihrer Heptalogie geschrieben und waren mit der Arbeit längst nicht fertig. Unterscheidet sich der Jon Fosse, den ich nach Vollendung des Werks nun in Oslo treffe, von dem Autor, dem ich in der Abgeschiedenheit der österreichischen Provinz begegnet bin?Ich bin im Grossen und Ganzen derselbe oder versuche zumindest, derselbe zu sein. Ich führe ein sehr zurückgezogenes Leben, sogar hier in Oslo. Als mir der norwegische Staat vor ein paar Jahren die Auszeichnung des lebenslangen Wohnrechts in der "Grotte" verlieh, dem alten Haus im königlichen Schlosspark, sagte ich der Presse, dass ich dort in Frieden leben wolle. Und das tue ich. Ich nehme an keinen Veranstaltungen teil, besuche längst auch nicht mehr die Theaterproben meiner Stücke, geschweige denn die Premieren. Ich versuche also auch hier in Oslo, in Abgeschiedenheit zu leben.
Ich frage nach den verschiedenen Versionen Ihrer selbst, weil es auch in "Der andere Name", dem ersten Roman der Heptalogie, zwei Figuren gibt, die denselben Namen tragen und einander wie Doppelgänger gleichen. Beeinträchtigt der Ruhm des Schriftstellers, der in Oslo zu seinem sechzigsten Geburtstag mit einem einwöchigen Festival geehrt wird, die Arbeit am Schreibtisch?Ich hoffe nicht. Als ich in sehr jungen Jahren mit dem Schreiben anfing, habe ich eine Art geheimen Ort in mir selbst gefunden, an dem ich mich seitdem gern aufhalte. In gewisser Weise ist dieser Ort sogar fern von mir selbst. Wenn ich schreibe oder zumindest, wenn ich gut schreibe, bin ich im Schutz dieses Ortes.
Können Sie diesen inneren Ort beschreiben?Nein, nein, nein. Es handelt sich um einen unbekannten Ort, und zu versuchen, das Unbekannte zu beschreiben, ist sehr destruktiv. Mit diesem Ort in mir selbst verhält es sich ähnlich wie mit meinem Glauben. Ich bin ein bekennender Christ, ich glaube an Gott, aber ich möchte nichts über Gott sagen. Ich weiss nichts über Gott - abgesehen davon, dass ich vom Gefühl seiner Existenz erfüllt bin.
Der Regisseur Kai Johnsen, der Sie Anfang der neunziger Jahre zum Schreiben Ihres ersten Theaterstücks anregte und später einmal bei der Arbeit beobachten konnte, sagte mir, das Schreiben sei für Sie ein sehr physischer Prozess. Als würden Sie Gitarre spielen.Ja, das kann man so sagen. In den kritischen Jahren des Lebens, als zwölf-, dreizehn-, vierzehnjähriger Teenager, habe ich viel Gitarre gespielt und mich auch ein wenig an der Fidel und der Geige versucht. Ich bin sehr musikalisch, aber als Musiker unmöglich. Ich bin zu ungeschickt, und mit etwa sechzehn Jahren habe ich mit dem Spielen von heute auf morgen aufgehört. Ich hörte fast nicht einmal mehr Musik und begann, das, was ich beim Spielen von Musik empfunden hatte, im Schreiben nachzubilden. Das macht sich nicht nur in den Wiederholungen und anderen musikalischen Elementen meines Werks bemerkbar, sondern bereits während des Schreibens am Computer. Ein Instrument spielt man mit seinem Körper.
Welche Bedeutung hat die Landschaft Ihrer Kindheit für Sie, vor deren Hintergrund auch Teile von "Der andere Name" spielen?Diese Landschaft ist für mich wesentlich. Selbst wenn ich mich in Österreich oder irgendwo anders aufhalte, bin ich beim Schreiben in dieser Landschaft. Ich bin in Strandebarm aufgewachsen, einer kleinen Gemeinde direkt am Fjord. Ein Haus hier, eines dort, ein drittes da hinten. Strandebarm liegt in der einzigen Region von Norwegen, in der Birnen, Äpfel und ähnliches Obst wachsen, und mein Vater bewirtschaftete dort den Hof, der seit dem 16. Jahrhundert im Besitz der Familie gewesen war, bis die Preise für einheimisches Obst aufgrund des zunehmenden Imports fielen und er Arbeit im örtlichen Genossenschaftsladen fand. Im Herbst und Winter herrschte am Fjord vollkommene Dunkelheit, in meiner Kindheit gab es noch keine Strassenbeleuchtung. Man sah nur die Lichter in den Häusern und hörte Tag und Nacht die Bewegung der Wellen. Den Rhythmus der Wellen. Dass ich als recht empfindsames Kind in einer derart starken Landschaft und Kultur aufgewachsen bin, ist zweifellos das Fundament meines Schreibens.
