Das Spannungsverhältnis zwischen menschlichem Geist und künstlicher Intelligenz treibt Ian McEwan ebenso um wie die Verwerfungen in seiner britischen Heimat. Diese Themen, um die sein neuer Roman kreist, vertieft er im folgenden Gespräch.
Ian McEwan, gewöhnlich begegne ich Ihnen in der mentalen Privatsphäre des Lesers. Gestern jedoch war ich Teil des Publikums beim öffentlichen Gespräch über Ihren neuen Roman. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie als Schriftsteller auf einem Podium sitzen?
Inzwischen wird es vom Schriftsteller erwartet, professioneller Interpret der eigenen Arbeit zu sein. Als ich mit dem Schreiben begann, war dies kaum der Fall. Natürlich sind Autoren schon immer aufgetreten, Dickens etwa hat Bühnenlesungen auf geradezu theatralische Weise abgehalten. Aber Tolstoi und Kafka haben sich nicht endlos erklärt. Es handelt sich dabei um einen merkwürdigen Vorgang, der dazu führt, dass das gesamte eigene Werk im Präsens weiterlebt, weil man jederzeit zu allem befragt werden könnte. Meine erste Story erschien vor mittlerweile fünfzig Jahren, und sich mental mit etwas auseinanderzusetzen, das man vor einem halben Jahrhundert geschrieben hat, hat etwas sehr Eigenartiges.
Auf Podien sind Sie nicht nur Interpret Ihres eigenen Werks, sondern - wie viele Autoren seit den Anschlägen vom September 2001 - auch gefragter Kommentator des Zeitgeschehens. Inwiefern beeinflussen die Erwartungen, die Ihre Leserschaft an Sie als "public intellectual" hat, Ihr Schreiben?
Ich würde sogar weiter zurückgehen und sagen, es begann mit der Rushdie-Affäre. Merkwürdig, dass Sie mich darauf ansprechen, weil ich gerade eine Anfrage vom "New Statesman" erhielt, der einen Essay, den ich 1989 für das Magazin über die Rushdie-Affäre geschrieben hatte, in Buchform wiederveröffentlichen möchte. Der Essay hiess "Do You Dare Like This Book".
Er erschien, kurz nachdem über Rushdie die Fatwa verhängt worden war.
Ja. Ich hatte den Essay vollkommen vergessen und kann mich auch nicht erinnern, was ich darin geschrieben hatte. Aber dieses Ereignis, eher als der 11. September, hat Schriftsteller meiner Generation dazu gedrängt, Position zu beziehen. Doch Sie fragen mich nach öffentlichen und privaten Räumen.
as. · Vorgezeichnete Wege gibt es für den britischen Schriftsteller Ian McEwan nicht. Eben noch hatte er in "Nussschale" eine kühne Variation über Shakespeares "Hamlet" geschaffen; in seinem jüngsten Roman, "Maschinen wie ich", schickt er nun einen Androiden, von dessen Perfektion die KI-Experten und Roboter-Technologen einstweilen nur träumen können, ins London des Jahres 1982 und schreibt en passant die Weltgeschichte ein wenig um. Der mit zahlreichen Preisen geehrte Autor zählt zu den insistenten, doch reflektierten Kritikern des Brexit; im Mai 2017 plädierte er in der Westminster Central Hall für eine Wiederholung des Referendums.
Mein eigener Eindruck ist, dass ich an keinerlei öffentliche Erwartungen denke, sobald ich die Tür meines Arbeitszimmers hinter mir schliesse. Ich bin dann in einem luxuriösen, privilegierten Raum geistiger Freiheit - im Bewusstsein, dass es sich dabei um eine Minderheitenposition handelt. Wir leben nicht in einem Zeitalter der Meinungsfreiheit, diese ist auf gewisse Länder begrenzt. Wenn ich öffentlich rede, kommt es mir fast so vor, als würde ich über einen anderen Autor sprechen. Ich bin dann nicht der Schriftsteller, der allein in seinem Arbeitszimmer sass und über einen Zeitraum von zwei oder drei Jahren ein Buch hervorgebracht hat.
