Graham Swift ist kein Freund lauter Töne, aber er gehört zu den führenden Vertretern der britischen Gegenwartsliteratur. Wie ist es, an seiner Seite durch London zu streifen und über Bücher zu reden?
An einem Sonntag im September sitzt Charlie Yates auf dem höchsten Punkt der Anhöhe von Greenwich Park und lässt seinen Blick über das Londoner Häusermeer schweifen, das sich vor ihm bis zum Horizont erstreckt. Charlie war als Dachdecker am Bau der Türme der Docklands beteiligt, die seit den neunziger Jahren Londons Stadtsilhouette beherrschen, und hat sich als Teilhaber einer Fensterputzfirma schliesslich auf die Reinigung ihrer Fassaden verlegt.
Das imaginäre LondonAn diesem Sonntag Anfang September 2008, in den nur eine kurze Verschnaufpause währenden Augenblicken, in denen Grahams Swifts Erzählung "Aufsteigen in der Welt" spielt, sitzt Charlie im Trainingsanzug auf der Parkbank und nimmt die Aussicht in sich auf. Er blickt Richtung Wapping, wo er 1951 als Sohn eines Werftarbeiters zur Welt gekommen und in der noch vom Bombenhagel der deutschen Luftwaffe erschütterten Nachkriegszeit aufgewachsen ist. Er blickt Richtung Stepney und Limehouse und spürt eine tiefe Verbundenheit mit der Metropole, deren Biografie eng mit seiner eigenen verwoben ist. Erinnerungen und Gedanken; die im Sonnenlicht glitzernden Türme auf der in einer Schleife des Themsebogens gelegenen Isle of Dogs. "Meine Stadt", denkt Charlie, bevor er sich von der Bank erhebt und weiterjoggt, "mein London."
"Aufsteigen in der Welt" ist die erste der fünfundzwanzig Kurzgeschichten in Swifts unlängst auf Deutsch erschienenem Erzählband "England und andere Stories". "Wenn ich so wie Charlie meine Stadt betrachte", sagt der Schriftsteller, "fühle ich zwar die gleiche Liebe, aber viele der modernen Gebäude, zu denen Charlie seine ganz persönliche Verbindung hat, empfinde ich eher als hässlich." Swift kam 1949 als Sohn eines Buchhalters in einem der Vororte im Süden Londons zur Welt, in jenem Suburbia der Metropole, in dem er noch heute lebt und in dem seit "Ein ernstes Leben", Swifts 1980 erschienenem Debüt, mehrere der Romane spielen, die ihn zu einem der bedeutendsten Schriftsteller der britischen Gegenwartsliteratur gemacht haben.
Er steht unweit der Royal Festival Hall am Südufer der Themse und blickt Richtung Waterloo Bridge. "In meiner Kindheit war London sehr viel dunkler, grauer, buchstäblich weniger bunt als heute, und die Skyline wurde noch von der Kuppel von St. Paul's dominiert." Er schlendert den Thames Path entlang Richtung Osten, vorbei am National Theatre, vorbei an der Tate Modern und an Shakespeares Globe. "Und ich neige dazu, London vor meinem geistigen Auge noch genau so zu sehen und vieles von dem, was die Architektur des heutigen London ausmacht, auszublenden. London ist für mich nicht nur ein realer, sondern auch ein imaginärer Ort", sagt er und schlängelt an einer der zahlreichen Touristengruppen vorbei, die an diesem strahlenden Vormittag durch den Bezirk Southwark pilgern. Leute mit Smartphone und Selfie-Stange, die sich vor der "Golden Hinde" fotografieren, dem in Pickfords Wharf am Ende der Clink Street aufgebahrten Nachbau von Francis Drakes Flaggschiff.
"Ein imaginärer Ort in dem Sinne, dass die Stadt nicht nur in der Inszenierung ihrer glorreichen Vergangenheit für uns weiterzuleben scheint, in zahllosen Filmen oder den Romanen von Dickens und anderen, die sich in die Textur Londons eingeschrieben haben", sagt Swift, der mit "Letzte Runde" selbst einen der grossen London-Romane des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben hat, "sondern auch in etwas so Ephemerem wie den eigenen Erinnerungen. Es mögen keine sonderlich bemerkenswerten Erinnerungen sein, keine Erinnerungen an welthistorische Ereignisse, sondern an ganz private Momente. Aber es sind diese Momente, die mitunter den kostbarsten Teil der Realität ausmachen, die ein Ort für einen Menschen haben kann."