Die Musik und die Bewegung der Wellen vermeint man auch beim Lesen Ihres Romans wahrzunehmen, dessen unablässiger, stark rhythmisierter Textfluss von keinem einzigen Punkt aufgehalten wird.Ja, nicht ein einziger. Das mag nach einem Kunstgriff klingen, ist aber keiner. Das Buch hat sich selbst auf diese Weise geschrieben, in einem einzigen Fluss.
Die Dunkelheit und das Licht wiederum scheinen in das abstrakte Bild eingegangen zu sein, das der Maler Asle, der Ich-Erzähler von "Der andere Name", zu Beginn betrachtet. Können Sie das "unsichtbare Licht" beschreiben, das er in seinem Gemälde entdeckt?Ein Teil meiner Familie hat eine Verbindung zu den Quäkern, und das vielleicht berühmteste Wort des Quäkertums ist das vom "Inneren Licht". Aber man braucht natürlich die Dunkelheit, um dieses Licht zu sehen. Ich habe einmal ein Stück geschrieben, "Sommertag", in dem eine Frau am Fenster steht - eine typische Szene, die auch in "Der andere Name" vorkommt. Sie schaut auf den Fjord hinaus und sieht, was man "die leuchtende Dunkelheit" nennt. Ich dachte, ich hätte diese Bezeichnung erfunden, aber dann habe ich Meister Eckhart wiedergelesen und entdeckt, dass er sie ebenfalls verwendet.
Kann man dieses Licht auch in der Finsternis einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft erkennen?Für die meisten Leute sind die traditionellen Religionen aus guten Gründen unmöglich geworden. Aber die Seele braucht einen Ort, an dem sie sich aufhalten kann, und hat sich in die Kunst zurückgezogen. Religion und Kunst sind wie die zwei Seiten einer Medaille. Die Kunst, also im weitesten Sinne Literatur, Malerei, Musik und so weiter, bewahrt eine spirituelle Ebene, ohne die wir zu Unmenschen verrohen würden. Moralische Regeln lassen sich vielleicht nicht mehr wie früher durch die Religion legitimieren, aber durch ein gemeinsames spirituelles Verständnis, das wir durch die Kunst teilen.
Nicht alles, was als Kunst verkauft wird, scheint diese spirituelle Dimension zu haben.Vieles ist natürlich Imitation, eine Art von Fälschung. Ich habe ein Faible für Füllfederhalter und Bleistifte, und man weiss sofort, ob man es mit einem echten Montblanc zu tun hat oder mit einem in China hergestellten Imitat. Selbst wenn man keine Unterschiede erkennen kann, spürt man sie irgendwie. In Wien habe ich kürzlich eine Ausstellung mit Bildern Mark Rothkos besucht, und die Bilder sprachen und sprachen zu mir. Jedes einzelne. Man muss sie lediglich auf ihre eigene Weise sprechen lassen und zuhören. Zu beschreiben, was die Bilder mir sagten, ist unmöglich. Aber ich könnte ein Gedicht oder sogar ein Theaterstück schreiben, um auf eines von ihnen zu antworten, und vielleicht tue ich das sogar eines Tages. Das wäre dann meine Interpretation dessen, was die Bilder mir gesagt haben, und die einzige Möglichkeit für mich, diese Erfahrung in Worte zu fassen.
Machen Sie ähnliche Erfahrungen beim Lesen zeitgenössischer Literatur?Hin und wieder stolpere ich über einen Schriftsteller, von dem ich denke, dass es ihn zu lesen lohnt. In Norwegen gibt es ziemlich viele gute Schriftsteller - es ist nicht nur ein Gerücht, dass das Niveau norwegischer Literatur recht hoch ist. Es ist natürlich schwierig, jetzt einzelne Namen zu nennen, aber vielleicht kann ich Dag Solstad erwähnen, weil er inzwischen 78 Jahre alt ist. Oft gefallen mir insbesondere die Schriftsteller, deren Bücher sich von meinen eigenen sehr unterscheiden.
