Wenige sind besser vertraut mit Shakespeares Dramen als der amerikanische Literaturwissenschafter Stephen Greenblatt. Sein jüngstes Buch, "Der Tyrann", hält Donald Trump und anderen Potentaten der Gegenwart den literarischen Spiegel vor. Wie und warum das funktioniert, erklärt er im folgenden Gespräch.
Stephen Greenblatt, in Ihrem jüngsten Buch, "Der Tyrann", blättern Sie Shakespeares "Machtkunde für das 21. Jahrhundert" auf. Richard III. ist dabei eine der prominentesten Figuren. Können Sie den "Winter unsers Missvergnügens" beschreiben, den die USA ebenso wie einige europäische Länder momentan durchleben?"Nun ward der Winter unsers Missvergnügens / Glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks": Dieser Monolog zu Beginn des Stückes handelt natürlich von der Tatsache, dass jeder andere glücklich ist und nur Richard vor Unzufriedenheit innerlich kocht. Im Unterschied dazu erleben wir momentan einen beunruhigenden und verstörenden Augenblick - nicht nur die Amerikaner, die politisch so denken wie ich, sondern egal, wo auf der Welt man sich umsieht. Wenn man an Putin, Duterte, Erdogan und Orban denkt, an die Regime in Brasilien und Polen, dann wird einem klar, dass ein kalter Wind weht.
Wann ist der Herbst in den Winter übergegangen?Im Rückblick erscheint es mir irgendwie naiv, daran geglaubt zu haben, dass die Wahl und die Wiederwahl von Obama eine gewisse Reife der Vereinigten Staaten signalisierten. Eine eigentliche Vergangenheitsbewältigung fand damals zwar nicht statt, aber immerhin eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass unsere Geschichte stets über eine Art dunklen Subtext verfügte, der mit der Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner begann. Sogar der Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg erwies sich als moralisches Versagen. Für Leute meiner Generation hatte es dann den Anschein, dass die Sache nach der Bürgerrechtsbewegung und mit der Wahl Barack Obamas in wichtigen Teilen gelöst war und das Land sich an einen anderen Ort bewegt hatte. Aber diese Meinung war voreilig.
"Es hat Vorteile, ein wenig um die Ecke zu denken, um aus anderer Perspektive auf etwas zu blicken."
Sie haben "Der Tyrann" als Reaktion auf Trumps Wahl zum Präsidenten geschrieben. Weshalb haben Sie keine direkte Schmähschrift verfasst und stattdessen den Kunstgriff der "verborgenen Perspektive" gewählt, auf den Shakespeare zurückgreifen musste, weil im England seiner Zeit - anders als im heutigen Amerika - keine Meinungsfreiheit herrschte?Wenn ich Lust gehabt hätte, Trumps Namen auf jeder Seite herauszutrompeten, hätte ich dies tun können, ohne als Konsequenz beim Betreten einer amerikanischen Botschaft von einer Kettensäge in Stücke zerlegt zu werden. Aber das Buch handelt nicht von einem einzigen Moment, sondern von vielen derartigen Momenten, die Shakespeare meines Erachtens als wiederkehrendes Risiko menschlicher Gemeinschaften erkannt hatte. Sich auf ein einziges Regime zu beschränken, hätte das Feld unnötigerweise eingeengt. Wären Shakespeares Stücke besser, wenn er über den Earl of Essex oder über Robert Cecil geschrieben hätte?
Namen, die heute allenfalls Historikern geläufig sind.Wäre irgend etwas grossartiger gewesen, wenn er seine eigene Gesellschaft direkt angesprochen hätte? Ich denke nicht. Es hat Vorteile, ein wenig um die Ecke zu denken, um aus anderer Perspektive auf etwas zu blicken. Ausserdem bedienen sich komplexe Regime in ihrem Umgang mit abweichenden Meinungen durchaus elisabethanischer Methoden.
Zum Beispiel?
