In Deutschland ist sie noch unbekannt, in Frankreich hat Alice Zeniter schon ein paar wichtige Preise mit ihrem Buch "L’art de perdre" gewonnen. Unter dem Titel "Die Kunst zu verlieren" erschien es auch in Deutschland. In dem Generationenroman erzählt die 33-Jährige am Beispiel einer Familie das Schicksal der Verlierer des Algerienkriegs.
Es handelt sich um harkis, Algerier, die im Algerienkrieg in der französischen Armee dienten, selten aus eigener Überzeugung. Als Frankreich 1962 Algeriens Unabhängigkeit erklärt, zieht es seine Soldaten ab. Die harkis bleiben – und werden als Verräter verfolgt. Viele fliehen nach Frankreich. Dort werden sie, trotz ihrer Dienste, alles andere als freundlich aufgenommen. Zuerst landen sie in Lagern, dann in Sozialwohnungen und werden ihrem Schicksal überlassen. "Algerien nennt sie Ratten. Verräter. Hunde. Terroristen. Abtrünnige. Banditen. Unreine. Frankreich nennt sie gar nicht oder nur sehr selten", schreibt Zeniter. Lange hat die ehemalige Kolonialmacht über dieses Kapitel geschwiegen. Emmanuel Macron war vergangenes Jahr der erste Präsident Frankreichs, der sich bei den harkis öffentlich entschuldigte. Es tut sich etwas in der französischen Erinnerungskultur.
Vielleicht wurde Zeniters Buch, das 2017 in Frankreich erschien, deshalb auch so gefeiert. "Die Kunst zu verlieren" beginnt mit der jungen Naïma, Tochter einer Französin und eines Algeriers, die versucht, ihre Identität zu rekonstruieren. Während sie sich die Wahrheit mühsam zusammenklaubt, bekommt der Leser die Chance, die vergangenen 60 Jahre mit den Augen ihres Großvaters Ali und ihres Vaters Hamid zu sehen.
Ali ist einer der Chefs in seinem kabylischen Bergdorf. Er hat sich das Recht erarbeitet, einen dicken Bauch zu haben und andere für sich schuften zu lassen. Aber als die ersten Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront Algeriens im Dorf auftauchen, wird Ali zum Spielball der Geschichte. Dass er auf der Seite der Franzosen landet und 1962 mit Frau und Kindern nach Frankreich flüchten muss, ist das Ende unglücklicher Zufälle und Zwänge – und gleichzeitig der Anfang desselben.
Das starke Buch regt zum Nachdenken an
In Frankreich angekommen, erzählt Zeniter die Geschichte des ältesten Sohns, Hamid. Der lernt nun Französisch, die Sprache, die seine Eltern nie beherrschen werden, und muss Algerien vergessen. Das und die Tatsache, dass niemand Hamid erklärt, warum er aus Algerien fliehen musste, schaffen eine immer größer werdende Distanz zwischen ihm und seinem Vater. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist das Schweigen über die Heimat, die sie nie wieder betreten.
Naïma wiederum, die im dritten Teil die Hauptrolle spielt, fühlt sich Jahre später gefangen zwischen ihrer französischen und algerischen Identität. Aber erst als sie aus beruflichen Gründen gezwungen ist, nach Algerien zu reisen, fängt sie an, sich intensiver mit dem Land und den harkis auseinanderzusetzen. Sie stößt auf den Hass, der ihrem Opa noch immer entgegenschlägt und lernt aus dem Larousse, dass auch sie eine harki ist: "Sie öffnet ihn unter dem Buchstaben h und liest: (...) harki, n. et adj.: Familienmitglied eines harkis oder Nachkomme eines harkis. – Nein, sagt sie zum Wörterbuch, das kommt nicht infrage."
Alice Zeniter verarbeitet in ihrem Roman ihre eigene Geschichte. Denn auch sie ist eine harki und findet es wie Naïma ungerecht, dass dieser Begriff sie definieren soll. Ihr Buch sei ein Kampf gegen dieses Wort, sagte sie in einem Interview mit dem Fernsehsender Arte. Aber statt Partei zu ergreifen, wollte sie die Integration der harkis durch Fiktion erlebbar machen. Zeniter erzählt jedoch nicht nur die Geschichte der harkis, sondern all jener, die aus ihrer Kultur herausgerissen werden und weder hier noch da wirklich zu Hause sind. Mit klaren Worten und lebhaften Bildern analysiert sie das Schicksal der algerischen Geflüchteten, ohne literarisch aufzuhübschen. Es gibt einige Wahrheiten im Buch, die man sich dick unterstreichen möchte. Und obwohl es immerhin 560 Seiten hat und Naïma ihr eigenes Algerien entdeckt, kommt sie am Ende nirgendwo an. Denn Integration ist ein langer Prozess.
"Die Kunst zu verlieren" ist ein typischer Generationenroman, Deutschlands Weltkriegsliteratur kennt dieses Schema gut. Aber dieses starke Buch regt zum Nachdenken an und beschäftigt sich mit einem Thema, das dem deutschen Publikum noch unbekannt ist und über das eine Menge zu lernen ist.
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