Thomas Beschorner

Prof.denkt.schreibt, St.Gallen

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Moral: Richtig oder nur nützlich?

Man könnte meinen, dass die Verfehlungen von Unternehmen, sei es nun bei VW, BP oder UBS, eine Diskussion zur Unternehmensverantwortung auch in den Wirtschaftswissenschaften ausgelöst hätte. Dass nun kritische Fragen laut gestellt werden: Gibt es eine Verantwortung jenseits des Gewinns und Eigennutzes? Wie haben Unternehmen damit umzugehen, dass sie auf die Gesellschaft positiv wie negativ in einer Weise einwirken können, die unser Leben und unsere Zukunft fundamental bestimmt?

Doch weit gefehlt. Ökonomen interessieren sich in Forschung und Beratung in der Regel nicht für solche Fragen. Sie nehmen an, dass nicht ein moralisches Handeln von Einzelnen oder die Verantwortung von Unternehmen, sondern allein ein Ordnungsrahmen aus politischen und rechtlichen Vorschriften die Probleme löst.

Diese Standardempfehlung hat einmal politische Gründe: Die Tolerierung jeglicher Wert- und Moralvorstellung wird als Ausdruck von Toleranz und Liberalismus gesehen.

Zudem hat sie methodische Gründe: Der Mainstream nimmt an, dass der Mensch zweckrational handelt, indem er sich einwandfrei nach Vorlieben richtet, die ihm unveränderlich eingeschrieben sind. Das heißt, was der Mensch tut, zeigt schon, was ihm wichtig ist. Um seine individuellen Interessen mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen, bedarf es dann nur noch Spielregeln, mit denen die Gesellschaft "schurkensicher" gemacht wird, wie es der Philosoph schon 1741 formulierte.

Doch wenn die Ökonomie der Gesellschaft wichtige Hinweise geben will, dann sollte sie schon auf Verhaltensannahmen fußen, die sich in der Wirklichkeit bewähren. Diese schließen die Möglichkeit moralischen Handelns nicht von Vornherein aus und fordern deshalb auch nicht dogmatisch Institutionen als einzige Lösung. Wie aber kommt man dahin?

Die Autoren

Thomas Beschorner lehrt Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen. Martin Kolmar ist Professor für Volkswirtschaftslehre in St. Gallen.

Wahrscheinlich haben die meisten von uns das Gefühl, das moralisch Richtige zu wollen und oft auch zu tun. Gleichzeitig sind wir uns jedoch in vielen Punkten darüber uneins, was das moralisch Gebotene ist. Folgen wir allein unserem moralischen Bauchgefühl, verhalten wir uns oft nur einer Gruppe Gleichgesinnter gegenüber moralisch, das zeigen empirische Studien aus Psychologie und Verhaltensökonomik. Gegenüber anderen verhält man sich im günstigsten Fall neutral, im ungünstigen feindselig.

Das erklärt auch unternehmerisches Verhalten. Mitunter begreifen sich Unternehmen eben nicht als Teil, sondern als Gegenüber der Gesellschaft. Recht und Moral sind dabei nicht etwas, an das man sich unbedingt hält, sondern nur dann, wenn es Nutzen verspricht.

Verantwortung geht über ein Bauchgefühl hinaus.

Verantwortung jedoch geht über ein Bauchgefühl und rein strategisches Handeln hinaus. Sie ist ein vernunftgeleitetes Handeln, das den Anderen als prinzipiell Gleichen anerkennt. Dafür benötigen Menschen und Unternehmen die Fähigkeit, mit Situationen moralisch angemessen umzugehen. Diese Kompetenz kann entwickelt werden wie das Spielen eines Musikinstruments. Dem Individuum bietet sie Orientierung zu innerer Freiheit und verantwortlicher Selbstbestimmung. Und analog dient ein moralischer Kompass Unternehmen als Basis für ihre unternehmerischen Tätigkeiten - dann werden Korruption, Bilanzfälschung und Abgastricksereien ausgeschlossen.

Zudem versucht moralisches Unternehmertum auch einen Beitrag zu leisten, um gesellschaftliche Probleme - von Klimawandel und Armut über abnehmende Biodiversität und Kinderarbeit bis hin zu Menschenrechtsverletzungen - zu lösen.

So wichtig die Verantwortung von Akteuren auch ist, wäre es falsch, nur noch darauf zu bauen. Das Individuum sollte nicht für alle Entscheidungen, die es trifft, moralisch verantwortlich gemacht werden.

Der Moralphilosoph John Rawls wies zutreffend darauf hin, dass der Einzelne sonst hoffnungslos überfordert wäre. Die Strukturen müssen ebenfalls stimmen, auch in Unternehmen. Dies bedeutet zum Beispiel Anlaufstellen einzurichten, bei denen Mitarbeiter fragwürdige Praktiken ihrer Firma melden können (und sollen!).

Es gilt also, über institutionelle Formen nachzudenken, die moralische Verantwortung stützen und stärken. Und daraus leiten sich vier Hinweise für die Ökonomie und die Wirtschaftswissenschaften ab: Erstens, es gilt über den Zweck von Unternehmen in der Gesellschaft nachzudenken, der eben nicht auf das Prinzip der Gewinnmaximierung reduziert ist. Unternehmen in der Gesellschaft können mit Innovationen zur Lösung von sozialen und ökologischen Problemen beitragen. Daraus können ganz nebenbei auch strategische Optionen für Unternehmen resultieren. Moral muss nicht wehtun!

Auch soziale und ökologische Folgen lassen sich bestimmen

Zweitens sind Kriterien für erfolgreiche Unternehmen zu entwickeln, die den positiven Beitrag für die Gesellschaft nicht nur monetär messen. Auch soziale und ökologische Folgen kann man heute oft bestimmen.

Drittens setzt moralische Verantwortung auch Freiheit voraus. Es reicht innerhalb von Unternehmen beispielsweise nicht aus, lediglich einen Katalog von Verhaltensrichtlinien zu verfassen. "Dienst nach (moralischer) Vorschrift" ist das Gegenteil ethischer Reflexion. Und analog gilt es, über eine Wirtschaftspolitik nachzudenken, die die Spielregeln nicht ausschließlich über "Law and Order" steuert, sondern institutionelle Rahmen etabliert, die es Verbrauchern und Unternehmern ermöglichen, ihre moralische Kompetenz zu entwickeln.

Die Idee ist nicht neu. Schon Aristoteles wusste: "Die Gesetzgeber machen die Bürger durch Gewöhnung gut (...) gerade darin unterscheidet sich eine gute Verfassung von einer schlechten."

Und viertens muss Moral in der Ökonomie überhaupt gedacht werden können, weshalb die Wirtschaftswissenschaften ihre Verhaltensannahmen nun dringend erweitern müssen.

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