Irlands Hauptstadt habe ihn zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere herzlich wenig interessiert, gibt John Banville zu. Heute zählt er zu den bekanntesten irischen Gegenwartsautoren und kann seine "Spaziergänge durch Dublin" mit wachem Blick und gespitztem Schreibstift unternehmen.
Das Werk des irischen Schriftstellers John Banville ist von mitunter magischer Transzendenz. Der eigentliche Protagonist seiner inzwischen siebzehn Romane ist ein bilderreicher, von überraschenden Metaphern erfüllter Stil, der sich in den glücklichsten Augenblicken vom Schauplatz der Handlung löst und wie eine schillernde Seifenblase himmelwärts schwebt.
Als ich Banville vor fünfzehn Jahren erstmals in Dublin besuchte und wir von seiner Arbeitswohnung am Nordufer der Liffey über die Ha'penny Bridge spazierten und weiter durch die engen Gassen des Stadtviertels Temple Bar, schwärmte er von der mäandernden Prosa W. G. Sebalds; die Schönheit der Stadt würdigte er mit keinem Wort.
Wie Kafkas Buchstabe K"Dublins Vergangenheit hat mich damals, ehrlich gesagt, herzlich wenig interessiert und seine Gegenwart im Grunde auch nicht", heisst es nun in "Spaziergänge durch Dublin", den aufschlussreichen Memoiren, in denen Banville diese seltsame Gleichgültigkeit bis in die Anfänge seiner Schriftstellerexistenz zu Beginn der sechziger Jahre zurückverfolgt. "Für mich als angehenden Schriftsteller war klar, dass Joyce die Stadt seinen literarischen Zwecken unterworfen und sie dadurch verbraucht hatte - genauso wie Kafka den Buchstaben K - und sie folglich als Schauplatz meiner Romane nicht mehr zu ge brauchen war."
Der im Dezember 1945 in Wexford geborene Banville erinnert sich an die Ausflüge, die er als Kind an seinen Geburtstagen in die winterliche Hauptstadt unternommen hat, an die "Schokosahnetorte von der Bäckerei Kylemore, auf die in weissem Zuckerguss mein Name gespritzt war". Er erinnert sich an den Hochmut und die Geringschätzung, mit der er als Achtzehnjähriger das kleinstädtische Wexford verliess, seine herrische Arroganz, "die auf nichts weiter fusste als auf meiner eigenen aufgeblähten Wertschätzung für das, was ich eines Tags erreichen würde". An den Umzug nach Dublin, wo er sich mit einer altjüngferlichen Tante bis zu ihrem Tod die Wohnung teilte. Er erzählt von den Spritztouren durchs Dublin der Gegenwart, die er mit seinem Freund Cicero unternimmt, der sich als ebenso kenntnisreicher Führer durch Dublins Stadtgeschichte erweist wie die Historiker Maurice Craig und Christine Casey, aus deren Büchern Banville auf seinen Spaziergängen wiederholt und vielleicht allzu bereitwillig zitiert.
"Eine Bedingung bei diesen Ausflügen in Dublins Vergangenheit ist, dass mir Cicero nie vorher sagt, wo wir hingehen": So versucht der mittlerweile über Siebzigjährige, auf den Spaziergängen durch die unbekannte Stadt die gleiche Vorfreude in sich heraufzubeschwören, die er als Kind an seinen Geburtstagen empfand, wenn der Zug aus Wexford in die russgeschwärzte Kuppel des Dubliner Bahnhofs einfuhr. Dennoch wirken die mit Cicero unternommenen Exkursionen in die Geschichte des Abbey Theatre oder zum steinernen Haupt Admiral Nelsons, dem Überrest des 1966 von der IRA gesprengten Wahrzeichens der ehemaligen britischen Besatzung, eher wie Pflichtübungen aus zweiter Hand. Banvilles persönliche Erinnerungen hingegen haben die Patina echter Erfahrung und verleiten ihn immer wieder zum Nachdenken über das geheimnisvolle Wesen der Zeit.
Die Zeit verklärt"Wann wird die Vergangenheit zur Vergangenheit? Wie viel Zeit muss vergehen, bevor das, was einfach bloss geschehen ist, auf diese mysteriöse, numinose Weise zu leuchten beginnt, die das Merkmal wirklichen Vergangenseins ist?" Es sind Gedanken wie diese, die den Leser zwischen schönen Vignetten wie der Erinnerung an Banvilles erste, unerwiderte Liebe, den Porträtskizzen vergessener Dubliner Originale oder der Beschreibung des einzigartigen, für Dublin offenbar typischen Regens an grosse Romane wie "Die See" und "Im Lichte der Vergangenheit" denken lässt.
"Die prächtigen Bilder, die wir in der Erinnerung mit uns herumtragen, waren einmal einfach bloss die Gegenwart, fade und alltäglich und ganz und gar nicht bemerkenswert", so Banville, der auch auf den Fotografien von Paul Joyce, die ihn ausschliesslich von hinten zeigen, aussieht, als würde er auf seinen Spaziergängen durch Dublin der profanen Gegenwart am liebsten entkommen. "Sagen wir so: Die Gegenwart ist das, worin wir leben, die Vergangenheit hingegen das, worin wir träumen." Als Leser muss man nicht mit John Banville über die Ha'penny Bridge spazieren oder irgendwo in Temple Bar Kuchen essen, um sich vom Glanz seiner Träume verzaubern und davontragen zu lassen.