Heute erscheint Ian McEwans neuer Roman in deutscher Übersetzung. Der Autor spricht über seinen ungewöhnlichen Protagonisten, über Europas Zwiespalt und Englands Befindlichkeit nach dem Brexit.
Auf den ersten Blick handelt Ihr neuer Roman von Liebe, Habgier und Mord und wirkt so konventionell wie ein beliebiger Krimi, so vertraut wie "Hamlet" und "Macbeth" - Dramen, auf die sich "Nussschale" bezieht. Was den Roman aussergewöhnlich macht, ist der Erzähler. Weshalb haben Sie aus der Perspektive eines Fötus erzählt?
Weshalb tun wir überhaupt irgendetwas? Man hat eine Idee, die hervorsticht, und fragt nicht einmal, weshalb sie einen besonders fasziniert. Man erkennt lediglich, dass sie mit einem bestimmten Potenzial schwanger geht. "So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau": Den ersten Satz des Romans habe ich unverändert aus einem meiner Notizbücher übernommen. Ich war von den Herausforderungen angezogen, die er an mich stellte. Mein Erzähler hat keinen Namen, keine Religion. Er ist reine Existenz. Er hört, was ausserhalb des Mutterleibs geschieht, ist Zeuge der intimsten Momente im Leben seiner Mutter und reflektiert all dies in einem Monolog, der nicht nur von Shakespeares Sprache durchdrungen ist, sondern vom ganzen Kanon englischer Lyrik.
Inwiefern ist er trotz seiner Isolation "ein Kind zur Zeit", um den Titel Ihres 1987 erschienenen Romans zu zitieren?
Als Fötus gleicht er eher dem Geist von Hamlets Vater, der noch nicht weiss, ob er in den Himmel oder in die Hölle kommen wird. Aber er glaubt zweifellos an ein Leben nach der Geburt.
Er beansprucht ein Leben mit allen "Vorzügen der Moderne". Welches waren die Geburtsrechte Ihrer Ende der vierziger Jahre geborenen Generation?
Im England der Nachkriegszeit wurde ich in eine Zeit der Entbehrungen hineingeboren; dennoch kann sich meine Generation glücklich schätzen, Nutzniesser eines langen Zeitraums des Friedens, des zunehmenden Wohlstands und der sich ausweitenden Bildungsmöglichkeiten gewesen zu sein. Aber meine Generation hat ihr Glück nie als "Geburtsrecht" empfunden. Man kann sich nur glücklich schätzen, wenn man, wie der Erzähler meines Romans, der Aussicht auf eine Geburt im friedlichen Westeuropa entgegensieht und nicht in einem vom Krieg erschütterten Syrien oder im von Hungersnot betroffenen Somalia.
Inzwischen scheinen sich die Verhältnisse allerdings auch in Europa zu wandeln.
Kürzlich las ich eine Statistik, die belegt, dass Leute, die heute in ihre Dreissiger eintreten, ein deutlich geringeres Einkommen haben als wir zu unserer Zeit. Dabei waren wir stets der Überzeugung gewesen, dass unsere Kinder wohlhabender sein würden als wir und über einen grösseren Spielraum an Möglichkeiten verfügen könnten.
Können Sie sich die Geschichte des 21. Jahrhunderts vorstellen, deren Zeitzeuge Ihr Erzähler werden wird?
Er kommt 2015 zur Welt und wünscht sich, als 85-Jähriger den letzten Tag des 21. Jahrhunderts zu erleben. Wir können nur spekulieren, ob wir ohne einen nuklearen Schlagabtausch durch dieses Jahrhundert kommen. Es liegt in der Natur intellektuellen Denkens, eher pessimistisch zu sein. Wir können aber eine ganze Reihe gefährlicher Szenarien betrachten - nicht nur die Folgen des Klimawandels, den ich an erste Stelle setze, sondern den allmählichen Kollaps einer regelgebundenen Weltordnung.