Etwas, wofür man Donald Trump meines Erachtens noch nicht genug Anerkennung gezollt hat, ist die Tatsache, dass er sehr, sehr früh verstanden hat, dass es von politischem Nutzen ist, eine enorme Menge Lärm zu machen, und dass seine täglichen Tweets, ein Skandal nach dem anderen, die permanenten Beleidigungen und Dinge, die zuvor unmöglich schienen, das funktionale Äquivalent sind, um jemand anderen zum Schweigen zu bringen. Zumindest für den Augenblick ist das eine sehr nützliche Strategie.
as. · Seit den frühen 1980er Jahren zählt der 1943 geborene Stephen Greenblatt zu den herausragenden Literaturwissenschaftern in den Vereinigten Staaten. Damals prägte er den Begriff des New Historicism für eine neue Herangehensweise, die literarische und andere Texte nicht isoliert, sondern als Knotenpunkte in einem weiteren kulturellen, sozialen und politischen Gefüge betrachten wollte. Greenblatt lehrte fast dreissig Jahre in Berkeley und an internationalen Hochschulen, seit 2000 ist er John Cogan Professor of the Humanities in Harvard. Zu seinen Kernthemen - Shakespeare, der Renaissance und dem New Historicism - hat er zahlreiche Schriften veröffentlicht, daneben fungierte er als Herausgeber der bei Norton erschienenen Shakespeare-Edition. Sein jüngstes Buch, "Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert", ist im Siedler-Verlag erschienen.
Ich sehe nicht viel fern, kann über seine frühe Karriere also nicht wirklich reden, aber ich nehme an, er hat in der Fernsehwelt, aus der er kommt, das eine oder andere aufgeschnappt und zudem entsprechende Hilfe gehabt. Aber die Sache ist nicht neu: Auch Richard III. liess Trompeten und Trommeln erschallen, um andere zum Schweigen zu bringen.
Woran erkennt man, ob man im Bann einer erhellenden Geschichte oder im Bann einer Phantasie des postfaktischen Zeitalters steht, wie sie etwa Kurt Andersen in seiner amerikanischen Kulturgeschichte "Fantasyland" beschreibt?Von dem Buch habe ich noch nie gehört.
Anderson attestiert Amerika darin einen kollektiven, über fünfhundert Jahre entwickelten Realitätsverlust, der in der Präsidentschaft des vermeintlichen Selfmademan Donald Trump kulminierte.Ich würde sagen, dass genau das Gegenteil richtig ist. Es war das Phänomen Obama, das die amerikanische Phantasie verkörperte - der Sohn eines afrikanischen Vaters und einer weissen Mutter, der ohne die Unterstützung eines millionenschweren Vaters und einzig kraft seiner Intelligenz, seiner Strebsamkeit, eines bewundernswerten Anstands und einer kollektiven sozialen Vision das Unmögliche vollbrachte und acht Jahre lang Präsident der Vereinigten Staaten war. Aber auch wenn ich so naiv war zu glauben, dass unsere Gesellschaft mit Obama ein anderes Niveau erreicht hatte, ist das Amerika, in dem ich in psychologischer Hinsicht gelebt habe, nicht das Amerika des Albtraums, sondern das dieser erstaunlichen Story, die zwar grossartiger ist als meine persönliche, aber doch in einem Zusammenhang mit dieser steht.
Inwiefern?Als Studienanfänger in Yale sass ich in der dortigen Bibliothek und blätterte in einem Register der Einwohner Bostons nach dem Namen meines Grossvaters. Es muss sich um das Register des Jahres 1888 oder 1890 gehandelt haben, und als seine Berufsbezeichnung war Lumpensammler angegeben. Das Niederste des Niederen. Dieses Buch in der Universitätsbibliothek von Yale aufzuschlagen, war für mich ein magischer Moment dieses phantasmatischen Amerika - eines Amerika, das so etwas möglich machte.
"Faszinierend am Aufstieg Trumps ist, dass ihn das gesamte republikanische Establishment gehasst hat."
Auch wenn die Realität aus widersprüchlichen, mitunter unvereinbar erscheinenden Geschichten besteht: In welcher Hinsicht ist Donald Trump eine kollektive Schöpfung?Er ist in jeder Hinsicht eine kollektive Schöpfung, auch wenn ich dem Prinzip Etienne de La Boéties anhänge, nach dem man sich immer auch weigern kann, einem Tyrannen einen Kaffee zu servieren. Am Aufstieg Trumps ist faszinierend, dass ihn das gesamte republikanische Establishment gehasst hat - die Bushs, McConnells und wie sie alle heissen. In dem komplizierten Prozess, von dem ich nicht sicher bin, ob ich ihn völlig verstehe, haben sie sich ihm dann aber alle verschrieben.
