Mit ihren Büchern über Mutterschaft und Scheidung hat Rachel Cusk das britische Publikum gegen sich aufgebracht. Vielleicht war es gerade dieser Schock, der sie zu einer der subtilsten und spannendsten literarischen Stimmen im Land werden liess.
Rachel Cusk, nach "Outline" und "Transit" erscheint mit "Kudos" bald Ihr letzter Roman über die Schriftstellerin Faye, die ihr Leben nach einer Scheidung neu aufzubauen versucht und als Ich-Erzählerin nur in Gesprächen mit anderen Gestalt annimmt. War Ihnen beim Schreiben von "Outline" klar, dass Sie an einer Trilogie arbeiteten?Es war mir bewusst, als ich mich dem Ende des Romans näherte und erkannte, dass es sich um ein Ende handelte, das mehr Fragen stellte als beantwortete. Der Grund, weshalb die Romane so kurz sind, hat mit dem zu tun, was Sie andeuten: Den Raum, der für gewöhnlich von einem Erzähler eingenommen wird, gibt es nicht. Dieser Raum nimmt viel in sich auf und ist daher ziemlich umfangreich. Zwei von drei Sätzen, die ich zu schreiben im Begriff war, bezogen sich auf diesen Raum, so dass ich sie entfernte.
Ist der Rückzug Ihrer Ich-Erzählerin auch eine Reaktion auf die Selbstentblössung, die Sie in "Aftermath" vorgenommen haben, dem zwei Jahre vor "Outline" erschienenen Memoir über das Scheitern Ihrer Ehe, für das Sie in Grossbritannien sehr kritisiert wurden?Es ist eine unterschiedliche Herangehensweise, und ich nehme an, "Aftermath" hat nicht richtig funktioniert, es konnte missverstanden werden. Dies wollte ich bei "Outline" von vornherein vermeiden. Meine Verwendung von persönlichem Material ähnelt der Art und Weise, wie ein Maurer Steine verwendet, ist also bedeutungslos. Jeder verfügt über persönliches Material, und mein Material ist nicht anders als das aller anderen. Was bei "Aftermath" nicht funktionierte, hatte mit der Frage nach der anderen Seite des Spiegels zu tun.
Das tönt noch etwas enigmatisch.Ich meine damit die Aufforderung an den Leser, den eigenen Inhalt oder die eigene Geschichte beizusteuern. Mir wurde klar, wie sehr Identität den Künstler beeinträchtigt. Egal, wie schön man schreibt und wie sehr man die Sprache kontrolliert; egal, wie gut es einem gelingt, seine Gedanken auszudrücken: Am Ende hast du es mit Gebilden zu tun, die unauslöschlich mit deinem Blick und mit deiner Persona markiert sind.
Rachel Cusk, 1967 in Kanada geboren, lebt schon seit ihrer Kindheit in England. Als Schriftstellerin versuchte sie von Anfang an, spezifisch weibliche Erfahrungen einzukreisen; diese Auseinandersetzung führte sie auf Kollisionskurs, als sie in "A Life's Work" und "Aftermath" eine ungeschminkte, persönliche Darstellung von Mutterschaft und Ehescheidung ablieferte. Die heftige Reaktion auf diese Werke lenkte die Autorin auf eine neue und vielversprechende Bahn: Die Hauptfigur ihrer im Interview diskutierten Trilogie wird auf subtile Weise vornehmlich der Kontur nach erfasst. "Outline" und "Transit" liegen bereits auf Deutsch vor, "Kudos" soll im Juli bei Suhrkamp erscheinen.
"Kudos" ist fast ausschliesslich in den Stimmen von Leuten geschrieben, die Englisch als Zweitsprache sprechen, und ich habe zunehmend den Eindruck, dass ich niemals wieder in muttersprachlichem, sondern nur noch in internationalem Englisch sprechen werde. Wenn man in mein Alter kommt, wird man seiner selbst überdrüssig, weil man schon so lange eine Frau der englischen Mittelschicht gewesen ist oder ein deutscher Mann oder was auch immer.
Dieses Desinteresse, über die Befindlichkeiten der eigenen Klasse zu schreiben, teilen Sie mit anderen Autoren.Eine Menge Schriftsteller schreiben nicht über ihre eigene Realität. Aber was sie stattdessen tun, ist noch viel schlimmer: Sie schreiben über die Realitäten anderer, greifen auf die Vergangenheit zurück oder auf ein aussergewöhnliches Ereignis, das sie selbst nicht erlebten. Diese Suche nach dem Aussergewöhnlichen ist für mich ein absolut tödlicher Weg, den der Roman als Gattung beschritten hat. Ich wollte beim Schreiben von "Outline" und den anderen Büchern der Trilogie also weniger mir selbst entkommen als vielmehr etwas in mir finden, das in mir und anderen Leuten gleich ist.
