Jutta trinkt Apfelschorle. So nennt sie das perlende Getränk in ihrem Glas, denn Alkohol ist eigentlich für sie tabu im „Café Hauptwache". Aber das Bier braucht sie jetzt einfach. Eben am Frankfurter Hauptbahnhof hat sie zwei Steine geraucht, Crack. Eigentlich wollte sie noch einen dritten. Einen Zehner hatte sie noch. Aber dann hat sie sich doch dagegen entschieden. Luna braucht schließlich ihre Herztabletten, und die kosten 30 Euro. Also ist morgen Schnorren dran, 'nen Zwanni reinholen.
Juttas Leben ist kompliziert. Sie ist 57 Jahre alt, besitzt einen Border-Collie Mischling namens Luna und hat vor 25 Jahren ihr erstes Crack geraucht. Ein Fremder bot ihr seine Pfeife an, vor der Alten Oper. Ein Zug, Rauch ausblasen, erstes High. Seitdem ist Jutta drauf.
Ihre Wohnung in einem Plattenbau in Nied ist vermüllt, Kakerlaken und Mäuse leben dort. Auf dem Balkon wohnt eine Taube, Jutta hat sie „Kacki“ getauft. Die Mäuse nennt sie „Jeremys“. Sie liebt ihre Tiere, nur auf die Schaben könnte sie verzichten. Einmal war der Kammerjäger da. „Aber ein paar Jeremys haben wundersamerweise überlebt.“ Sie gluckst vor Freude und zwinkert. Wie sie die Mäuse gerettet hat, verrät sie nicht. „Das wäre sonst Massenmord gewesen.“
Jutta kifft, sie ist abhängig von Crack und Alkohol. Und sie muss aus ihrer Wohnung raus. Die muss saniert werden, grundlegend, nach sechs Jahren ist sie so heruntergekommen, dass es nicht mehr geht. Jutta hat ein Müllproblem, kann nichts wegwerfen, keine Ordnung halten und den Tieren nichts antun. Sie gehört zu 860.000 Menschen in Deutschland, die keine eigene Wohnung mit Mietvertrag haben. 50.000 von ihnen leben auf der Straße. Jutta hat noch ihre Wohnung, immerhin. Aber ihre Wohnsituation ist, wie ihr Leben, ein ewiger Balanceakt. Das Sozialamt hat die Bleibe organisiert, und es zahlt auch. Jutta ist im betreuten Einzelwohnen. Ohne Drogenhilfe und Sozialamt hätte sie ein Problem. In Frankfurt ist das Netz ziemlich stabil. Seit die Stadt sich auf den „Frankfurter Weg“ verständigt hat, ist es für Streetworker leichter, Rauschgiftkonsumenten anzusprechen, Hilfe anzubieten.
Bei manchen Dingen fällt es Jutta schwer, sich zu disziplinieren. Zum Beispiel bei der Sache mit dem Hotel. Eigentlich sollte sie sich seit Tagen dort melden, damit sie eine Bleibe hat, wenn sie aus ihrer Wohnung rausmuss. Will sie aber nicht. „Jetzt, zu Weihnachten, soll ich raus aus der Wohnung.“ Ihre Stimme bricht ab, sie hat Tränen in den Augen.
Bei anderen Dingen, wie dem Gassigehen, ist sie ganz gewissenhaft: „Jeden Morgen um sieben gehen wir raus. Mama kauft sich ein Bier und Luni kriegt Döschen.“ Danach ziehen die beiden durch die Stadt, Jutta hat ihren Rollkoffer im Schlepptau, den sie ihr Auto nennt. Sie schnorren, wärmen sich auf, setzen sich an die Weserstraße für einen Stein.
„Wenn du einen Zug nimmst, kommst du nicht mehr los.“ Aber aufhören wollte sie eigentlich nie. Denn das Crack, das Gras, der Alk betäuben ihre Schmerzen. Anfangs hat Jutta einem Kumpel Geld gegeben, um sich die Steine zu beschaffen. Heimlich rauchte sie das Zeug, zu Hause, weit weg von der Polizei. Dann konsumierte sie mehr, kaufte irgendwann selbst. Die Drogen sind in ihrem Leben zentral geworden. Jetzt setzt sie sich wie selbstverständlich neben die anderen im Bahnhofsviertel, sie kennt jeden beim Namen, leiht sich die Crackpfeife von Mike und streichelt ihm das Knie.