Wie konnte das geschehen?
Sie haben sich ihm auf die gleiche Weise verschrieben, wie sich Leute zu anderen Zeiten und unter anderen Regimen Leuten verschrieben haben, von denen sie ganz genau wussten, dass sie vollkommen ungeeignet sind. Sie kriegen von Trump, was sie von ihm verlangen, oder glauben dies zumindest. Es handelt sich also tatsächlich um ein kollektives Projekt, das nicht nur das republikanische Establishment einschliesst, sondern alle, die aus unterschiedlichen Gründen für Trump gestimmt haben - einschliesslich der Mehrheit weisser Frauen.
"Aus welchem Blickwinkel nimmt das Publikum dieses Treiben wahr, das halb Vergewaltigung, halb Verführung ist?", heisst es in "Der Tyrann". Worin liegt die Verantwortung des Publikums - abgesehen davon, still zu sein und dem Schauspiel zuzusehen?Bereits während seiner Wahlkampagne hat man darauf hingewiesen, dass die Presse Trump kostenlose Publicity im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar verschaffte, indem sie allem, was er tat, eine aussergewöhnlich übertriebene Aufmerksamkeit schenkte. Es gab dafür eine Anzahl von Gründen, aber zum Teil hat es damit zu tun, dass Trump genau nach dem Vorbild Richard III. unwiderstehlich gutes Theater bot und in dem Spektakel auch eine Art Vergnügen lag. Wenn jemand in der Öffentlichkeit einen unerhörten Verstoss begeht, ist man darüber zum Teil moralisch entsetzt, aber ein anderer Teil von einem verspürt einen heimlichen, widerwilligen Kitzel angesichts der Vorstellung, dass eine Grenze überschritten und eine Norm gebrochen wurde.
"Ich glaube nicht, dass wir in den dunklen Augenblicken des vierten Akts stecken, und hoffe insgeheim, dass wir dort auch nie hingelangen werden."
In welchem Teil des Dramas befinden wir uns derzeit, in welchem Akt und in welcher Szene?Ich nehme an, wir befinden uns irgendwo in der Mitte, aber ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es sich bedauerlicherweise nicht allein um ein amerikanisches Drama handelt. Trump hat neulich eine Rede gehalten, in der er sich vom Globalismus distanzierte und sagte, ein Globalist sei jemand, dem es ums Wohl der ganzen Welt gehe. Er sagte: "Ich bin kein Globalist. Ich benutze ein altmodisches Wort, von dem die Leute sagen, man solle es nicht mehr verwenden: Ich bin ein Nationalist." Und die ganze Menge jubelte. Dabei ist Trump der Inbegriff des Globalisten: Er hat sein Trump-Zeug auf der ganzen Welt, und dennoch schafft er es, seine grosse Lüge zu etablieren und durchzusetzen.
Was steht uns noch bevor - Katastrophe oder Katharsis?
Ich glaube, es wäre allzu optimistisch zu behaupten, dass wir uns bereits am Ende des Dramas befinden, aber ich glaube auch nicht, dass wir in den dunklen Augenblicken des vierten Akts stecken, und hoffe insgeheim, dass wir dort auch nie hingelangen werden - dass wir uns also nicht auf einen Bürgerkrieg zubewegen. Wenn wir die Welt als Ganzes betrachten und eine Liste dieser unheimlichen Potentaten anfertigen, haben wir allerdings eine Menge, worum wir uns kümmern müssen - ganz abgesehen von der gigantischen Umweltkatastrophe, die sich anbahnt und eine Prüfung für uns alle sein wird.
Das macht die Aussicht auf einen "glorreichen Sommer" nicht eben wahrscheinlich. Dürfen wir dennoch auf ein Ende des "Winters unsers Missvergnügens" hoffen?"Glorreich" wäre ohnehin allzu optimistisch, und auch in "Richard III." wird dieses Wort eher ironisch verwendet. Aber wissen Sie, ich habe drei Söhne und vier Enkelkinder, die ich liebe, und ich hoffe, nicht nur aus persönlichen Gründen, dass die Menschheit einen Weg finden wird, die Probleme, denen sie ausgesetzt ist, zu lösen. Vielleicht nicht ein für alle Mal, aber doch irgendwie. Der Sommer wird also möglicherweise nicht gerade "glorreich", aber doch von einer gewissen Süsse sein.