Sehen Sie selbst die Trilogie als die "weibliche Odyssee im 21. Jahrhundert", als die sie von anderen beschrieben wird?Der Zielpunkt dieser drei Bücher musste eine Vision weiblicher Identität und weiblichen Leids sein. Das ist es, was die ganze Erkundung überhaupt erst rechtfertigte. Natürlich spielt bereits "Outline" auf die "Odyssee" an, letztlich gibt es in Fayes Fall jedoch einen sehr weiblichen Grund für eine Reise. Aber vielleicht handelt es sich in Wahrheit um jedermanns Grund.
"Der britische Mann empfindet meine Identität als extrem provozierend und lästig."
Nämlich?In Zeiten der Postidentität ist es eine grundlegende Erfahrung, dass das Verständnis der Realität, das dir mitgegeben wurde, etwa um den vierzigsten Geburtstag wie ein Flickenteppich auszusehen beginnt und du denkst: "Warum überhaupt tue ich all dies?" In dieser Hinsicht ist es ein universeller Gedanke, dass Dinge in die Brüche gehen. Scheidung, Ruin, Katastrophe - was auch immer. Dennoch muss ich sagen, dass viel von dem, was Faye widerfährt, geschieht, weil sie eine Frau ist. Ihr Leid ist weiblich.
Insbesondere in Grossbritannien werden Sie für diese kompromisslose Darstellung "weiblichen Leids" nicht von jedermann geschätzt. Ist diese Ablehnung kulturell bedingt?Die Briten verstehen und mögen nicht, worum es mir geht. Dies gilt für Männer und Frauen gleichermassen. Der britische Mann empfindet meine Identität als extrem provozierend und lästig. Wie die Dinge liegen, scheine ich mich andauernd gegen die Strömung zu bewegen. Und jetzt gebe ich auf. Jetzt ist es mir egal. Ich interessiere mich sehr viel mehr für Amerika und Europa. "Kudos" spielt ausschliesslich in Europa. England interessiert mich nicht mehr, ich will hier nicht mehr leben, ich will nicht mehr englisch sein. Unser Land hat sich selbst in die lächerlichste Situation gebracht. In gewisser Weise denke ich: "Die Engländer haben mich verstossen, jetzt verstosse ich sie."
"Auf Barack Obama kann nicht jemand folgen, der noch netter ist. So funktioniert Fortschritt leider nicht."
Wenn mit Donald Trump zum vielleicht letzten Mal eine bestimmte Art von männlichem Ego triumphiert und die #MeToo-Bewegung zudem den übergriffigen Chauvinismus demontiert: Welche Bedeutung kommt dann Ihrem Werk zu?In gewisser Weise ist Politik ein wirklich schrecklicher Prozess, Sehnsüchte zu manifestieren. Dass man bekommt, was man haben zu wollen glaubt. Dies ist meines Erachtens in den von Ihnen beschriebenen Dingen derzeit sehr sichtbar. Sie sind Ausdruck der am wenigsten ausgesprochenen Gefühle und Begehrlichkeiten, mit denen die Leute dagesessen und zu leben gelernt haben. Bestimmte Männer mögen sich danach sehnen, grob zu sein, und Frauen sehnen sich danach, wegen der Dinge, die ihnen widerfahren sind, sehr aufgebracht zu sein. Was immer es auch ist, diese seit langem schwelenden Verstimmungen sind nun Thema.
Weshalb sollten Männer sich danach sehnen, grob zu sein?Sie sehnen sich danach, weil man ihnen seit Ewigkeiten vorschreibt, höflich zu sein. Dies ist etwas, was mir definitiv am Trump-Phänomen auffällt. Aber es geht bei diesen Dingen auch um Erneuerung, und man kann keine Erneuerung ohne Hässlichkeiten haben. Auf Barack Obama kann nicht jemand folgen, der noch netter ist. So funktioniert Fortschritt leider nicht.
Die Domestizierung des Mannes wird in einer Szene von "Kudos" thematisiert, in der ein Sitznachbar Faye im Flugzeug erzählt, wie er voller Zorn ein Grab für seinen Hund schaufelte und dabei erlebte, "was es bedeutete, ein Mann zu sein".Was mich an dieser speziellen Stelle interessiert, ist das Gefühl des Mannes, sein Leben in einer nahezu pornografischen Welt geführt zu haben. Unsere Welt ist besessen von Pornografie, und damit meine ich nicht speziell Dinge, die mit Sex zu tun haben, sondern eine Welt, in der sich Vorstellungen manifestieren, denen jegliche Anbindung an die Realität fehlt. Als er das Loch für seinen Hund gräbt, erfährt er dies als gelebte Realität.