"Man hat eine Idee und fragt nicht einmal, weshalb sie einen besonders fasziniert."
Wo machen Sie solche Tendenzen aus?
Gegenwärtig etwa in Russlands Teilnahme an der Bombardierung Aleppos. Wir haben es hier mit einem Land zu tun, welches danach strebt, eine Weltmacht zu werden, statt Regeln zu verteidigen, die den Frieden sichern; einem Regime, das Bomben einsetzt, die den Menschen so viel Schaden wie nur möglich zufügen. Wir müssen uns also über den selbstgefälligen Hohn Russlands Sorgen machen. Hinzu kommen der internationale Terrorismus, die Tragödie der Migration.
Von der politischen Gegenwart erfährt Ihr Erzähler allein durchs Radio. Verkörpert er den von Luhmann beschriebenen Typus des modernen Menschen, der sein Wissen über die Gesellschaft und die Welt einzig den Massenmedien verdankt?
Natürlich basiert wenig von dem, was wir über die Welt wissen, auf eigener Erfahrung, und wir müssen uns vorsehen, nicht im Sumpf eines endlosen relativistischen Denkens zu versinken. Wie mein Fötus betont, könnte man aus dem Spektrum der Informationen, denen man ausgesetzt ist, jedes denkbare Weltbild formen, indem man nur das zur Kenntnis nimmt, was man hören will. Ähnlich scheint es übrigens auch einigen Lesern von "Nussschale" zu ergehen: Die rein literarischen Leser erkennen zwar die Anspielungen auf "Hamlet" und die englische Lyrik, übersehen aber meist die Bezüge zur kognitiven Psychologie und zu den aktuellen Theorien zur Evolution des Bewusstseins, die in den Monolog meines Erzählers eingeflossen sind.
Ihr Erzähler scheint mir kaum weniger selbstsüchtig als die Mörder seines Vaters, wenn er sich schon vor der Geburt wegen seines sozialen Status sorgt. Ist Habgier Bestandteil der menschlichen DNA?
Mein Erzähler hat Angst, verlassen zu werden. Angst, dass seine Mutter ihn nicht liebt und sein Vater, dessen Tod er gern verhindern würde, ihn irgendwie vergessen haben könnte. Er ist ein existenzialistischer Held. Sein Plan ist es, seine Mutter nach der Geburt so sehnsuchtsvoll anzublicken, dass er ein Band der Liebe schafft und sie nicht mehr in der Lage ist, ihn zu verstossen.
"Während Radio und Fernseher plärren, gehen die Leute weiter ihren Beschäftigungen nach" - so Ihr Erzähler. Warum diese Passivität angesichts des unerträglichen Leids, von dem wir täglich hören?
Das Private ist das, was für jeden von uns die grösste Realität hat. Man mag von den schrecklichen Tragödien hören, die sich auf der Welt ereignen, aber dennoch werden unsere eigenen unmittelbaren Umstände immer von grösserer Bedeutung bleiben, selbst wenn wir anerkennen, dass jedes Leben denselben Wert hat.
Worin liegt das Dilemma eines Europa, das angesichts der Flüchtlingskrise "zwischen Mitleid und Furcht" schwankt, wie Ihr Erzähler sinniert? Eines Europa, das helfen, aber nicht teilen oder verlieren will, was es hat?
Wir alle erinnern uns an die Foto eines türkischen Polizisten, der ein ertrunkenes Flüchtlingskind in den Armen hält. Diese Foto traf jeden, der es sah, mitten ins Herz und gab uns das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, um diesen Menschen in ihrer tragischen Situation zu helfen. Aber ein paar Wochen später hatte sich die Wirkung der Foto bereits abgenutzt, und andere Ereignisse, etwa die sexuellen Übergriffe der Silvesternacht in Köln, führten dazu, dass dieselben Herzen sich verhärteten. Ich habe versucht, im Roman diese Pole zu beschreiben, zwischen denen Europa pendelt, diesen Jo-Jo-Effekt, der den Umgang mit der Flüchtlingskrise bestimmt, die Europa überrascht zu haben scheint.
