Charles Simic, geboren 1938 in Belgrad, lebt seit 1953 in den USA. 2007 wurde er zum Poet Laureate ernannt Foto: interTOPICS /Graziano Arici
In der Berliner Literaturwerkstatt sitzt Charles Simic in einem Hinterzimmer unterm Dach. Die Fenster zum Hof stehen offen, auf dem Tisch ein oszillierender Ventilator, der den amerikanischen Dichter alle paar Sekunden anbläst. Sommer in der Stadt, immerhin hat Simic sein Jackett im Hotel gelassen. Neben ihm auf dem Tisch liegt ein kleiner Regenschirm.Die Welt: Gerade ist bei Hanser eine neue Auswahl ihrer Werke auf Deutsch erschienen. Sie haben Gedichte über Ihre Schuhe, über eine Gabel und einen Kohlkopf geschrieben. Vielleicht könnten Sie wenigstens ein Gedicht über Ihren Schirm schreiben, wenn es heute nicht mehr regnet.
Charles Simic: Es ist der kleinste Regenschirm der Welt. Ich habe ihn vor meiner Abreise in New York gekauft, aber ob er für ein Gedicht taugt, weiß ich nicht. Als ich damals das Gedicht über eine Gabel schrieb, war ich noch sehr am Surrealismus interessiert, an einer Tradition, die sich aller möglicher, vollkommen unpoetischer Dinge annahm, Dinge, die fast einer Beleidigung für einen Lyriker darzustellen schienen. Ich kannte natürlich Gedichte wie das von William Carlos Williams über die rote Schubkarre. Ich erinnere mich, wie ich 1964 in meiner Wohnung in der 13. Straße von Manhattan saß und meine Gabel, mein Messer und meinen Löffel betrachtete. Ich war damals ziemlich arm und hatte das Besteck wahrscheinlich in irgendwelchen Restaurants mitgehen lassen. Ich betrachtete das Zeug und fand, die Gabel hatte ziemlich viel Persönlichkeit. Ich lebte in New York City, worüber sollte ich also schreiben? Über das Mondlicht im Kielwasser eines Ruderbootes?
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Die Welt: In "Medici Groschengrab", dem Buch über die Assemblagen des US-Künstlers Joseph Cornell, schreiben Sie über die "schmerzhafte Metamorphose", die das Wesen der schöpferischen Arbeit ausmache.
Simic: Das ist natürlich die Art von Kommentar, die man im Nachhinein macht, insbesondere, wenn die Intuition eine so große Rolle spielt wie bei mir und wie sicherlich auch bei Cornell, dessen Werk ich sehr liebe. Wenn sich etwas gut anfühlt, dann denke ich nicht lange nach, sondern leg einfach los. Cornell hatte keinen Plan, er war ein wahrer Mystiker und suchte sich die Objekte für seine Kunstwerke in Ramschläden zusammen. Er war davon überzeugt, dass auf jedes noch so obskure Ding, das er fand, irgendwo in New York ein Gegenstück wartete, das er eines Tages aufspüren würde. Mir leuchtet dieses Verfahren vollkommen ein, weil es der künstlerischen Intuition absolut vertraut. Ebenso intuitiv spüre ich beim Schreiben, wann sich ein Gedicht für die Bedeutungen öffnet, die Leser darin finden können. Das ist der Moment, in dem ein Lyriker sein Gedicht in Ruhe lassen sollte.
Die Welt: Und wo ist der Schmerz? Was Sie beschreiben, klingt eher nach vergnüglicher Arbeit.
Simic: Intuition ist nur ein anderer Name für das Unbewusste. Aber natürlich schreibt man ein Gedicht nicht in einem einzigen Augenblick, und mit der Zeit schaltet sich unweigerlich der Verstand ein, der sagt: "Also, Charlie, das wird so nichts. Wir haben gerade einmal fünf Zeilen, und du weißt schon nicht weiter. Ich glaube, wir lassen es lieber." Dieses Gefühl der Unsicherheit kann ziemlich qualvoll sein.
Die Welt: Können Sie das "Spukhaus" beschreiben, als den Sie Ihren Verstand in dem Gedicht "Ich bin Charles" bezeichnen?
