Ein Gespräch mit dem amerikanischen Schriftsteller und Nobelpreiskandidaten Don DeLillo über seinen neuen Roman „Null K", das Totalitäre des ewigen Lebens, die Stille der Wüste und die Leere im Kopf von Donald Trump
Im Homeoffice seiner New Yorker Agentin sitzt Don DeLillo an einem Tisch. Mit einem Glas Wasser und der amerikanischen Ausgabe von „NullK", seinem neuen Roman, der jetzt auf Deutsch erscheint (aus dem Englischen von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch. 288 S., 20 €, ab 13. Oktober im Buchhandel). Daneben liegt seine beigefarbene Baseballmütze. Er trägt ein kariertes Hemd, irgendwas Unauffälliges, das zu seiner stillen, in sich gekehrten Erscheinung passt. Draußen der Verkehrslärm der 79. Straße, das dumpfe Tosen von Manhattan, das Dröhnen der Welt, das leise Summen der sich anbahnenden Apokalypse, das man in DeLillos Gegenwart stets zu hören meint. Im November wird Amerikas großer Schriftsteller achtzig Jahre alt.
Literarische Welt:
Don DeLillo, Ihr Roman stellt viele Fragen, Sie haben die Frage zum Modus Ihres Erzählens gemacht. „Ist der Tod nicht ein Segen? Bestimmt er nicht von Minute zu Minute, von Jahr zu Jahr den Wert unseres Lebens?" Oder: „Wann hört man auf, zu sein, wer man ist?" Welche dieser Fragen beantwortet Ihr Roman?
Don DeLillo:
Da muss ich Sie enttäuschen, weil ich nicht in derartigen Begriffen denke. Ich kümmere mich um eine Erzählung, im Wesentlichen sogar nur um einzelne Sätze und Absätze, denn ich arbeite ohne irgendwelche Entwürfe. Ich verlasse mich gänzlich auf meine Intuition und reagiere auf die jeweiligen Szenen und Figuren, während sie sich entwickeln. Ich versuche, in Bewegung zu bleiben. Ich beantworte dabei weder Fragen, noch denke ich über spezifische Themen nach. Ich arbeite mich von Wort zu Wort, Satz zu Absatz voran, und die Erzählung entwickelt sich auf diese Weise von selbst. Allerdings mache ich mir sehr viele Notizen, die spontane Gedanken, einzelne Wörter oder Halbsätze beinhalten. Manchmal weiß ich am nächsten Tag schon nicht mehr, worauf zum Teufel sich die Notizen bezogen haben.
Gibt es beim Schreiben dennoch einen Moment, in dem Sie die Entwicklung, die der Roman nimmt, erkennen?
Bei „Null K" habe ich schon relativ früh begriffen, dass es nicht nur um die Gegensätze von ewigem Leben und Tod geht, sondern auch um die Art und Weise, wie die Verantwortlichen in dem als die „Konvergenz" bezeichneten Projekt vorgehen. Die letztendliche Frage lautet: Ist es legal, den Körper eines Menschen einzufrieren und irgendwann in der Zukunft wieder zum Leben zu erwecken, oder handelt es sich dabei um einen Massenmord unter dem Vorwand, die Möglichkeit der Verlängerung des Lebens zu erforschen?
„Jeder will das Ende der Welt in der Hand haben." Der erste Satz könnte auch aus ihrem letzten Roman „Der Omega-Punkt" stammen, dessen Hauptfigur sich ebenfalls ihren Träumen vom Aussterben hingibt. Was fasziniert Sie am Ende der Welt?
Geografisch ist die „Konvergenz" weitgehend unterirdisch angelegt, aus Furcht vor einer planetaren Gefahr. Vor Objekten aus dem Weltall, vor einem allumfassenden Klimawandel. Deshalb sind in den langen Gängen der Gebäude Bildschirme installiert, auf denen Jeff, der Icherzähler, unter anderem Bilder von Naturkatastrophen wie Überflutungen und Waldbränden sieht. Vielleicht sind diese Bilder etwas extremer als die, die wir heute bereits kennen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der „Konvergenz" auch etwas Surreales anhaftet. Mit Artis, der Stiefmutter des Erzählers, könnte man sagen, dass es sich um ein Kunstwerk, um „Land-Art" handelt.