In "Der andere Name" scheinen Sie jedoch auch mit der Gattung der Autofiktion zu spielen, die seit ein paar Jahren sehr im Trend liegt. Der Maler Asle und sein gleichnamiger Doppelgänger, ein anderer, allerdings dem Alkohol verfallener Maler, sind Ihnen zumindest äusserlich recht ähnlich.Ja, es gibt Ähnlichkeiten, aber die Geschichte dieser beiden Figuren ist nicht meine Geschichte. Es stimmt, die Autofiktion ist gerade sehr angesagt, und bis zu einem gewissen Punkt spiele ich mit dem Phänomen. Zum Beispiel tragen die beiden Asles so wie ich meist schwarze Kleidung und haben einen grauen Pferdeschwanz.
Gab es einen Moment in Ihrem Leben, in dem Sie der selbstzerstörerische Asle hätten werden können, der sich nach seiner Auslöschung sehnt und schliesslich im Delirium zusammenbricht?Ja, ohne Frage. Ich habe sowohl eine depressive als auch eine alkoholkranke Seite an mir. Inzwischen kann ich ab und zu wieder ein Glas Wein trinken, aber einige Jahre lang habe ich keinen Alkohol angerührt. Ich weiss etwas über das Trinken, und ich weiss etwas über die Depression. Ich weiss also, worüber ich schreibe, aber es geht mir beim Schreiben dennoch nicht darum, ein Bild von mir selbst zu zeichnen, sondern darum, mir selbst zu entkommen und die eigene Immanenz zu transzendieren. Nicht umsonst hat das, was wir Fiktion nennen, den Menschen seit so langer Zeit begleitet: Der Fiktion ist eine Wahrheit eigen, die dem autobiografischen Schreiben fehlt.
Sie meinen, "Min Kamp" kann nur verlieren?In gewisser Weise schon, und ich bin sicher, dass auch Karl Ove Knausgård das weiss. Er wusste es sogar bereits, als er mit der Arbeit an seinem Zyklus begann. "Was ich versuche, ist unmöglich." Natürlich sind seine Bücher dennoch Literatur und haben einen fiktiven Anteil. Autobiografische Literatur ist eine Illusion - sofern sie so gut und intelligent geschrieben wird wie von Karl Ove.
Der Ich-Erzähler Ihres Romans versucht beim Malen nicht nur, einem inneren Bild nahezukommen. Er ist auch von der Unruhe getrieben, andere Bilder, die sich in ihm festgesetzt haben und zur Qual geworden sind, "wegzumalen". Kennen Sie diese Art Unruhe?Diese Unruhe ist da, unablässig. Deshalb schreibe ich. Ich weiss nicht, was genau es ist, das ich mir vom Leib zu schreiben versuche. Es ist schwer, sich selbst zu verstehen, und es ist schwer, das eigene Schreiben zu verstehen. Aber ich weiss, dass ich nicht schreibe, um mich auszudrücken, sondern um mich meiner selbst zu entledigen. Was genau es ist, das ich auslöschen will, weiss ich nicht.
tdv. Der am 29. September 1959 in der südwestnorwegischen Küstenstadt Haugesund geborene Jon Fosse ist einer der grossen Mystiker der europäischen Gegenwartsliteratur. International bekannt wurde er durch seine mehr als dreissig auf Nynorsk verfassten Theaterstücke, die ihm zahlreiche Auszeichnungen und das Ansehen eines "Beckett des 21. Jahrhunderts" einbrachten, Fosses seit 1983 erschienenes Prosawerk jedoch aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängten. Zu Fosses wichtigsten Büchern zählen der Mitte der neunziger Jahre erschienene Roman "Melancholie" sowie das 2015 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnete Prosa-Triptychon "Trilogie". Mit der im Sommer 2015 begonnenen Heptalogie, deren Grossteil Fosse an seinem Zweitwohnsitz in Hainburg an der Donau schrieb, führt er seine Arbeit als Romancier zu neuer Meisterschaft. An einem Sommertag im August, wenige Wochen vor Erscheinen von "Der andere Name", dem ersten Roman des siebenteiligen Erzählwerks, sitzt Fosse im Foyer des Osloer "Det Norske Teatret" und erzählt von der Arbeit an seinem Magnum Opus.