War diese Entwicklung denn absehbar?
Ich erinnere mich, schon vor zwanzig Jahren über die "Festung Europa" gelesen zu haben. Über das, was geschehen wird, wenn sich in Nordafrika eine Flüchtlingswelle formiert und eine halbe Milliarde Menschen, die sich in Europa ein besseres Leben erhoffen, sich auf den Weg machen werden.
Welches sind die Urängste, die gegenwärtig in Europa aufleben?
Ich fürchte die Zunahme eines fremdenfeindlichen Nationalismus und den Zusammenbruch der Europäischen Union. Die Auflösung dessen, was meines Erachtens trotz allen Schwächen, demokratischen Defiziten und der labyrinthischen Bürokratie eine der heroischsten und brillantesten Errungenschaften unserer Geschichte ist. Angesichts der europäischen Geschichte, nicht allein des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern einer Geschichte, die seit dem Dreissigjährigen Krieg immer neue Grausamkeiten gesehen hat, ist uns etwas Aussergewöhnliches gelungen.
Können Sie sich erklären, warum diese Errungenschaft jetzt aufs Spiel gesetzt wird?
Vielleicht haben wir uns zu sehr daran gewöhnt, begannen uns damit zu langweilen und haben es schliesslich zum Sündenbock für alles gemacht, was schiefgegangen ist. Und jetzt beobachten wir kleine dunkle Winkel des Abscheulichen, das uns neu und zugleich sehr vertraut erscheint.
Erleben wir die schon vom Erzähler Ihres 1992 erschienenen Romans "Schwarze Hunde" prophezeite abermalige Heimsuchung Europas durch das Böse?
Ich habe tatsächlich Angst, dass das der Fall sein könnte. Dass die "schwarzen Hunde" zum Beispiel in Gestalt einer rechtsextremen Partei wie der Jobbik in Ungarn zurückkehren könnten. Selbst die harmlose Scottish National Party, die ich wirklich keinen einzigen Augenblick als Partei der Neonazis wahrnehme, passt ins Muster jener kleinen, eigennützigen Splittergruppen und der überkommenen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Vorstellungen von nationaler Identität, die diese Dämonen, die irgendwo in Europa lauern, abermals heraufbeschwören könnten. Hier in England hatten wir es gerade mit Antisemitismus-Vorwürfen innerhalb der Labour Party zu tun. Es ist wie mit Bakterien, die lediglich die richtigen Nährstoffe benötigen, um sich zu vermehren.
"Wir können nicht mehr tun, als am Küchentisch sitzen und tratschen", schrieben Sie nach dem Brexit-Referendum: "Der Butler hat eine Theorie und ebenso das zweite Zimmermädchen."
Nach dem Referendum hat die britische Politik die Bevölkerung behandelt, als wären wir die Domestiken in "Downton Abbey."
"Ich habe manchmal das Gefühl, dass der Brexit doch noch abzuwenden wäre."
Wovon handelt die aktuelle Folge Ihrer nationalen Soap, nun, da die Konsequenzen des Entscheids spürbar werden und das britische Pfund sich auf einem Tiefstand befindet?
Ich habe manchmal nach wie vor das Gefühl, dass der Brexit doch noch abzuwenden wäre. Die britische Forderung, Zugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten, ist mit der Abschottung gegen den freien Personenverkehr nicht zu vereinbaren.
Auf der politischen Bühne dominiert allerdings einstweilen der Gedanke an einen "harten" Brexit.
Das trifft zu. Die momentane Stimmung scheint dahin zu gehen, dass wir auf den Zugang zum Binnenmarkt verzichten, um die Zuwanderung einzugrenzen. In diesem Fall würden wir sehr schwierige ökonomische Verhältnisse erleben, aus denen wir uns vielleicht in zwanzig Jahren wieder herausgearbeitet haben. Es besteht die Gefahr, dass die Körperschaftssteuer gesenkt und Grossbritannien ein neues Steuerparadies wird. Unmittelbar nach dem Referendum hatte ich das Gefühl, als Bürger völlig machtlos zu sein. Wie bereits angetönt - wir fühlten uns wie Dienstboten, die lediglich den Schritten der Regierung über ihren Köpfen lauschen können.