Wenn die Zeit innehältSwift trägt eine schwarze Hose, eine schwarze Jacke. Er spricht mit leiser Stimme; er hat eine stille, unauffällige Art. "Selbstverständlich sind wir alle den Kräften dessen ausgesetzt, was gemeinhin als ‹Geschichte› bezeichnet wird, aber in den Storys meines neuen Erzählungsbandes, wie vermutlich in meinem gesamten Werk, sind es vor allem diese privaten und mitunter intimen Momente der sogenannten ‹gewöhnlichen Leute›, die mich interessieren."
Swift erzählt von der Arbeit an den Kurzgeschichten - fragmentarische Skizzen aus dem Alltag der Figuren, die in ihrer Gesamtheit ein faszinierendes Kaleidoskop der Conditio humana abgeben. Von der erstaunlichen Fülle der Ideen, die ihn nach der Vollendung seines Romans "Wärst du doch hier" - und etwa dreissig Jahre nach Veröffentlichung seines letzten Erzählungsbandes - vollkommen überrascht hatte. Von "dem stetigen Fluss der Storys, der erst wieder verebbte", als er sich entschieden hatte, die Kurzgeschichten als Buch zu veröffentlichen. Er erzählt von seiner Bewunderung für Isaak Babel, von dem er seit Jahren in seinem Schreibtisch ein Foto aufbewahrt, von seiner Liebe zu Tschechows Erzählungen, von "Tschechows tiefer Menschlichkeit", die Massstab für Swifts eigenes Schreiben ist.
Er steht an einer Uferbefestigung nördlich von Bermondsey Wall und beobachtet zwei Männer, "waterside characters", wie es irgendwo bei Dickens heisst, die sich an einem kleinen Schiffsliegeplatz Taue zuwerfen und einen rostigen Ponton zu bewegen versuchen, der auf der Themse schaukelt. Stromaufwärts sieht man die Tower Bridge, dahinter "The Walkie-Talkie", Rafael Vinolys 2014 fertiggestelltes Bürohochhaus in der Fenchurch Street, den mehr als zweihundert Meter hohen Heron Tower und den von Norman Foster für die Swiss Re entworfenen, im Volksmund als "Gurke" verspotteten Wolkenkratzer: die neuen Wahrzeichen der Londoner City, welche die Glockentürme der von Christopher Wren erbauten Kirchen und die Kuppel von St. Paul's überragen.
Swift beobachtet, wie die beiden Männer an den Tauen ziehen, und erzählt von seinen Erinnerungen an die Kindheit, an die alten Dock- und Werftanlagen, an die Geschäftigkeit auf den Schiffen und die endlose Kette der Ladekräne, die diesen als "Pool of London" bekannten Themseabschnitt bis in die frühen sechziger Jahre säumten. Wasser spritzt gegen die Mole, ein zartes Plätschern, das den aus allen Winkeln der Grossstadt hervorquellenden Verkehrslärm, das ferne Dröhnen der Flugzeuge auf ihrem Weg nach Heathrow, das Gerede der Touristen für einen Moment vergessen macht. "Ich weiss nicht genau, was die zwei vorhaben", sagt Swift, der den Blick nicht von den beiden Männern abwenden kann, deren stille, selbstvergessene Arbeit die Zeit zu transzendieren und ihn weit in die Vergangenheit seiner Stadt zurückzuführen scheint. "Aber sie tun etwas", sagt er, "das an dieser Stelle seit Jahrhunderten getan worden ist." Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, als könnten die Arbeiter ihn hören. Als könnte jedes unbedachte Wort den Zauber dieses Augenblicks zerstören.
Schreiben ohne ZwangSwifts in der ostenglischen Moorlandschaft der Fens spielender Roman "Waterland" (1983) und "Letzte Runde", die mit dem Booker Prize ausgezeichnete Geschichte über vier Männer, die mit der Asche eines verstorbenen Freundes von Bermondsey nach Margate pilgern, haben sich längst als Klassiker der britischen Gegenwartsliteratur etabliert. Seit Erscheinen von "Mothering Sunday", seinem Ende Februar veröffentlichten zehnten Roman, für den er die vielleicht besten Kritiken seiner Karriere erhielt, nimmt Swift sich gerne etwas Zeit. Er könnte "wieder einmal durch Whitechapel spazieren", wo die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus dem zaristischen Russland emigrierte Familie seiner Mutter früher lebte. Er könnte gemeinsam mit seiner Frau eine Flussfahrt unternehmen und "theoretisch sogar bis nach Henley fahren", wo sich der Geliebte des Hausmädchens Jane Fairchild, der Protagonistin aus "Mothering Sunday", mit seiner Verlobten zum Lunch verabredet hat.
