Ob es um Kunstwerke ging oder um bäuerliches Leben: John Berger war ein Meister der Achtsamkeit. Sie erhellt auch seine letzten, kurz vor seinem Tod erschienenen Prosastücke.
Wer John Berger jemals persönlich begegnet ist, erinnert sich an die kleinen Geschenke, die er seinen Besuchern beim Abschied mit auf den Weg gab. Die Zeichnungen, von denen andere erzählen. Das schmale, in seinem Arbeitszimmer im Pariser Vorort Antony aus einem Papierstapel hervorgezogene Pamphlet, das er schnell noch mit den Wörtern "from hand to hand in solidarity" versah, bevor er es mir schweigend überreichte. Das Versprechen eines Wiedersehens, das nichts von der Unverbindlichkeit einer leeren Floskel zu haben schien, weil für Berger auch die gesprochene Sprache einen zitternden und verletzlichen Körper hatte, dem er nicht einmal im Smalltalk seinen Respekt verweigert hätte.
Es war jedoch der wache Blick seiner blauen Augen, der einen beim Abschied daran erinnerte, dass es sich bei dem eigentlichen Geschenk, das Berger einem in jedem einzelnen Moment der Begegnung machte, um seine charismatische Präsenz und seine Aufmerksamkeit handelte. Um das unmittelbare Erleben jener vollkommenen, ebenso körperlichen wie geistigen Bewusstheit, mit der er auch im Schreiben die Welt erfasste und in "Ein Geschenk für Rosa" nun ein letztes Mal seinen Lesern entgegentritt.
Das Hervortreten der WeltDer kleine, vom Sohn einer verstorbenen Freundin erhaltene Karton mit den Streichholzschachteln, den Berger in einem der schönsten Texte dieses Buches der von ihm verehrten Rosa Luxemburg vermacht. Die abermalige Lektüre von Camus' Romanfragment "Der erste Mensch", die ihn zum Nachdenken über die Ursprünge seines eigenen Schreibens anregt und - wie verschiedene andere Texte der Sammlung - an seine Anfänge und zu den Helden seiner Kindheit und Jugend zurückführt; der 1926 in London geborene Berger betrachtet sie von der Warte des hohen Alters mit unverminderter Neugier, ohne dabei die Gegenwart aus den Augen zu verlieren. In "Silberstücke", einer luziden Reflexion über den Besuch im Atelier eines befreundeten Malers, unternimmt er die buchstäblich letzten Schritte zu der "kleinen Theorie der Sichtbarkeit", die Berger nicht nur in Essays und im aus der berühmten Fernsehserie "Ways of Seeing" hervorgegangenen Buch "Sehen: Das Bild der Welt in der Bilderwelt" entwickelt hat, sondern zeitlebens auch in seinen Romanen.
In den zwölf weitgehend in den Jahren 2014 und 2015 entstandenen, teilweise mit eigenen Zeichnungen oder anderen Abbildungen versehenen Texten erweist sich John Berger ein letztes Mal als ein Meister der Wahrnehmung, der seinen Sinnesempfindungen vollkommen vertraut. Das körperliche Erleben der Welt und der Vorgang des nachdenklichen Schreibens werden auf derart unmittelbare und spontane Weise einbezogen, dass man beim Lesen seine Hand zu hören vermeint, die behutsam über die neben ihm liegende Kartonschachtel mit den Streichholzschachteln streift, oder das Blättern in Camus' Roman. Vielleicht auch das leise Kratzen des Füllfederhalters auf dem Papier, das dem im Januar 2017 verstorbenen Berger in der Imagination des Lesers auf ganz ähnliche Weise Gestalt verleiht wie den Toten, die er in seinem autobiografischen Buch "Hier, wo wir uns begegnen" so leibhaftig heraufbeschwört.
"All die Jahre über hat mich eine Ahnung zum Schreiben angetrieben, dass etwas erzählt werden muss, das, falls ich es nicht versuche, unerzählt bleiben wird", so Berger in dem "Selbstporträt" betitelten Text. Wie die anderen Stücke des neuen Buches entzieht er sich einer genauen Gattungszuordnung und ist als "Text" im Grunde unzulänglich und allzu nüchtern beschrieben, weil aus ihm, wie oft bei Berger, die Hingabe und Intimität eines an einen Freund gerichteten Briefes spricht. "Folglich", schreibt er, "sehe ich mich nicht so sehr als professioneller Schriftsteller, sondern eher als Mittler, als Lückenbüsser." Als "Postbote", wie er einmal sagte, der Geschichten und andere Dinge wie Briefe oder Pakete an die Empfänger weiterreicht.
Die Etiketten der Streichholzschachteln, die er in "Ein Geschenk für Rosa" der 1919 ermordeten Rosa Luxemburg überlässt, zieren die kolorierten Drucke von Singvögeln. In jeder der Schachteln sechzig Streichhölzer. "Genauso viele, wie die Minute Sekunden und die Stunde Minuten hat", so Berger, für den es im Alter von beinahe neunzig Jahren keine Zeit mehr zu verschwenden galt. "Jedes eine potenzielle Flamme."
Im Zeichen der SolidaritätDenn natürlich entzündet John Berger auch in "Ein Geschenk für Rosa" die Flamme der Solidarität, die sein gesamtes Werk erhellt und in manchem Leser der unvergesslichen, von der Verdrängung alter bäuerlicher Lebensformen erzählenden Romantrilogie "Von ihrer Hände Arbeit" wie ein ewiges Licht weiterbrennt. Bergers Schreiben richtet sich mit grosser Dringlichkeit gegen die Abwertung der mit zunehmender Wandlungsbeschleunigung ins Leere laufenden Welt. Es gründet auf einer tiefen, nicht zuletzt in den Traditionen der Kunst verankerten Menschlichkeit, die er auch in diesem letzten, in England nur wenige Monate vor seinem Tod erschienenen Buch von den Gefahren der Globalisierung, dem Sprachverlust der Politik und den Ablenkungsmanövern der Massenmedien bedroht sieht und beharrlich verteidigt.
Man kann John Bergers unnachgiebige Kritik an der "totalitären globalen Weltordnung des spekulierenden Finanzkapitalismus" und am "neoliberalen Dogma" als Tiraden eines unverbesserlichen Utopisten abtun. Man muss ihm nicht in die Augen geschaut haben, um zu erkennen, wie ernst es ihm damit war. Die Lektüre von "Ein Geschenk für Rosa" macht den Leser zu seinem Komplizen.