Mit der künstlichen Intelligenz haben Sie in Ihrem neuen Roman, "Maschinen wie ich", dennoch abermals ein Thema aufgegriffen, das Teil eines aktuellen öffentlichen Diskurses ist.
Das ist richtig.
Ihr Interesse an dieser Materie reicht bis ins Jahr 1975 zurück, als Sie an einem Magazinartikel über Maschinenintelligenz und den 1954 verstorbenen Alan Turing arbeiteten, der nun als Nebenfigur im Roman auftritt. "Können Maschinen denken?" Was hat Sie damals an dieser von Turing aufgeworfenen Frage interessiert?
Ich war zu jener Zeit vielleicht eine Art frustrierter Naturwissenschafter, ich hatte ein schwelendes Interesse an Mathematik und war fasziniert von diesem Mann, der ein Universalgelehrter gewesen war. Turing war nicht nur ein guter Mathematiker, auch Biologie fesselte ihn. Er hat viel zur Morphologie gearbeitet, zur Frage, weshalb Pflanzen eine spezifische Form haben; für die Biologie ist das nach wie vor ein grosses Thema. In gewisser Weise fühlte ich mich von der Vorstellung angezogen, dass es in modernen Zeiten noch immer möglich war, ein Universalgelehrter zu sein. Jetzt ist es meines Erachtens unmöglich.
Welche Vorstellungen hatten Sie Mitte der siebziger Jahre von der Zukunft - etwa vom Jahr 1982, in dem "Maschinen wie ich" spielt?
In den Siebzigern hing der künstlichen Intelligenz noch etwas Phantastisches an, bis in die achtziger Jahre hat sie nichts hervorgebracht. All ihre Versprechungen hatten sich in Luft aufgelöst, die Computerrevolution hatte noch nicht stattgefunden. Die Zeit der Lochkarten war zwar vorüber, aber es gab noch diese riesigen IBM-Bandlaufwerke, und nur grosse Unternehmen konnten sie sich leisten. Computer waren noch nicht Teil unseres Lebens, so dass der Gedanke, dass KI irgendeine Auswirkung auf menschliches Leben und die Gesellschaft haben könnte, einfach nicht aufkam. Ausserdem durchlebte England in den Siebzigern eine Reihe politischer Krisen, 1979 wurde Mrs. Thatcher Premierministerin, und wir schlitterten den Berg hinab. Wir hatten genug damit zu tun, die Gegenwart zu bewältigen.
"Bei der Behauptung, dass Bewusstsein nicht existiere, handelt es sich um eine der dümmsten Ideen, auf die ein denkender Mensch je gekommen ist."
Dennoch: KI interessiert Sie seit langem. Weshalb haben Sie mit dem Schreiben eines Romans darüber bis heute gewartet?
Weil wir inzwischen in ein silbernes Zeitalter der künstlichen Intelligenz eingetreten sind. Endlich ist es so weit, dass die KI ihr Versprechen einzulösen beginnt. Vor etwa zehn Jahren machte die Software beträchtliche Fortschritte, Leute schrieben Programme für Machine-Learning, eine entscheidende Entwicklung. Algorithmen wurden komplexer und drangen in unser aller Leben ein. Als ich Gelegenheit hatte, mit dem KI-Forscher Demis Hassabis über Intelligenz und Machine-Learning zu sprechen, begriff ich, dass eine einzigartige industrielle Revolution bereits ihren Anfang genommen hatte. Dass wir uns an der Schwelle einer revolutionären Technologie befanden, die möglicherweise das Schicksal der Menschheit verändern wird.
Ein Roboter namens Adam wird in "Maschinen wie ich" Teil einer Dreiecksbeziehung. Können Sie sagen, wo in Adam sich "der Geist in der Maschine" befindet?