Simic: Ich wurde 1938 in Belgrad geboren, und als 1945 das Kriegsende bekannt begeben wurde, habe ich mit meinen Freunden in irgendwelchen zerbombten Häusern gespielt und soll zu meiner Mutter gesagt haben: "Ab jetzt werden wir keinen Spaß mehr haben." Ich hatte keine Ahnung, dass eine Kindheit eigentlich anders verlaufen sollte, und war mit meiner ziemlich glücklich. Später habe ich eine Frau meines Alters getroffen, der es in dem zerstörten Warschau ganz ähnlich ergangen war, und sie sagte zu mir: "Weißt du, weshalb wir so glücklich waren? Weil wir nicht zur Schule mussten."
Die Welt: Sie hatten, was Sie einmal eine "typisch osteuropäische Erziehung" genannt haben - mit Hitler und Stalin als Lehrer.
Simic: Und was ich in meiner Kindheit gelernt habe, kam mir wieder sehr deutlich vor Augen, als Jugoslawien zerbrach und das Schlachten abermals begann. Ich lebte bereits seit 1954 in den USA und hatte dennoch das Gefühl eines Déjà-vu, weil ich mich natürlich an die Bombardierung Belgrads durch die Nazis und später durch die Briten und Amerikaner erinnerte. Wann immer die USA heute ausrücken, um jemanden mit ihren Bomben zum Teufel zu schicken, erinnere ich mich an die Zerstörung Belgrads. Es sind meist historische Ereignisse, die meine Gespenster rufen und zu mir zurückbringen.
Die Welt: Wer ist also Charles, das in "Handschellen an einem unsichtbaren Gerüst" schaukelnde Ich Ihres Gedichtes?
Simic: Jedes Leben ist voller Komplikationen und Widersprüche. Nachdem meine Mutter und ich meinem Vater 1954 in die USA gefolgt waren, wollte ich eigentlich Maler werden und habe auf Schritt und Tritt gezeichnet, aber während der Highschool fing ich auch mit dem Dichten an. Mit 18 zog ich zu Hause aus, und 1958 ging ich schließlich von Chicago, das mir provinziell vorkam, zurück nach New York. Wenn ich später mal nach Jugoslawien kam, wurde ich häufig gefragt: "Wann haben Sie sich entschieden, Ihre heilige Muttersprache aufzugeben und auf Englisch zu schreiben?" Aber so einen Moment gab es nie. Ich habe lediglich versucht herauszufinden, wie ich es in dem Land schaffen kann, das ich sehr liebte. Nachdem ich meine ersten Gedichtbände veröffentlicht hatte und mich jemand fragte, ob ich einen Workshop für kreatives Schreiben unterrichten wolle, dachte ich: "Okay, vielleicht bin ich also ein Dichter."
Die Welt: Irgendwo haben Sie den Dichter als "Verkörperung von Wagemut, von individueller Freiheit und Demokratie" bezeichnet, als uramerikanischen Typus.
Simic: Seit Walt Whitman kommen amerikanische Lyriker meist aus dem Nichts und sind gewissermaßen self-made. Die meisten von uns sind irgendwie in ihre Arbeit hineingestolpert und tun sie nicht aus der alten romantischen Überzeugung, ein missverstandenes Genie zu sein, sondern weil sie von einem tiefen demokratischen Gefühl geleitet werden. Natürlich gibt es auch den Typus des amerikanischen Hippie-Lyrikers, aber die meisten von uns treibt der gleiche demokratische Geist um wie William Carlos Williams oder Wallace Stevens.
Die Welt: Haben Sie den Eindruck, dass dem Dichter, der die "ältesten Werte" verteidigt und "die Erfahrung des Einzelnen gegen die des Stammes behauptet", wie Sie in einem Essay schreiben, in den USA und anderen westlichen Gesellschaften heute eine besondere Bedeutung zukommt?
Simic: Ich denke schon, aber man trichtert dies den Leuten nicht mit dem Hammer ein. Allein die Haltung macht einen Unterschied, und wenn man als Lyriker von dem Sockel herabsteigt und sich unters Volk mischt, ist schon viel gewonnen. Das schönste Kompliment, das ich je erhalten habe, stammt von einem Mann, der in einem Landstrich Amerikas, in dem es so viel Kultur gibt wie in der Sahara, mit verblüfftem und irgendwie verstörtem Ausdruck einer Lesung beiwohnte und danach auf mich zukam: "Entschuldigung, Mr. Simic, aber war das, was Sie vorgelesen haben, wirklich Poesie?" Ich weiß nicht, ob ich ihn überzeugen konnte, aber er sagte: "Unglaublich, ich habe Gedichte immer gehasst, aber ich habe jedes Wort verstanden, das Sie vorgelesen haben."