Ein Musterbeispiel für die "Kunst schlechter Regierung", wie es in "Ein Kind zur Zeit" heisst.
Inzwischen ist Grossbritannien ein Einparteistaat, da sich die Opposition in Aufruhr und in einem Zustand der Zerrissenheit befindet. Teil des Problems ist unsere Parteipresse, die in ihren jeweiligen Lagern kämpft und der britischen Bevölkerung in den vergangenen fünfunddreissig Jahren eingetrichtert hat, die Europäische Union sei ein verrücktes Bündnis, in dem Bürokraten in Brüssel diktierten, dass Bananen gerade und Tomaten viereckig zu sein hätten. Sollte die EU zerbrechen, werden wir in dreissig Jahren auf ein goldenes Zeitalter zurückblicken und bereuen, dass ein Gewöhnungsprozess und monströse Torheit dazu führten, dass wir versäumten, sie zu verteidigen.
Ist Grossbritannien durch den Brexit gezwungen, ein anderes nationales Narrativ zu erfinden als jenes, das in Serien wie "Downton Abbey" immer wieder aufs Neue verbreitet wird?
Ich glaube, dass es sich beim Brexit um die Fortsetzung einer alten Story handelt. Der Zweite Weltkrieg war für Grossbritannien ein Augenblick des Triumphs und der Tugendhaftigkeit. Ganz Europa war besetzt oder lag in Schande, aber Grossbritannien war ohne Schande, war gut und edel. Anders als die Niederlande und Belgien waren wir nicht besetzt, anders als das französische Vichy-Regime hatten wir nicht mit Nazideutschland kollaboriert. Anders als Deutschland hatten wir keinen Holocaust verschuldet. Grossbritannien war unschuldig und hat sich die Unschuld seitdem bewahrt. Dies ist ein sehr starkes nationales Narrativ und erklärt, weshalb Grossbritannien nie wirklich Teil des Europäischen Projekts war, das aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs entstanden ist.
Aber das Land hat sich 1973 trotzdem der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft angeschlossen.
In den Siebzigern war die britische Wirtschaft in einer so schlechten Verfassung, dass es schien, als sei Europa die Zukunft, aber nun besinnt sich das Land auf die Geschichte, die es sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt. Ich würde eine direkte Linie zwischen unserem Triumph von 1945 und dem ziehen, was wir jetzt erleben. Wir waren damals allein und werden das auch in Zukunft sein. Britannien hat seit 1066 keine Invasion erlebt, also wähnt es sich im Glauben, auch heute in Europa eine Ausnahme sein zu können. Das ist die alte Fiktion, die nun ihre Fortsetzung erlebt.
Dieser Gedanke der Fortschreibung einer überlieferten Story bringt mich zurück zu "Nussschale". Dort reitet Ihr Erzähler in einem Traum ins historische London und begegnet dabei einem Mann, der ihn um die Meinung zu einer Geschichte bittet, die er verfasst hat. Um wen handelt es sich?
Der Roman lässt die Frage offen, aber ich nehme an, es handelt sich um Christopher Marlowe - und dass wir es bei meinem Fötus tatsächlich mit Shakespeare zu tun haben, der darauf wartet, wiedergeboren zu werden. Das würde auch erklären, weshalb er so allwissend ist und bisweilen in jambischen Pentametern spricht. Das Letzte, was ich tun würde, ist, mich dem Glauben an eine Wiedergeburt zu verschreiben, aber auf eine spielerische Weise wollte ich zum Ausdruck bringen, dass es sich bei meinem Erzähler um niemand Geringeren als William Shakespeare handelt, der einem neuen Leben entgegensieht.