In den Netzwerken, genau wie im menschlichen Gehirn. Es gibt keinen einzelnen, fixen Ort. Der kartesische Dualismus hält weder in technischer noch in philosophischer Hinsicht stand, aber Gilbert Ryles Buch "Der Begriff des Geistes", auf das Sie mit dem Zitat Ihrer Frage anspielen, ist dennoch ein dummes Buch, über das ich an der University of Sussex noch Essays schreiben musste. Es handelt sich dabei um ein ultrabehavioristisches Buch, das uns zu überzeugen versuchte, dass es so etwas wie "Geist" nicht gibt. Dass es sich dabei lediglich um eine bestimmte Art des Verhaltens handelt.
Ab und zu kommt dieser Gedanke aber nach wie vor wieder auf.
Ja, und mein Freund, der britische Philosoph Galen Strawson, widmet sein Leben der Feststellung, dass es sich bei der Behauptung, dass Bewusstsein nicht existiere, um eine der dümmsten Ideen handelt, auf die ein denkender Mensch jemals gekommen ist. Natürlich liefert sich Galen diesbezüglich Kämpfe mit Daniel Dennett. Ich war neunzehn Jahre alt, als ich über Gilbert Ryle geschrieben habe, Sie erinnern mich also gerade daran, dass mich die Dinge, über die wir hier sprechen, bereits mein Leben lang interessieren.
Ein Dualismus anderer Art liegt C. P. Snows Ende der fünfziger Jahre aufgestellten These von den "zwei Kulturen" zugrunde, an die ich beim Lesen Ihrer Bücher mitunter denke. Halten Sie die Natur- und Geisteswissenschaften für zwei nach wie vor nicht zu vereinbarende Welten?
Die These entbehrte nicht einer gewissen Realität, und das britische Bildungswesen stützt sie nach wie vor. Sobald sie sechzehn sind, beschäftigen sich die meisten Kinder entweder nicht mehr mit den Natur- oder aber nicht mehr mit den Geisteswissenschaften. Zugleich wird diese Dualität aber auch durchbrochen, etwa durch John Brockmans Website Edge.org, wo ein grossartiger Dialog zwischen Wissenschaftern und Künstlern geführt wird. Bei öffentlichen Auftritten fragen mich Leute trotzdem: "Weshalb interessieren Sie sich für Naturwissenschaften?" Die Frage erscheint mir ebenso dumm wie die Frage: "Weshalb interessieren Sie sich für Literatur?" Oder: "Weshalb interessieren Sie sich überhaupt für irgendetwas?"
In der Vorstellung des Erzählers von "Maschinen wie ich" verschmilzt das Gesicht Alan Turings mit dem des Malers Lucian Freud, was mir wie eine symbolhafte Verbindung erscheint. Verstehen Sie Ihr Werk als eine Brücke zwischen den "zwei Kulturen"?
Man kann die Verschmelzung beider Gesichter durchaus so verstehen, aber ich sehe es nicht als meine Mission, zwischen den beiden Kulturen zu vermitteln. Im Grunde ist es ganz einfach: Wenn man sich alles vor Augen hält, was ich jemals geschrieben habe, sieht man den gesamten Inhalt meines Geistes. Alles, was mich interessiert, wird irgendwann zum Gegenstand eines Romans.
Ihr 2005 erschienener Roman "Saturday" wurde als Roman bezeichnet, der "bewusst vom Bewusstsein" handle.
Handeln nicht alle Romane vom Bewusstsein? Es gibt da kein Entkommen.
"Wir sind über den Punkt hinaus, an dem es noch möglich war, über das Menschliche nachzudenken, ohne Technologie und die Naturwissenschaften einzubeziehen."
Wie hat sich Ihr Wissen um das, was Bewusstsein ausmacht, seit der Arbeit an "Saturday" verändert?
Ich würde zum Beispiel nie wie Daniel Dennett ein Buch schreiben, das "Consciousness Explained" heisst. In der Welt der Neurowissenschaften würden viele einen weiten Bogen um diesen Titel machen, weil es sich um ein Projekt handelt, das kaum begonnen hat. Ich habe kürzlich angefangen, mich mit dem Feld der "information biology" zu befassen. Wie ist es möglich, dass eine Zelle so viele Informationen enthalten kann? Wir wissen nicht, was belebte von unbelebten Dingen unterscheidet, obwohl manche behaupten, dabei handele es sich um die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und zu nutzen. Aber wie? Die Komplexität einer Zelle scheint endlos.