Der Mann erwähnt, dass er sich beim Schaufeln des Grabes fragte, ob er diese Mühsal vielleicht nur auf sich nehme, um später davon erzählen zu können. Was sagt dieser Gedanke über die Macht aus, die das Erzählen von Geschichten über uns auszuüben scheint?Genau davon muss sich der Mann durch das blosse Erleben der Realität befreien. Dieser Moment ist Teil der Frage nach Veränderung und danach, wie sie sich ereignet. Für den Mann hat Veränderung bereits stattgefunden, als er sich eingesteht, dass er über den Tod des Hundes froh ist. In diesem Moment endet für ihn die ganze Falschheit, und er kann endlich zugeben, was er tatsächlich fühlt. Ich glaube, dies zu tun, ist ein unauslöschlicher menschlicher Impuls.
Aber was, wenn dieser Impuls ausbleibt?Diejenigen, die ihr ganzes Leben lang unaufrichtig bleiben, sind am Ende eine Karikatur - so wie Donald Trump. Jemand, dessen Konstruktion des Egos durch keinerlei Erfahrung niedergerissen werden kann. Am Ende wendet man sich von diesen Leuten allerdings ab. Die Geschichte ist von ihnen durchsät. Sie haben in gewisser Weise das Leben aller verändert, letzten Endes werden sie jedoch nur unsere Sehnsucht repräsentieren, zur Wahrheit vorzudringen, weil es das ist, was die Menschen eigentlich wollen.
"Nur um dies einmal auf angemessene Weise über mich zu sagen: Meine Erziehung hatte mich absolut unfähig gemacht, für mich selbst zu sorgen."
Bis es so weit ist, scheinen diese Leute zu versuchen, die Wahrheit zu vereinnahmen und der Konstruktion ihrer eigenen Geschichte zu unterwerfen.Aber ist es nicht genau das, was unsere Mutter oder unser Vater tut? Dafür braucht man nicht Donald Trump zu betrachten; in jeder Familie gibt es jemanden, der immer seinen Willen bekommt, ohne dass ihm deshalb je etwas Schreckliches passiert.
Zwischen den beiden ersten Bänden der Trilogie haben Sie eine Bearbeitung von "Medea" veröffentlicht. Was bedeutet Ihnen die klassische Literatur?Meine Gedanken konzentrieren sich auf diese frühe Literatur, insbesondere auf Sophoklesʼ Werk, wie auf kaum etwas anderes. In meinen Zwanzigern und frühen Dreissigern war ausserdem D. H. Lawrence ein gewaltiger befreiender Einfluss. Ich musste mich dringend aus dem Konservatismus befreien, der meiner Erziehung anhaftete. Nur um dies einmal auf angemessene Weise über mich zu sagen: Meine Erziehung hatte mich absolut unfähig gemacht, für mich selbst zu sorgen.
Was meinen Sie damit?Ich konnte keinen Weg in mein eigenes Leben finden. Damals war die Literatur noch für viele Leute ein Forum, in dem man mit seiner Unfähigkeit, seinen Verrücktheiten, Verletzungen und mit seiner Traurigkeit Zuflucht suchen konnte. Die Literatur macht dich nicht zu einem anderen Menschen, aber sie bietet dir etwas, was du durch Erfahrungen nicht erreichen kannst. Was ich am Konzept der Männlichkeit am meisten verabscheue, hat mit meiner Überzeugung zu tun, dass ich bestimmte Dinge hätte erleben können, statt lediglich über sie nachzudenken, wenn ich ein Mann wäre.
"Es ist einer der interessanten Aspekte von #MeToo, dass Leute sich für Dinge rechtfertigen müssen, die sie in sehr andersgearteten Lebensphasen begangen haben."
Besteht dieses Gefälle tatsächlich?Es verblüfft mich selbst, dass ich dies als weisse, gebildete Frau im 21. Jahrhundert wirklich glaube. Auch in der #MeToo-Sache klingt dies für mich an. Weshalb ist das so? Weshalb kann man sich nicht selbst verwirklichen und sich als Frau ausdrücken?
D. H. Lawrence haben Sie einmal mit dem Gedanken zitiert, dass manche Menschen "länger gehen und in ihrem Leben eine sehr viel weitere Reise unternehmen müssen, um an einen Ort der Freiheit und Selbsterfüllung zu gelangen". Gibt es überhaupt ein ultimatives Selbst?Nein. Und es ist einer der interessanten Aspekte der #MeToo-Sache, dass Leute sich für Dinge rechtfertigen müssen, die sie in sehr andersgearteten Lebensphasen begangen haben. Wenn du einem anderen etwas zuleide getan hast, musst du dafür geradestehen, das ist klar. Aber es lässt einen auch denken: "Wer auch immer ich vor zwanzig Jahren war, heute fühle ich mich dieser Person nicht mehr sehr nahe. Sie ist wie ein Ort, den ich verlassen habe, und was immer ich damals tat oder sagte, hat nichts mehr mit mir zu tun." Es sei denn, wie gesagt, dass man das Gesetz gebrochen hat. Das Gesetz ist nach wie vor eine gute Richtschnur. Aber man will nicht für diese alten Versionen seiner selbst verantwortlich gemacht werden.