Die Welt: Ist ein Gedicht also ein gutes Werkzeug, um sich als Individuum dem Ansturm der öffentlichen Meinung zu widersetzen?
Simic: Ja, und vielleicht werden heute in den USA deshalb auch mehr Gedichte gelesen als früher, obwohl andere Spielarten der Literatur Leser einbüßen. Lyrik dient einem Zweck, den nichts anderes erfüllt. In einem Gedicht spricht ein Individuum zu einem anderen Individuum, zwei Einsamkeiten treffen aufeinander und kommen miteinander ins Gespräch. Diese Intimität ist so außerordentlich und für manche Menschen so anziehend, dass sie sich darüber näherkommen und mir dann Briefe schreiben, in denen es heißt: "Lieber Mr. Simic, meine Frau und ich haben uns ineinander verliebt, als wir uns eines Ihrer Gedichte vorgelesen haben." Joseph Brodsky hat Lyrik nicht ohne Grund als "angewandte Kunst" bezeichnet.
Die Welt: "Wann immer alles andere in Amerika zum Teufel zu gehen scheint", schreiben Sie in einem Essay, "geht es der Lyrik gut." Werden deswegen momentan wieder mehr Gedichte gelesen?
Simic: Zumindest geht alles andere gerade zum Teufel.
Die Welt: In Gestalt von Donald Trump?
Simic: Eine Zukunft mit Trump ist schon deshalb schwer einzuschätzen, weil er dies selbst nicht kann. Trump ist ein Schwindler, ein Hochstapler. Vollkommen uninformiert über selbst die grundsätzlichsten Prinzipien, nach denen die amerikanische Regierung funktioniert. Er hat jedoch begriffen, dass Hass, in diesem Fall der Hass auf die Einwanderer, eine gewinnbringende Strategie ist. Unsere Parteien sind vollkommen korrupt, auch die demokratische Partei, hat das Interesse an den Arbeitern verloren und richtet sich seit den Clinton-Jahren nur noch an die Hochqualifizierten und Akademiker. Als Geld in die Politik floss, hat es alles zerstört, und heute muss bereits jeder, der sich um das Amt des Bürgermeisters in einer Kleinstadt bewirbt, über enorme Summen verfügen.
Die Welt: Wie nehmen Sie das im Alltag wahr?
Simic: Ich lebe ganz in der Nähe einer der alten Industriestädte von New Hampshire, und ich würde nicht sagen, dass die Menschen dort böse sind, aber sie sind ignorant, verwirrt, und sie zählen auf Trump, wenn er ihnen eine großartige Zukunft verspricht. Ich war kürzlich in Kalifornien, wo eine ziemliche Dürre herrschte, aber den Menschen dort bläut man ein, dass der Klimawandel ein Schwindel ist und Trump ihnen als Präsident alles Wasser bescheren wird, dass sie sich nur wünschen können. So etwas glaubt nur, wer wirklich verzweifelt und gefährlich ist. Aber wie auch immer die Wahl ausgehen wird, das Ergebnis wird die Spaltung des Landes vorantreiben, weil das gesamte System ruiniert ist. Wenn heute irgendwo amerikanische Bomben einschlagen, springen die Leute jubelnd in die Luft, weil sie davon finanziell profitieren.
Die Welt: Handelt es sich auch um eine Korruption der Sprache, der Massenmedien?
Simic: Früher hatte jede Kleinstadt ihre Zeitung, die nicht nur über Weltnachrichten informierte, sondern auch über den Bürgermeister, der mit dem kriminellen Bruder seiner Frau in Geschäftsverbindung stand. Die Wähler waren ungleich besser informiert, aber heute kann man Hunderte von Meilen gen Westen fahren, ohne eine einzige Zeitung zu finden.
Die Welt: Wozu noch Zeitungen, wenn jedes Kaff mittlerweile am Internet hängt?
Simic: Nicht nur am Internet, sondern auch am Radio, dem seit den Neunzigerjahren populären, von Millionen Amerikanern geliebten "Hass-Radio". Die Verbreitung von Lügen ist ein großes Geschäft für Radio- und Fernsehsender wie Fox News, die zu der Verdummung der Menschen beitragen, denen zum Teil sogar das Basiswissen über die USA fehlt. Die historische Amnesie ist derart ausgeprägt, dass es Studenten gibt, die nicht wissen, ob sich der Vietnamkrieg vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg ereignete.