In gewisser Weise befindet sich die Menschheit also noch immer am Anfang von allem?
Wir stehen allenfalls bis zu den Knöcheln im endlosen Ozean der Möglichkeiten. Abgesehen von den grossen Problemen wie Klimawandel und der Möglichkeit eines Nuklearkriegs liegt die grösste Herausforderung meiner Meinung nach jedoch in der Frage: Was geschieht, wenn wir Maschinen herstellen, die intelligenter als wir selbst und die dem Menschen zudem in moralischer Hinsicht überlegen sind?
Eine Frage, der Sie in "Maschinen wie ich" nachgehen.
Und was geschieht, wenn diese Maschinen an der nächsten Generation ihrer Konstruktion mitarbeiten und die ganze Sache über unseren Verstand hinauszuwachsen beginnt? Wir werden uns Gewissheit darüber verschaffen müssen, wo wir aufhören und sie beginnen. Aber diese Fragen bleiben vollkommen offen, weil die Vielzahl der Möglichkeiten in mathematischer Hinsicht kolossal ist und unsere Technologien und die Auswirkungen, die sie auf unser Leben haben, eine Komplexität erreicht haben, die Vorhersagen völlig unmöglich macht.
Welche Relevanz messen Sie der Literatur der Zukunft bei? Ihr Roboter Adam prophezeit, dass Literatur als Beschreibung der "Varianten menschlichen Versagens" zukünftig überflüssig sein wird, "da wir einander dann zu gut verstehen".
Ja, weil wir in einer Cloud alle miteinander vernetzt sein werden. Es wird keine Täuschungen mehr geben oder all die anderen Dinge, von denen Romane handeln. Aber bei dieser Vermutung handelt es sich um Adams jugendlichen Überschwang. Ich habe nichts dafür übrig. Die Auswirkungen unserer Technologien auf unsere Privatsphäre, unser soziales und politisches Leben nehmen so rapide zu, dass sich für den Roman aussergewöhnliche Möglichkeiten eröffnen. Eines Tages werden wir auf das beginnende einundzwanzigste Jahrhundert zurückblicken wie auf das viktorianische Zeitalter, als man davon überzeugt war, dass man nicht mehr atmen könne, sobald ein Eisenbahnzug schneller als fünfundzwanzig Meilen pro Stunde fuhr.
Sind die Weisheiten der Literatur den Erkenntnissen der Naturwissenschaften ebenbürtig?
Es handelt sich dabei um parallele Erkundungen. Literatur ist in moralischer Hinsicht neutral, sie macht Menschen nicht besser oder schlechter, aber sie erweitert bis zu einem gewissen Punkt die Wahrnehmung und das Verständnis. Sollten wir das Interesse an Literatur verlieren oder sollte sie plötzlich irrelevant werden, befänden wir uns an einem sehr viel dunkleren Ort. Wir wären nicht mehr in der Lage, über uns selbst zu reflektieren - über das, was wir sind oder tun. Wir sind jedoch über den Punkt hinaus, an dem es noch möglich war, über das Menschliche nachzudenken, ohne Technologie und die Naturwissenschaften einzubeziehen.
In der futuristischen Realität des Jahres 1982, in der "Maschinen wie ich" spielt, erkennt man Züge unserer eigenen Zeit - nicht zuletzt im Bemühen einer politischen Gruppierung um den Austritt Grossbritanniens aus der EU.
Es handelt sich um keinen historischen Roman. Das Buch in einer erfundenen, veränderten Vergangenheit spielen zu lassen, heisst, sich der reinen Spekulation und gedanklichen Phantasmen hinzugeben, und Sie haben recht: Der Roman handelt ebenso sehr von heute wie von damals. Es gibt einen Anflug von Brexit, der Roman ist voll der Ängste, die uns heute heimsuchen.