„Ab wann wird utilitär totalitär?" Eine Frage Ihres Icherzählers, der das von seinem Vater mitfinanzierte Unternehmen der kryonischen Konservierung äußerst skeptisch betrachtet und die mich an einen Essay erinnert, den Sie Ende der Achtzigerjahre über die „Milleniumsangst" und deren Verbindung zum totalitären Kern des Faschismus geschrieben haben. War Ihnen der totalitäre Aspekt beim Schreiben von „Null K" bewusst?
Durchaus, aber wenn ich mich heute an einem Essay über derartige Dinge versuchen würde, bekäme ich vermutlich keine drei Sätze zustande. Es gibt eine Szene im Roman, in der Jeff auf einem der Bildschirme den verschwundenen Sohn seiner Geliebten sieht, der jetzt in einem Freiwilligenbataillon in der Ukraine als Soldat zu kämpfen scheint. Sind diese Bilder Ausdruck von Jeffs Paranoia? Sind die Filmbilder manipuliert und werden speziell für ihn gezeigt? Ich glaube, es hat etwas sehr viel Weiterreichendes und Tieferes damit auf sich, aber ich habe nicht einmal den Versuch einer Erklärung unternommen. Damit verhält es sich ähnlich wie mit dem Mittelteil des Romans, bei dem es sich um einen Gedankenstrom der kryonisierten, in einer isolierten Hülse aufbewahrten Artis handelt - eine Szene, die ich in zwei oder drei Tagen geschrieben habe.
„Bin ich jemand", so Artis, „oder sind es nur die Wörter, die mich denken lassen, ich wäre jemand?"
Wie kann es sein, dass ihr in diesem Zustand die Sprache noch zur Verfügung steht? Weshalb? Es geschieht, weil es mir interessant erschien und ich an diesen Stellen des Romans etwas brauchte, das sich der Erklärung entzieht.
Ihr Werk erzählt von der großstädtischen Gegenwart Amerikas, mit historischen Kristallisationspunkten. In „Libra" beschreiben Sie das Kennedy-Attentat, in „Falling Man" 9/11. In „Weißes Rauschen" oder „Mao II" zeichnen Sie die Bilder einer Konsum- und Massengesellschaft. Dennoch ist „Null K" nicht der erste Ihrer Romane, der sich aus der lärmenden Gegenwart in die Leere der Wüste zurückzieht. Was reizt Sie an diesen Orten, „so flach und nackt", wie es in „End Zone" heißt, „dass sie das Ende der überlieferten Zeit andeuten"?
Ich mag einfach den Kontrast. Die Wüste ermöglicht mir eine Distanz - nicht nur, was die Distanz angeht, die sich dort zwischen Menschen eröffnen kann, sondern ein Gefühl der Weite, das nicht nur mit der geologischen Weite zu tun hat, sondern auch mit Weite in einem spirituellen Sinn. Der Weite der Stille.
Ich lese Ihr Werk zwar nicht autobiografisch, ...
Sehr richtig.
... aber dennoch: Ist diese Spiritualität, die sich in „Null K" nicht zuletzt in Gestalt einer Frau zu zeigen scheint, die mitten in Manhattan in starrer Pose auf dem Gehweg verharrt, auch für Sie persönlich von Bedeutung?
Die Bedeutung ist für mich rein visuell. Davon abgesehen mache ich mir über Spiritualität keine Gedanken. Sie ist etwas, das irgendwo in einer entfernten Region meines Gehirns, meines Verstandes, meines Geistes existieren mag, aber nichts, das mich unmittelbar umtreibt. Ich nehme an, sie ist insofern Teil meines Werks, als das Schreiben von Literatur für mich etwas Spirituelles hat. Insofern, als dem Prozess des Schreibens selbst etwas Mystisches anhaftet, das sich in meinen Büchern dann möglicherweise zeigt. Etwas, das ich spüre, wenn ich arbeite - etwas, das in den Wörtern und Sätzen, die ich schreibe, eingebettet ist und sich der Erklärung entzieht.