Foto: Jim Davis/The Boston /Boston Globe/Getty Images
Die Welt: Worin besteht die Rolle des Dichters in der von Ihnen beschriebenen Gesellschaft?
Simic: Wenn man in einer Irrenanstalt lebt, ist es natürlich Aufgabe des Dichters, den Wahnsinn zu beschreiben, aber man muss aufpassen, dass man sich von der vorherrschenden Hilflosigkeit und dem Pessimismus nicht anstecken lässt. Das wirklich Furchterregende ist nicht, dass Trump sich als Isolationist erweisen könnte, sondern dass die USA seit Jahrzehnten von einer Industrie abhängig sind, die ihr Geld mit Waffen verdient und daher Kriege benötigt. Wir brauchen unsere Feinde, und wenn Trumps vorhersehbares politisches Versagen als Präsident eintreten sollte, würde er vielleicht einen Krieg mit China oder etwas ähnlich Verrücktes anzetteln, um davon abzulenken. Hillary Clinton würde aber vermutlich nicht anders handeln, weil sie kaum in der Lage wäre, in Washington etwas zu ändern, und sehr unpopulär wäre, weil sie ebenfalls ein paar Skelette in ihrem Keller hat. Sie ist nicht sehr kompetent und ein wenig korrupt, und wenn sie nicht weiterkäme, würde auch sie auf die typisch amerikanische Lösung zurückgreifen und einen Krieg anfangen. Wie wäre es mit dem Iran? Aber so gern wir uns die Gründe für einen netten Krieg zusammenbasteln, so gern vergessen wir, dass Amerika seit dem Vietnamkrieg keinen einzigen Krieg mehr gewonnen hat. Was ich Ihnen beschreibe, ist also wirklich eine Klapsmühle.
Die Welt: Wie gelingt es Ihnen, die "prächtige Gelassenheit im Angesicht des Chaos" zu bewahren, die Sie einmal als Bestandteil großer Dichtkunst bezeichnet haben?
Simic: Das gelingt mir nur, weil Amerika trotz allem ein Land voller wunderbarer Menschen ist, unter denen ich mich ganz und gar zu Hause fühle. Wie die Menschen in jedem anderen Regime, versuchen sie ihr Bestes und tragen nicht die Verantwortung. Wir brauchen die verrückte Minderheit, die über das Leben der Massen bestimmt, aber trotz dieser Erkenntnis ist es mit der Gelassenheit manchmal nicht weit her. Ich kann mich zum Beispiel nicht erinnern, wann ich in Amerika zum letzten Mal einen Optimisten getroffen habe - egal, ob man unter den sogenannten Intellektuellen nach ihm sucht oder beim Friseur.
Die Welt: Wo ist Ihr Optimismus geblieben?
Simic: Wir Osteuropäer haben den Pessimismus in unseren Genen. Schon mein Vater pflegte mich zu fragen: "Charlie, wohin emigrieren wir als Nächstes?" Er liebte Amerika, aber er wusste, dass die Zukunft düster sein würde.
Die Welt: "Amerika wartet noch immer darauf, entdeckt zu werden", schreiben Sie in "Medici Groschengrab". "Seine Landstreicher und Dichter ähneln den frühen Seefahrern, die zu ihren Entdeckungsreisen aufbrachen." Welche Gegenden der amerikanischen Terra Incognita gibt es für Sie heute noch zu entdecken?
Simic: Trump ist vielleicht schon meine letzte Entdeckung. Selbst der zynischste Beobachter hätte sich nicht vorstellen können, dass die Partei von Abraham Lincoln einen Mann wie ihn nominieren würde. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir eine verrückte, gewalttätige Ader in uns haben und dass unsere Geschichte mit dem Abschlachten der indianischen Ureinwohner begann. Die gegenwärtige Situation bietet also Gelegenheit neu zu entdecken, wie verrückt und selbstzerstörerisch wir sind, denn momentan ist Amerika drauf und dran als Nation einen öffentlichen Selbstmord zu begehen. Ich bete, dass es nicht dazu kommt, aber im Augenblick fühlt es sich an wie im Flugzeug kurz vor der Landung, wenn sich der Pilot zu Wort meldet und sagt: "Leute, die Landung könnte etwas holprig werden."