"Boris Johnson katapultiert sich mit seinem Brexit-Versprechen auf eine Mauer zu, die er selbst errichtet hat."
"Was wäre, wenn . . .?" Die zentrale Frage, von der Ihr Roman ausgeht, beschäftigt nicht nur Literaturinteressierte, sondern auch die Leser einer allenthalben im Umbruch befindlichen Realität.
Stimmt. Die Menge der "Was wäre, wenn . . .?", die sich vor uns auftürmt, ist unendlich. Was wäre, wenn eine Gänseschar über der Beringstrasse das amerikanische Raketenabwehrsystem alarmieren würde und eine Maschine sehr schnell eine Entscheidung treffen müsste? Was wäre, wenn der Totalzusammenbruch des Finanzsystems, der 2008 und 2009 nicht sehr fern schien, uns noch bevorstünde und nicht nur wenige, sondern alle Banken pleitegingen?
Was wäre, wenn Boris Johnson sein Versprechen wahr machen und Grossbritannien Ende Oktober aus der EU führen würde - auch ohne Vertrag?
Johnson katapultiert sich mit diesem Versprechen auf eine Mauer zu, die er selbst errichtet hat. Er wird entweder mit uns an Halloween aus der EU austreten oder sein Wort brechen, was für Politiker keine Unmöglichkeit ist. Grossbritannien befindet sich in einer konstitutionellen Krise, und wir haben keine Ahnung, worauf sie hinauslaufen wird. Es ist durchaus möglich, dass wir in der EU verbleiben werden, aber für alle Zeiten Narben davontragen. Zutiefst gespalten, so wie es die Vereinigten Staaten seit vielen Jahren sind. Beinahe "zwei Kulturen", aber nicht im Sinne C. P. Snows, sondern zwei politische Kulturen, deren Annahmen bezüglich der Gegenwart und der Zukunft vollkommen verschieden sind.
Brauchen Politiker der Ära Trump die Qualitäten eines Rockstars, um erfolgreich zu sein?
Man darf nicht vergessen, dass Johnson nicht durch eine allgemeine Parlamentswahl ins Amt kam. Für ihn gestimmt hat lediglich eine Mehrheit der sehr kleinen Mitgliedschaft der Tories - zu rund drei Vierteln Leute, die fünfundsechzig Jahre oder älter sind. Sie sind grösstenteils weiss, sie gehören mehrheitlich der Mittelschicht an. Für die Bevölkerung des Landes sind sie in keiner Weise repräsentativ, aber sie sind von Boris Johnson geblendet. Zum Teil hat das damit zu tun, dass in England - und ich spreche bewusst von England und nicht von Grossbritannien -, die alte, nicht sonderlich hilfreiche Tradition existiert, jemandem, der als "u pper-class" gilt, mit Faszination und Bewunderung zu begegnen. Eton, Oxford, vornehm.
Ein Nachkomme der "Brideshead"-Generation.
Ich selbst spreche als Republikaner, und wie wundervoll die Queen auch sein mag, ich glaube, dass die Monarchie ihren Beitrag zu dieser merkwürdigen Tendenz der Engländer leistet, Eton-Schüler an die Macht zu bringen. Sie sind von ihrem eigenen Anrecht darauf vollkommen überzeugt, obwohl sie oft nicht sonderlich gebildet sind. Sie sind schlagfertig und haben eine gewisse Art von Glanz. Boris Johnson ist einer von diesen Typen, die einen Essay erst in der Nacht vor dem fälligen Abgabetermin angehen. Er bewerkstelligt das sehr schnell, und das Ergebnis ist sehr clever, aber nicht fundiert.
Vielleicht gelingt es Johnson, die Union-Jack-Fähnchen zu verkaufen, mit deren Vertrieb der Erzähler von "Maschinen wie ich" eine Pleite erlebt hat.
