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Zum 70. Geburtstag von Graham Swift

Graham Swift lesen

Er ist einer der Stillen unter Englands grossen Gegenwartsautoren, und er spürt den Befindlichkeiten scheinbar ganz gewöhnlicher Menschen in hochdifferenzierten literarischen Porträts nach. Heute, am 4. Mai, begeht Graham Swift seinen siebzigsten Geburtstag.

Graham Swift ist ein leiser, ein zurückhaltender Schriftsteller. Kein ausschweifender "Meister der Gelage" wie Salman Rushdie, der zur Zeit der Fatwa gern die Weihnachtstage zu Hause bei Swift im Londoner Vorort Wandsworth verbrachte. Er ist introvertiert, ein ernster, mitunter tragikomischer, doch kaum jemals ausgelassener Autor. Kein zynischer Satiriker wie Martin Amis, kein spitzzüngiger Ironiker wie Julian Barnes. Die letzten Bücher von Ian McEwan hat er vermutlich nicht einmal mehr gelesen.

Zu Graham Swifts literarischen Leitsternen gehören Tschechow und Montaigne, auf seinem Schreibtisch stand lange Zeit ein Foto von Isaak Babel. Unter den Autoren seiner Generation, mit denen er 1983 vor der Veröffentlichung seines inzwischen zum Klassiker avancierten Romans "Wasserland" auf der legendären, von der Literaturzeitschrift "Granta" erstellten Liste der "Best of Young British Novelists" figurierte, ähnelt er vielleicht am ehesten Kazuo Ishiguro.

Mystiker des Profanen

Mit ihm verbindet Swift nicht nur eine tiefe Freundschaft, sondern auch das Nachdenken über die Rätsel der Herkunft und das unergründliche Faszinosum der Englishness, dem Swift am eindringlichsten im 2011 erschienenen Roman "Wärst du doch hier" und in dem in den Folgejahren entstandenen Erzählband "England und andere Stories" nachgeht. Wenn man sich mit ihm in "The Alma" zum Mittagessen trifft, dem Pub gegenüber dem kleinen, keine Viertelstunde von London Waterloo entfernten Bahnhof Wandsworth Town, bestellt er meistens Fish and Chips.

Swift, am 4. Mai 1949 im Südosten von London als Sohn eines Buchhalters geboren, wuchs am damals noch beinahe ländlichen Rand South Croydons auf. Er ist ein Mystiker des Profanen, dem er bereits in "Ein ernstes Leben" nachspürte, seinem 1980 erschienenen Debütroman über einen Ladenbesitzer, der im wechselnden Licht eines einzigen Tages auf das Glück und Unglück seines zu Ende gehenden Lebens zurückblickt.

In seinem aus mittlerweile zehn Romanen und zwei Erzählbänden bestehenden Werk feiert er die Einzigartigkeit des Vertrauten, in das dann unvermutet das Fremde einbricht. Der Tod, der am Anfang des 1996 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Romans "Letzte Runde" steht, in dem vier Männer von ihrer Londoner Stammkneipe an die Küste von Kent pilgern, um die Asche des verstorbenen Freundes ins Meer zu streuen. Die Liebe zu einer verurteilten Mörderin, die in "Das helle Licht des Tages" (2002) die eintönige Routine eines Privatdetektivs stört und dessen Alltag mit tragischer Leidenschaft erfüllt. Das unerwartete, von Swift in "Ein Festtag" (2016) auf sinnenberauschende Weise heraufbeschworene Gefühl von Aufbruch und Freiheit, das an einem Frühlingstag des Jahres 1924 die märchenhafte Verwandlung eines jungen Dienstmädchens bewirkt.

Im Grenzland

"Geschichten beginnen, wenn Fremdheit sich in unser Leben schleicht", so Swift in "Einen Elefanten basteln", dem autobiografischen, rechtzeitig zur Feier seines siebzigsten Geburtstags vorgelegten Band über sein vom plötzlichen Glück der Inspiration und von den gewagten Höhenflügen der Phantasie bestimmtes "Leben im Schreiben". In dem fragmentarischen, aus Essays, Interviews und Gedichten bestehenden Selbstporträt zeigt sich Swift als Schriftsteller, der am liebsten schon morgens um halb sechs im Arbeitszimmer sitzt, um alle Gewissheiten des eigenen Lebens hinter sich zu lassen und wie seine Figuren die Grenze in ein anderes Land, eine fremde Welt zu überschreiten. Die Grenze zu jener terra incognita, die in Swifts Romanen meist bereits hinter der nächsten Strassenecke liegt.

Swift erzählt in dem Buch von den weihnachtlichen Gelagen mit Salman Rushdie. Von der auf Empfehlung Kazuo Ishiguros gekauften Konzertgitarre, auf der Swift noch heute heimlich spielt, obwohl sein inneres Ohr bereits beim Schreiben einer intimen Musik lauscht, dem Rhythmus und der Resonanz einzelner Wörter, der klangvollen Stille der mit Bedacht gesetzten Pausen, dem Ungesagten zwischen den Zeilen. Er erzählt im Interview mit Patrick McGrath über die Entstehung von "Wasserland", seinem vom magischen Realismus und von den Legenden der ostenglischen Moor- und Marschlandschaft inspirierten Roman über das unwägbare, oft nebelverhangene Grenzland zwischen den erfundenen und den wahren Geschichten, in dem sich die meisten seiner Ich-Erzähler bewegen. Er erinnert an die beschauliche Kindheit im England der Nachkriegszeit, das sich selbstbewusst als "neues Elisabethanisches Zeitalter" feierte.

In einem der berührendsten Essays des Buchs schreibt er über seinen Vater, einen ehemaligen Marinepiloten, der das Trauma des Zweiten Weltkriegs offenbar zeitlebens verdrängte und auf dem Sterbebett plötzlich nach seinem Flugzeug rief. Die Erschütterungen des Krieges ziehen sich in wechselnder Gestalt durch Swifts gesamtes Werk; sie sind bis in die Gegenwart seines 2006 vor dem Hintergrund des Irakkriegs spielenden Romans "Wärst du doch hier" und des vom langen Schatten des Ersten Weltkriegs verdunkelten "Ein Festtag" zu spüren. Als Engländer ist er erfüllt von einer tiefen Liebe zu seinem Land, als Europäer empfindet er im Angesicht des drohenden Brexits beinahe Scham.

Stille Meisterschaft

In "Here We Are", seinem neuen, für Februar nächsten Jahres angekündigten Roman, lässt er auf der Pier eines englischen Seebads in der Abenddämmerung der zu Ende gehenden fünfziger Jahre noch einmal die bunten Lichter aufglühen. Der Zauber der Geschichte über drei junge Entertainer dürfte abermals in der stillen Meisterschaft eines Schriftstellers liegen, für den die Literatur bestenfalls selbst "eine Feier" ist, wie es in Swifts Essayband heisst, "mindestens aber ein Leuchten im Dunkeln".

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