„Ich bin froh, dass du glücklich bist“, sagt sie. Sie ist es nicht. Alle haben sie verlassen, außer Luna. Ihre Mutter starb damals ein paar Tage vor ihrer Abschlussprüfung als Bankkauffrau. Ihr Freund Ralf starb an Heroin. Ihr Sohn Laszlo-Joaquin auch, vor sechs Wochen, er war 21 Jahre alt. „Die Leute sagen, dem geht’s besser, aber dem geht’s gar nicht mehr!“ Ihr Gesicht verzerrt sich. Das Tempo in ihrer Hand wird zu einem durchweichten Klumpen. Laszlo-Joaquin wurde im Ostpark gefunden. Er lebte da mit den anderen Obdachlosen.
Sie sagt, sie würde manchmal gern Schluss machen mit allem. „Aber ich kann mich nicht umbringen, das trau ich mich nicht. Vom Balkon springen kann ich auch nicht, ich hab Höhenangst.“
Für Jutta war das Leben immer ein Kampf. Sie kam zu früh zur Welt, 1000 Gramm. „Die wollten mich schon in den Müll schmeißen, aber dann hab ich geschrieen.“ Sie wuchs in Rödelheim auf, „a Frankfurter Mädsche“. Ihre Mutter war Alkoholikerin, sagt sie, schlug sie jeden Tag. Erster Vollrausch mit acht. Keine guten Startbedingungen, aber Jutta war pfiffig. Mit 15 Jahren zog sie von zu Hause aus in ein Mädchenwohnheim, „ging gut ab da“, sagt sie und lacht. Sie schaffte das Abi, wollte am liebsten Biologin werden. Aber ihr Vater bestimmte, dass sie eine Ausbildung machen solle.
Jutta lernte bei der Deutschen Bank. Sie eckte an, musste jede Woche zum Prokuristen. „Ich hab den ,Playboy‘ rumliegen lassen, ja, das ist ’n gutes Magazin! Hab solche Ohrringe getragen.“ Neben ihren Ohren zeigt sie mit Daumen und Zeigefinger taubeneiergroße Kreise.
Sie wechselte oft den Arbeitgeber, mit 32 begann sie ein Studium. Vier Semester Pädagogik, dann kam ihr Junge. Laszlo nannte sie ihn wegen „Casablanca“ und Joaquin, weil sie eigentlich zur Tanzshow von Joaquín Cortés wollte, als die Geburt begann. Jutta freute sich über das Kind, aber es lief nicht glatt. Sie trank damals schon. Ihr Freund schlug sie oft. Als Laszlo-Joaquin drei Jahre alt war, kam er in eine Pflegefamilie.
Der Kampf ging weiter. Trennung, Alk, neuer Freund. Irgendwann stand Jutta dann nachts vor der Alten Oper und zog an der dünnen Metallpfeife.
Eine Weile nahm Jutta auch Heroin. Sie saß im Gefängnis, zweimal, wegen Schwarzfahrens. Sie konnte die Geldbuße nicht zahlen und kam ersatzweise in Ordnungshaft. „Wenn du Drogen nimmst, hast du vier Möglichkeiten: schnorren, klauen, Leute überfallen oder anschaffen.“ Jutta hat illegal auf den Straßen rund um den Bahnhof als Prostituierte gearbeitet. „Mein erster Freier, der hat mir ungefragt seinen Schwanz in den Arsch gerammt.“ Als sie von Heroin weg war, konnte sie aufhören, sich zu verkaufen. Heute lebt sie von 338 Euro Rente und dem, was sie erschnorrt.
Neuer Tag, neue Jutta. Sie hat sich schick gemacht, die Fingernägel mit einer dicken rosa Schicht lackiert. Irgendwie hat sie es geschafft, bei dem Hotel anzurufen, tuckert mit der Straßenbahn eine Stunde nach Schwanheim, um sich vorzustellen. Die Hotelrechnung wird das Sozialamt zahlen. Die Dame des Hauses will ihren Gast aber erst kennenlernen, bevor sie sich bereit erklärt, Jutta aufzunehmen. Jutta ist aufgeregt. „Was machen wir nur, wenn die nein sagt?“ Die Vorstellung, in die Obdachlosenunterkunft am Ostpark zu müssen, versetzt sie in Panik. Sie kann nicht dort sein, wo Laszlo-Joaquin gestorben ist.
Die Hotelchefin mustert Jutta. „Also, Sie wissen, kein Besuch, keine Drogen, nicht rauchen auf dem Zimmer. Wenn Sie sich hier nicht benehmen, müssen Sie von einem Tag auf den nächsten gehen, das wissen Sie, oder?“ Luna hat Jutta für die Vorstellung zu Hause in Nied gelassen. Die Hotelfrau sagt: „Wenn der Hund bellt, kann er nicht hierbleiben.“ Jutta beteuert, dass Luna ganz ruhig ist. Die Frau kräuselt die Augenbrauen. Sie will nicht, dass Fotos im Hotel gemacht werden, Datenschutz. Dann klingelt ihr Handy, sie geht ran und stellt auf Lautsprecher. Alle hören die Geschichte des jungen Manns mit, der ein Zimmer für einen Monat sucht. Am Ende sagt die Frau dem Mann ab und Jutta zu. Wenn sie die Papiere herbeischafft, die nötig sind.