Ich sehe Boris Johnson eigentlich gar nicht als Scharlatan. Das Problem liegt weniger in Johnson selbst als in den Wählern. Wie heisst es in einem berühmten Gedicht von Brecht: "Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?" Irgendwie hat es unser System diesen Etonians ermöglicht, in die politische Sphäre vorzudringen, obwohl sie weder sonderlich talentiert oder klug sind noch eine Begabung für Politik besitzen.
Was brauchte es, um dieses System zu verändern?
Unser Social Engineering hat zu einer Welt geführt, in der die sechs oder sieben Prozent, die eine Privatschule besucht haben, einen riesigen, völlig überproportionalen Teil unserer kulturellen und politischen Eliten stellen. Natürlich gibt es Dinge, die man ändern könnte, und als jemand vom linken Flügel habe ich mein Leben lang darüber geredet.
"Inzwischen leben wir in einer beinahe vorreligiösen, heidnischen Zeit mit allen möglichen dunklen Machtphantasien, die die populistischen Bewegungen antreiben."
Und wie lautet Ihre Botschaft heute?
Wir müssen uns im Klaren darüber sein, wie weit wir die Kontrolle über unser Leben bewahren wollen. Über die Art und Weise, wie wir das Leben für uns selbst beschreiben und welche Rolle die Literatur dabei spielt. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unsere Existenz von der gewaltigen Revolution, die wir durchleben, nicht mehr getrennt werden kann. Die künstliche Intelligenz ist nur ein Aspekt des gesamten digitalen Augenblicks. Wir hätten uns niemals vorstellen können, welchen Einfluss das Internet auf unsere Politik haben würde. Dass es einen amerikanischen Präsidenten ins Amt heben würde. Wir befinden uns also in einem freien Fall, den wir zum Teil unserer eigenen Cleverness verdanken. Unserer technischen Cleverness, die so viele mögliche Zukünfte erzeugt, dass wir darüber keine Vermutungen mehr anstellen können.
Was geht Ihnen momentan durch den Kopf, wenn Sie in die Privatsphäre Ihres Arbeitszimmers eintreten?
Ich habe gerade Stefan Zweigs "Die Welt von gestern" gelesen und mache mir Gedanken über die merkwürdige Welle des Irrationalismus, die derzeit über Europa hinwegrollt und eine ihrer interessantesten Manifestationen in der Weigerung von Leuten findet, sich gegen Masern impfen zu lassen. In den USA herrscht im Staat New York bereits eine Epidemie. Es betrifft nicht nur rückständige Länder, Frankreich ist führend in der Anti-Impf-Kampagne. Darüber hinaus erinnere ich mich an die Siebziger, als wir glaubten, dass sich die Religion aus der öffentlichen Debatte verabschiedet habe. Mit dem Islamismus ist sie zurückgekehrt, und inzwischen leben wir in einer beinahe vorreligiösen, heidnischen Zeit mit allen möglichen dunklen Machtphantasien, die die populistischen Bewegungen antreiben. Einer der sensibelsten Indikatoren für den Zustand Europas war schon immer der Antisemitismus.
Der mittlerweile wieder zunimmt.
Nicht nur in Form unbedachter Ausrutscher auf der Strasse, vielmehr dringt der Antisemitismus auch in die Politik ein. Beispielsweise in Ungarn. Und all das so bald nach dem Zweiten Weltkrieg und der "Endlösung". Das alles geht mir momentan durch den Kopf, und natürlich ist der Brexit Teil davon. Trump ist Teil davon, Brasiliens Bolsonaro ist Teil davon. Aber was mir noch fehlt, ist die Sprache, sind die Situationen, der Impuls, der diesen Dingen eine fiktive Stimme gibt. Das, was die Literatur hinzufügen würde, was ihr Beitrag wäre.
Wenn Alan Turing recht hat und Adam uns allen einen Spiegel vorhält: Was sehen Sie in diesem Spiegel?
Ich sehe ein verwirrtes Kind.
An Ihrem Schreibtisch sitzt ein Kind?
Nein, Sie hatten gefragt, was ich im Spiegel meiner Figur sehe. An meinem Schreibtisch sitzt ein alter Mann.