"Ich wahre meine Routine und stehe morgens gegen fünf Uhr auf", sagt er, "aber bis sich die Idee für etwas Neues aufdrängt, bin ich damit zufrieden, die Veröffentlichungen der Übersetzungen meiner jüngsten Bücher zu begleiten, Gitarre zu spielen und wieder etwas mehr zu lesen." Tschechow und Thomas Hobbes' Übersetzung von Thukydides' "Geschichte des Peloponnesischen Krieges", die ihn an die historischen Wurzeln seiner Auseinandersetzung mit den grossen Kriegen des 20. Jahrhunderts zurückführt, deren Nachbeben sich durch alle seine Romane zieht. Marilynne Robinsons "Gilead" und Robert Seethalers Roman "Ein ganzes Leben", der Swift nicht zuletzt deshalb interessiert, weil sich in der an einem einzigen Tag des Jahres 1924 spielenden Geschichte von "Mothering Sunday", einem kaum mehr als 130 Seiten langen Kabinettstück grosser Erzählkunst, ebenfalls der Roman eines ganzen Lebens entspinnt.
"Ich habe meine Ängste und kann mir über meine Arbeit beträchtliche Sorgen machen", sagt er, während er kurz hinter Kings Stair's Gardens in die schmale Elephant Lane einbiegt. "Aber es ist vielleicht ein glücklicher Nebeneffekt des Älterwerdens, dass ich mir heute sehr viel weniger Gedanken mache als noch vor ein paar Jahren." Durch die St. Marychurch Street geht er zu der schönen, am Rande eines kleinen Friedhofs stehenden Kirche. "Wenn man weiss, dass der Grossteil der Arbeit hinter einem liegt, kann man die Dinge etwas entspannter sehen und muss das Schreiben nicht mehr erzwingen."
Der Atem der Geschichte"Irgendwo draussen auf dem Friedhof liegt der Kapitän der ‹Mayflower› begraben", sagt Swift, "aber ich wollte Ihnen die beiden Bischofsstühle zeigen, die aus dem Holz eines anderen Schiffes gefertigt wurden, das hier in Rotherhithe, ganz in der Nähe dieser Kirche, abgewrackt wurde und in einer der Kurzgeschichten aus ‹England und andere Stories› eine Rolle spielt." Er steht in der Eingangshalle der zu Beginn des 18. Jahrhunderts errichteten Kirche und späht durch das Fenster einer verschlossenen Tür in eines der Seitenschiffe.
In "Articles of War - Kleine Pflichtlehren für Soldaten", einer der wenigen historischen Kurzgeschichten des neuen Bandes, erzählt Swift von einem jungen Offizier der Navy, der im September 1805 im Hafen von Plymouth auf das Einlaufen der "Temeraire" wartet, von den Gefühlen und Gedanken des Mannes, der wie sein Schiff bisher nie in Kampfhandlungen verwickelt gewesen ist, von seinen Vorahnungen und dem Pflichtgefühl gegenüber seinem Land - der anfänglichen Entschlossenheit und dem durch die Wartezeit schliesslich vollends aufgezehrten Mut. "Er weiss nicht, was ihm bevorsteht", sagt Swift und blickt durch das Fenster. Neben ihm ein Tisch mit Postkarten, Faltblättern und einem aufgeschlagenen Gästebuch, einem Stapel der monatlichen Zeitung der anglikanischen Diözese Southwark. An der Wand hinter ihm eine Tafel mit den bis ins Jahr 1745 zurückreichenden Namen der Wohltäter einer in der Marychurch Street ansässigen Armenschule, darunter ein kleines Regal mit ausrangierten Büchern.
Begegnung am Bücherbord"Die Story", sagt er und deutet auf die Stühle aus dem Holz des 1838 abgewrackten Kriegsschiffes, "spielt kurz vor der Seeschlacht von Trafalgar, in der die "Temeraire" an der Seite Admiral Nelsons kämpfte, aber sie handelt im Grunde von den inneren Kämpfen jedes Soldaten, der nicht weiss, welches Schicksal ihn erwartet, wenn er erst einmal die Horizontlinie des Krieges überschritten hat." Swift wendet seinen Blick von den Stühlen ab, zwei klobige pompöse Dinger, und geht auf das Bücherregal zu. Ein Krimi von Robert B. Parker, "Other People's Dreams" von Tessa Barclay, Familien- und Unterhaltungsromane, abgegriffene Ratgeber und Lebenshilfebücher, daneben eine angestossene Taschenbuchausgabe von Swifts 1988 erschienenem Roman "Out of This World." Swift lacht und greift nach der Taschenbuchausgabe seines Erstlingswerks, die ein paar Bücher weiter steht. Etwa in der Mitte des Buchs steckt eine Fahrkarte des Busunternehmens National Express. Swift blättert ein paar versonnene Augenblicke und stellt das Buch dann vorsichtig zurück. "Das also ist der Ertrag unseres Spaziergangs", sagt er und geht auf den Ausgang der Kirche zu: "Zwei alte Stühle und zwei aussortierte Bücher."