Ich weiß, dass Sie nicht gern über persönliche Dinge sprechen und angeblich eine Karte mit der Aufschrift „Darüber möchte ich nicht reden" bei sich tragen: Aber gibt es einen Zusammenhang zwischen der von Ihnen beschriebenen Spiritualität und Ihrer katholischen Erziehung?
Das mit der Karte stimmt und ich sehe gleich mal nach, ob ich eine bei mir habe. Aber der Story hinter der Karte haftet nichts Spirituelles oder Persönliches an, sondern lediglich etwas Praktisches. Sie hat damit zu tun, dass ich in den Siebzigern andauernd gefragt wurde, wie viel Miete ich für meine Wohnung zahle. Das war eins von den Dingen, die man einander in New York fragte. „Wie viel zahlst du für deine Wohnung?" Ich schob dann als Antwort einfach meine Karte rüber. Hier haben Sie eine.
Vielen Dank. Ihr Spiritualismus erinnert mich dabei eher an eine buddhistische als eine katholische Tradition.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich das von Peter Matthiessen habe, der ein großer Anhänger des Zenbuddhismus war, aber ich bin Peter erst viel später begegnet. Nein, ich weiß keine Antworten. Deshalb schreibe ich Romane und überlasse die Interpretationen Ihnen.
Ich neige vermutlich dazu, Ihre Romane überzuinterpretieren und sehe möglicherweise Dinge, die gar nicht da sind.
Selbst wenn sie da sind, sind sie mir nicht bewusst. Die Dinge sind lediglich durch meine Finger geflossen, als sie auf die Tasten der Schreibmaschine einschlugen.
„Dein Leben in Sekunden. Was ergibt sich da, bei achtzig Jahren?"
Oh, ich habe keine Ahnung.
Definieren Sie „Leben", definieren Sie „Tod". Nein, definieren Sie „Fürimmerundewig".
Ich kann es nicht definieren, und Artis, die dieses Wort in „Null K" ausspricht, kann es ebenso wenig. Sie liebt einfach nur seinen Klang.
Kann man „Null K" als die Fantasie eines alternden Schriftstellers interpretieren, der angesichts seines bevorstehenden 80. Geburtstags die eigene Sterblichkeit zu überwinden versucht?
Auf gar keinen Fall. Auch darüber habe ich beim Schreiben von „Null K" nicht nachgedacht - und das Gleiche ließe sich über die Arbeit etwa an „Weißes Rauschen" von 1985 sagen, nur dass ich damals natürlich noch nicht sterblich war.
Jeffs Vater Ross, ein scheinbar unbezwingbarer Selfmademilliardär, ist nach dem Verlust seiner Frau ein geschlagener Mann. Weshalb schützt ihn die Rüstung seines Erfolgs nicht vor der Zerstörungskraft der Trauer?
Ross hat sich tatsächlich selbst erschaffen und sogar einen neuen Namen angenommen, der ihm ein neues Selbstbild schenkt, aber der Verlust seiner Frau lässt Ross vollkommen zusammenbrechen. Ich fand es interessant zu beobachten, dass sein enormer Reichtum überhaupt keine tröstende Wirkung auf die Trauer hat, die er empfindet. Diese Trauer hat dennoch etwas Erlösendes und macht ihn in gewisser Weise überhaupt erst zum Menschen.
Der Roman scheint in erster Linie von der Reise zu handeln, die Artis und schließlich auch Ross antreten, zwei der Pilger über die Grenzen von Zeit und Leben hinweg. Können Sie die Reise beschreiben, die Jeff im Roman zurücklegt, ein Mann ohne Eigenschaften, der sich für die europäische Literatur der Moderne interessiert und ähnlich wie Hans Castorp im „Zauberberg" den hoffnungsvoll Sterbenden einen Besuch abstattet?
Ich habe mir Jeff eher als jemanden vorgestellt, der an den Autor von „Die Blendung" denkt. Wie hieß doch gleich dieser aus Bulgarien stammende Nobelpreisträger?
Elias Canetti, ein weiterer Schriftsteller, der berühmt war für seine Angst vor dem Tod.