Also wird sie über Weihnachten doch im Hotel sein, wenn alles klappt. Das Netz aus Sozialamt und Drogenhilfeverein hat sie aufgefangen. In der Straßenbahn telefoniert Jutta auf einem geborgten Handy aufgeregt mit einer Mitarbeiterin des Sozialamts. Sie braucht die Kostenzusicherung, und irgendwie muss sie in den nächsten drei Tagen einen Ausweis bekommen, das hat die Frau im Hotel verlangt. Die Kostenübernahmescheine würden nämlich auf dem Schwarzmarkt verkauft. Ihren alten Ausweis haben die Jeremys vernichtet.
Auch mit der neuen Bleibe wird sie Heiligabend wahrscheinlich am Bahnhof unterwegs sein, so wie im vergangenen Jahr. „Ich hoffe, die lassen mein Bett in der Wohnung“, sagt sie. Denn sie hat Angst, dass die Hotelchefin sie bald wieder rauswirft, und dann hätte sie wenigstens noch einen Ort, an den sie zurückkehren kann.
Dann ist der große Tag gekommen. Die Papiere sind da, Jutta soll ins Hotel übersiedeln. Sie hat Angst. Sie verschiebt den Termin, handelt mit dem Unternehmen, das ihre Wohnung entrümpeln soll, einen Aufschub aus. Zwei Tage später sitzt sie vor ihrer Wohnung, eine Ikea-Tüte hinter ihr knistert im Wind. Oben wird schon geräumt. „Dem Lunchen geht’s so schlecht, ich kann erst morgen kommen“, sagt sie der Hotelfrau am Telefon. Sie verschiebt den Umzug wieder. Sich der Frau noch mal zu stellen fällt ihr schwer.
Viele gehen mit Jutta nicht gerade gut um. Sie sehen sie betteln oder Steine rauchen, sie sehen ihren alten Mantel und ihre fleckige Mütze. Für sie ist Jutta eine Unberührbare, jemand, mit dem man lieber nichts zu tun haben will. „Nicht gesellschaftsfähig!“ Jutta lacht. „Wie dieser Film mit Marilyn Monroe.“
Tiere waren immer besser zu ihr als Menschen, vielleicht bringt sie es deshalb nicht übers Herz, die Jeremys zu töten oder Kacki loszuwerden. Ihr Lieblingstier ist der Pinguin. „Die sind so treu.“ So wie ihr Hund. Wenn sie daran denkt, dass er einmal sterben wird, wahrscheinlich eher früher als später, denn Luna ist 15 Jahre alt, reißt sie verzweifelt ihre Augen auf, und ihre Lippen zittern.
Es gibt außer Luna auch ein paar Menschen, die zu Juttas Leben gehören. Sam und Mary vom „Café Hauptwache“, ihr Nachbar Winnie, Britta, eine Streetworkerin eines Drogenhilfevereins. Juttas Kosmos: Café, Wohnung, Sozialarbeiterin. Und der Bahnhof, natürlich.
Sam Kamran führt das Café, außerdem die Filialen von „Fletcher’s Burger“, die „Pizzeria Montana“ und die Eventlocation „Mantis“. „Die Hauptwache ist mein Revier. Wenn ich mich nicht kümmere, wer dann?“, sagt Kamran. So kam es, dass ihm Jutta auffiel. Sie schnorrte vor der Sparkasse, die Bankmitarbeiter wollten sie weghaben. Sam lud sie in sein Café ein. Das war vor zehn Jahren. „Ich hab zwei Jahre gebraucht, um dem zu gestehen, dass ich ’n Crack-Head bin. Dann hat er gesagt: Ich hab mir schon gedacht, dass du net nur kiffst“, erzählt Jutta. Sie darf sich in dem Café aufwärmen, kriegt von Mary, Sams Frau, immer wieder mal eine „Apfelschorle“, auch, wenn sie nicht zahlen kann.
Die Besucher des Cafés schauen schon mal komisch. „Aber du musst dich entscheiden, ob du wegsiehst oder ’n Brot schmierst“, sagt Sam. Er schmiert Brote. Das heißt, Jutta kriegt ein Schnitzel mit Kartoffelsalat. Später steckt Sam ihr einen Fuffi zu, sie hat ihn darum gebeten. Für Luna, eigentlich. Aber er weiß, dass sie das Geld zum Bahnhof tragen wird. Trotzdem gibt er es ihr. „Ich verkürze hier nur den Bettelprozess“, sagt er.
Jutta zieht los. Sie macht den Fuffi platt. Stein um Stein.