Ich habe seinen Roman gelesen, als ich noch sehr jung war, und meine Taschenbuchausgabe ist kurz davor, zu Staub zu zerfallen. Was Jeff anbelangt: Er ist aufgebracht, er ist unglücklich, aber er bewahrt sich seinen distanzierten Gleichmut. Er ist ein Mann, der sich ständig um irgendwelche Jobs bewirbt, deren nichtssagende Bedeutungen sich im Firmenjargon erschöpfen, ihm aber eine Identität verleihen.
Was sehe ich, wenn ich heute wie Jeff ziellos durch Manhattan streife?
Sie sehen Taxis, Lastwagen, Busse, die sich auf den Straßen zusammendrängen, einen unablässigen Verkehrskollaps. Sie sehen überall Bauarbeiten, Baugerüste. New York ist wie eine Stadt in der Nachkriegszeit, nur hat der Krieg noch nicht stattgefunden. Das heutige New York ist lediglich das, was man sieht, ohne jedwede Tiefe hinter dieser Oberfläche.
Sieht man, „wie dünn das Leben heutzutage ist"? So sagt es in „Null K" ein rätselhafter Mönch, der die Sterbenden mit seiner Vision des Weltuntergangs tröstet.
Daran hätte ich nicht unbedingt gedacht, aber vielleicht trifft es auf den Zustand des Lebens hier zu.
Können Sie das „Weltsummen" beschreiben, das man in Zeiten des Präsidentschaftswahlkampfs hört?
Der Wahlkampf ist lediglich eine Störung des „Weltsummens", von dem eine meiner Figuren spricht. In gewisser Weise kann man dieses Summen physisch spüren, aber vor allem ist es das, was man zum Beispiel in einem Zimmer hört, wenn man allein ist - wenn man keinen Straßenlärm mehr wahrnimmt und alle elektrischen Geräte ausgeschaltet sind. Man hört nur noch das Summen des Raums, das Summen der Welt. Ein spirituelles Geräusch.
Können Sie trotz Ihrer Vorliebe für die Stille des „Weltsummens" etwas zum Lärm der politischen Realität sagen?
Dieser Lärm wiegt einen in den Schlaf. Aber Sie wissen, dass ich über diese Dinge nicht gern in der Öffentlichkeit rede.
Sie haben mir Ihre Karte bereits gegeben.
Wir leben in einer sehr seltsamen Ära. In einer Mini-Ära, wie ich hoffe, und wir können uns jeden Tag glücklicher schätzen, vor acht Jahren Barack Obama ins Amt des Präsidenten gewählt zu haben. Ich habe keine Ahnung, was in den nächsten zwei oder drei oder vier Jahren geschehen wird, aber es dürfte sich um eine sehr finstere Zeit handeln.
Sehen Sie Anzeichen eines selbst verschuldeten Infernos?
Ich sehe Anzeichen einer Massenhalluzination. Es ist, als wären wir in einem Film.
Welche Rolle spielt der Schriftsteller in diesem Film? Wollen Sie darüber nicht reden?
Doch. Die Rolle des Schriftstellers ist immer die des Individuums. In dieser Rolle bin ich jedoch nur ein weiterer Beobachter - neugierig und erstaunt, aber manchmal lediglich erschöpft und verwirrt. Das Verstörende ist, dass einer der beiden Präsidentschaftskandidaten kein Verhältnis zur Vergangenheit hat und völlig geschichtslos agiert. Dass er ein vollkommener Hohlraum ist, eine Leere, oder doch wenigstens nichts in sich trägt als seine eigene, sehr begrenzte Erfahrung. Wird die Zukunft noch Schriftsteller wie in der Vergangenheit produzieren? Das ist eine legitime Frage, aber ich bin überzeugt, dass die Menschen die Literatur brauchen und dass auch die augenblickliche Situation Kunst hervorbringen wird, der etwas Erlösendes anhaftet. Die uns mit dem, was heute in unserer Kultur geschieht, versöhnt. Das mag eine vergebliche Hoffnung sein, aber die Literatur hat eine enorme Kraft, und es ist schwer vorherzusehen, was Schriftsteller in Zukunft daraus machen werden. Aber Sie werden da sein und es erleben.